Sozialproteste in Marokko

Tränengas statt Lammragout

In der marokkanischen Stadt al-Hoceima kam es am Ende des Ramadan zu Protesten, die sofort von der Gendarmerie unterdrückt wurden.

In Marokko und in den anderen Ländern Nordafrikas herrschte Feierstimmung. Der Fastenmonat Ramadan endete, aus Anlass des Abschlussfests Eid al-Fitr am Montag vorvergangener Woche wurden reichlich Lammfleisch und Süßigkeiten, Limonaden und Säfte gereicht. Anders ging es jedoch in der Bezirkshauptstadt al-Hoceima an der nordmarokkanischen Küste zu. Dort fanden am selben Tag die bislang härtesten Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit einer sozialen Protestbewegung statt, die seit einem Dreivierteljahr andauert.

Über die gesamte Stadt war eine inoffizielle Ausgangssperre verhängt, »Kriegseinheiten der königlichen Gendarmerie« (unités de guerre de la gendarmerie royale) riegelten alle Zufahrtsstraßen ab. Die Gendarmerie ist eine dem Verteidigungsministerium unterstellte Truppe, diese Einheiten sind normalerweise in der Westsahara stationiert – dieses Territorium ist seit 1975 von Marokko besetzt und wurde annektiert. Jahrzehntelang wurde dort ein bewaffneter Unabhängigkeitskampf ausgetragen, derzeit gilt ein Waffenstillstand.

Insgesamt sind derzeit über 200 Personen wegen ihrer Teilnahme an den Protesten inhaftiert, immer wieder erfolgen weitere Festnahmen.

Guerillakämpfer standen der Gendarmerie in al-Hoceima nicht gegenüber, sondern unbewaffnete Protestierende. Die Gendarmerie griff alle Versammlungen an und setzte Tränengas ein, viele Protestierende widersetzten sich. Es gibt keine offiziellen Statistiken über die Zahl der Festgenommenen und der Verletzten, doch beide gehen jeweils in die Dutzende. Auf einem Video, das die bekannte marokkanische Menschenrechtlerin Samira Kinani im Internet publiziert hat, ist etwa zu sehen, wie ein uniformierter Beamter einem am Boden hockenden Demonstranten in den Rücken springt.

Polizeigewalt ist nicht selten in Marokko. Auch beim Staatsbesuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron – seinem Antrittsbesuch bei den Regimes in Nordafrika – am 14. Juni wurde das Thema angesprochen. Macron kam dennoch zu dem Schluss, dass Marokko ein »strategischer Partner« sei, und lobte die »ehrgeizigen Reformen« von König Mohammed VI.

Just am Tag des Staatsbesuchs aus Frankreich fielen die Urteile in einem Massenprozess gegen 25 Aktivisten der sozialen Protestbewegung in al-Hoceima. 18 von ihnen wurden wurden zu je anderthalb Jahren Haft verurteilt. Die Anklage warf ihnen illegale Versammlung und Widerstand gegen die Staatsgewalt, in einigen Fällen auch Gewalt gegen die Polizei vor. Insgesamt sind derzeit über 200 Personen wegen ihrer Teilnahme an den Protesten inhaftiert, immer wieder erfolgen weitere Festnahmen. Am 29. Mai traf es einen Anführer der Protestbewegung, den 39jährigen Erwerbslosen Nasser Zefzafi. Ihm wird vorgeworfen, eine Predigt des Imams in der Hauptmoschee von al-Hoceima unterbrochen zu haben; offenbar aus Protest gegen deren sozialkonservativen bis reaktionären, gegen gesellschaftliche Veränderungen gerichteten Inhalt. Zefzafi droht mehrjährige Haft.

Die Festnahme Zefzafis löste eine breite Solidarisierung aus. Demonstrierende bekundeten massenhaft: »Nehmt uns alle fest!« Zefzafi wurde in der Führung der Protestbewegung von einer Frau abgelöst, der 36jährigen Nawal Benaissa, Mutter von vier Kindern. In einer von konservativen Alltagspraktiken dominierten Region wie dem nordafrikanischen Rif-Gebirge ist es bemerkenswert, in welchem Ausmaß Frauen eine aktive und eigenständige Rolle in dieser Protestbewegung spielen.

Ausgelöst wurden die Proteste im Oktober vergangenen Jahres durch den Tod des Fischhändlers Mouhcine Fikri in al-Hoceima, der in der Presse eines Müllwagens starb, als er versuchte, seine von der Polizei beschlagnahmte Ware zu retten (Jungle World 45/2016). Zu den tieferen Ursachen zählen die Benachteiligung und Unterentwicklung dieser berbersprachigen Region. Offiziellen Angaben zufolge haben 63 Prozent der Menschen in der Region keine registrierte Beschäftigung. Inoffiziell leben viele vom Haschischanbau.

Den Behörden des Zentralstaats ist diese Region traditionell suspekt, da sie über eine starke antidespotische, früher antikoloniale Kampftradition verfügt. In den zwanziger Jahren führte Spanien hier einen brutalen Kolonialkrieg, in dem auch Giftgas eingesetzt wurde. Die französische kommunistische Linke glorifizierte damals den Anführer der Rif-Berber, Abd el-Krim, als Helden, auch die Surrealisten beteiligten sich seinerzeit an der Solidaritätskampagne. In den späten fünfziger Jahren wurde dort ein Aufstand gegen die nunmehr unabhängige Monarchie niedergeschlagen, 1984 kam es zu Massenprotesten und während des sogenannten arabischen Frühlings des Jahres 2011 war die Gegend ein Zentrum der Proteste.

Armut, Repression, Korruption – die Probleme, die das Leben in Marokko prägen, treten in dieser abgelegenen Region verschärft auf. Anders als sein Vater Hassan II. bezeichnet Mohammed VI. ihre Bewohner nicht mehr als »Wilde«, doch von den Infrastrukturprojekten der Regierung profitieren sie nicht, die versprochene Dezentralisierung der Macht ist ausgeblieben. Nur auf das Erscheinen der Polizisten kann man sich immer verlassen. Aber auch die Proteste dauern an, und sie haben sich auf andere Städte wie Rabat ausgeweitet.