Ein Hauch von Maidan in Kiew

Besetzung vor der Rada

Bei den größten Protesten in der Ukraine seit 2014 inszeniert sich der ehemalige georgische Präsident Michail Saakaschwili als glühender Gegner der Regierung.

Für eine kurze Zeit liegt doch ein Hauch von Umsturz in der Luft. Hunderte Menschen harren seit Tagen trotz Kälte in dem Zeltlager aus, das sich vor dem ukrainischen Parlament, der Rada, gebildet hat. Zur Aufstandsbekämpfung gerüstete Hundertschaften marschieren in Formation durch die anliegenden Parks, während aus dem Camp rhythmische Trommelschläge ertönen und ukrainische sowie die schwarz-roten Flaggen der Nationalisten wehen. Die Polizei gewährt zwar Zugang zum Protestcamp, doch an allen Eingängen befinden sich Metall­detektoren, die verhindern sollen, das Waffen ins Lager geschmuggelt werden. Immer wieder gab es in den vergangenen Wochen bei Auseinander­setzungen mit der Polizei Verletzte.

Am 17. Oktober hatte ein breites Bündnis der Opposition zur Demons­tration gegen die Regierung aufgerufen. Mit über 4 000 Demonstranten war es einer der größten Proteste seit dem Umsturz von 2014. Die Forderungen waren einfach: Aufhebung der Immunität der Parlamentsabgeordneten, um sie der Strafverfolgung wegen Korruption auszusetzen, eine Wahlreform und ein unabhängiges Antikorruptionsgericht. Vor allem aber bot die Demonstration eine Bühne, um das Versagen der Regierung in flammenden Worten anzuklagen. Seitdem ist der Platz vor dem Parlament besetzt.

Das Bündnis, das die Demonstration vor der Rada unterstützte, reichte, wie für ukrainische Proteste typisch, von den Rechtsextremen der Swoboda-Partei bis zu progressiven Aktivisten.

Treibende Kraft ist Michail Saakaschwili, der ehemalige Präsident Georgiens, der schwor, falls nötig noch Wochen mit seinen Anhängern auszuharren. Als Präsident Petro Poroschenko ihn vor zwei Jahren zum Gouverneur von Odessa ernannte, galt er vielen als effektiver, prowestlicher Reformer. Doch im November 2016 trat er bereits wieder zurück, mittlerweile hat er sich als schärfster Gegner der Regierung neu erfunden. Diese hatte ihm im Sommer sogar die ukrainische Staatsbürgerschaft aberkannt, während er sich im Ausland aufhielt. Damit wurde er staatenlos, denn die Staatsangehörigkeit seines Herkunftslands Georgien hatte er bei der Einbürgerung in die Ukraine aufgeben müssen. Ohnehin droht ihm in Georgien die Verhaftung wegen Veruntreuung.

Aus seiner Rückkehr in die Ukraine machte der gewiefte Populist ein poli­tisches Spektakel. Im September durchbrach er mit Dutzenden seiner Anhänger vor laufenden Kameras eine ukrainische Grenzabsperrung. Seitdem tourt er durch das Land und ruft zu Protesten gegen die Regierung auf – zur »Vollendung des Maidan«. Präsident Petro Poroschenko, dem er in harten Worten seine Verstrickung in die Korruption vorwirft, lässt er damit schwach aussehen.

Das Bündnis, das die Demonstration vor der Rada unterstützte, reichte, wie für ukrainische Proteste typisch, von den Rechtsextremen der Swoboda-Partei bis zu progressiven Aktivisten. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU hatte zuvor gewarnt, Nationalisten würden die Proteste für gewalttätige Provokationen nutzen. Es sei der Versuch zweier Rechtsextremer vereitelt worden, sich mit automatischen Waffen und sogar Raketenwerfern einzudecken. Tausende Polizisten wurden mobilisiert und umstellten das Protestgelände vor dem Parlament weiträumig.

Doch die zur Schau gestellte Nervosität der Regierung mag auch andere Gründe gehabt haben. Nur 9,6 Prozent der Wähler würden Präsident Poroschenko noch ihre Stimme geben. Und 73 Prozent sagten einer kürzlichen Umfrage zufolge, sie hätten kein Vertrauen in die Regierung. In einer solchen Situation ein Zeltlager vor dem Parlament zu errichten, eine bewusste Referenz an das Lager von 2014 auf dem nur einen Kilometer entfernten Maidan, ist ein impliziter Aufruf zum Sturz der Regierung.

Das Problem in der Ukraine sind nicht einzelne Reformen, sondern es ist nach wie vor das ganze System: ein Staat und ein Parlament, die von privaten Interessen der Oligarchen kontrolliert werden, eine korrupte Justiz und Staatsanwaltschaft sowie eine Regierung, angeführt vom fünftreichsten Mann des Landes, die kaum noch den Anschein zu erwecken vermag, sie wolle die alten Machtstrukturen aufbrechen.

Das Parlament ging auf eine der Forderungen der Demonstranten ein, um die Situation zu entschärfen. Das Verfassungsgericht soll sich mit Gesetzentwürfen befassen, in denen es um die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten geht – allerdings wären solche Aufhebungen erst ab 2020 möglich, nach der nächsten Wahl. Viele Oppositionsgruppen verließen die Demons­trationen daraufhin. Doch Saakaschwili, der nicht zuletzt um die eigene politische Existenz kämpft, blieb. Ebenfalls im Lager befinden sich zahlreiche Nationalisten und abgehärmte Männer in Uniform, Veteranen der Freiwilligenbataillone, die im Osten kämpften, als 2014 die Armee versagte.

Nur wenige Tage vor der Demons­tration am Parlament waren über 10 000 Nationalisten teilweise fackelbewehrt über den Maidan marschiert, um am ukrainischen Nationalfeiertag der gefallenen ukrainischen Soldaten und der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) zu gedenken, deren Symbole auch auf dem Protestcamp zu sehen waren. Gefragt nach der Präsenz von Nationalisten in seinem Lager, sagte Saakaschwili der Presse nur lapidar: »Die Ukraine befindet sich im Krieg. Es ist ein Land, das angegriffen wurde. Dass es Nationalisten gibt, ist natürlich nicht überraschend.«