Frank Castorf verlässt die Berliner Volksbühne

Die Artisten in der Zirkuskuppel radlos

Mit dem Abgang Frank Castorfs verabschiedet sich die Volksbühne auch vom Erbe Piscators, Brechts und Müllers.

Das Rad ist ab. Am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin wies das Räuberrad auf das dortige Theater hin. »Vorsicht, Volksbühne!« bedeutete es, so drückte es Frank Castorf in seiner Abschiedsrede aus. Der scheidende Intendant hatte das Rad am Freitag vergangener Woche abmontieren lassen, ebenso wie eine Woche zuvor den Schriftzug »OST«. Nach der politischen Demontage durch die Berliner Sozialdemokratie folgte nun die selbstvollzogene symbolische. Der Nachfolge möchte man nichts hinterlassen. Wo das Rad im Boden verankert war – und zwar so fest, dass der erste Versuch der Entfernung noch scheiterte –, lag nun etwas aufgeworfene Erde, darauf ein paar Blumen, eine Kerze und ein roter Stern. Grabesstimmung. Die herrschte auch auf dem Straßen- und Abschiedsfest am Samstag. Nach der letzten Vorstellung, »Baumeister Solness« in der Regie von Castorf, versammelten sich mehrere Hundert Menschen auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Bei grauem Himmel und anhaltendem Nieselregen wurden die am Haus befindlichen Fahnen heruntergelassen. An Pathos und Inszenierungswillen fehlte es keineswegs.

Neben Castorf hielt auch der amtierende Berliner Kultursenator Klaus Lederer von der Linkspartei eine Rede, in der er sein Bedauern ausdrückte, dass es ihm nicht gelungen sei, die Entscheidung seiner Vorgänger zu korrigieren. Lederer hatte sich vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im vergangenen September gegen den beschlossenen Wechsel der Intendanz ausgesprochen. Als er nach der Wahl das Amt des Kultursenators antrat, machte er aus seiner kritischen Haltung gegenüber der erzwungenen Neuausrichtung der Volksbühne keinen Hehl, ändern konnte er es aber offenbar nicht. Was Castorfs Nachfolger Chris Dercon inzwischen als Plan für die nächsten Monate präsentiert hat, ist mit »mäßig überzeugend« noch sehr wohlwollend umschrieben. Der Auftritt zur Programmpräsentation von Dercon und seinem Team vor dem Kulturausschuss rief als Reaktion auch prompt eine Petition zur Neuverhandlung der Zukunft der Volksbühne hervor, die von zahlreichen bekannten Künstlern und Wissenschaftlern unterschrieben wurde.

Gezeigt hat sich, dass all jene, die argumentierten, man müsse Dercon machen lassen und könne nicht im Voraus urteilen, sich entweder getäuscht haben oder von vornherein Kritik haben abwehren wollen. Denn zur Kritik gehört notwendig ein spekulatives Moment, das über das Faktische hinausgeht und Kommendes antizipiert. Der Verweis auf das »Neue« und »Reformerische«, demgegenüber man sich offen zeigen solle, statt es schlechtzureden, hilft nicht weiter, geht es doch um die Abwicklung eines großen Theaterhauses durch einen Anfänger, der das Theatermachen erst noch lernen muss. Die Phrase vom »experimentellen Laboratorium« fügt sich in den postmodernen Relativismus, der Qualitätsurteile am liebsten ganz aus der Sprache verbannen würde. Das wiederum passt nur allzu gut in eine spätkapitalistische Gesellschaft, die permanent versucht, die Differenz zwischen bloßem Überleben und gutem Leben undenkbar zu machen – und gesellschaftliche Veränderung zu verunmöglichen. Die Debatte über die Zukunft der Volksbühne hat gezeigt, dass im liberalen Diskurs eine kritische Argumentation schnell und gründlich diskreditiert wird. Konstruktive Begleitung ist erwünscht, das Kritisieren aber bitte tunlichst zu unterlassen.

Die Blockade von Geschichte war eines der zentralen Motive der Reflexion, und je mehr Geschichte sich staute, desto schneller musste man über die Bühne rennen und desto lauter schreien. Das sah im manchen Momenten einer leerlaufenden Performance zum Verwechseln ähnlich.

Die Volksbühne stand die vergangenen 25 Jahre für eine Kritik und ein Ästhetik ein, die sich an Bertolt Brecht, Erwin Piscator und Heiner Müller orientierte. Mit einem zum Abschied am 1. Juli erschienenen Fotoalbum kann man nun durch die vergangenen Spielzeiten blättern, darunter bekannte Inszenierungen wie »Räuber von Schiller«, »End­station Amerika«, »Die Brüder Karamasow« und »Faust« von Castorf, »Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!« von Christoph Marthaler, »100 Jahre CDU«, »Rocky Dutschke, ’68«, »Tötet Helmut Kohl«, »Chance 2 000 – Wahlkampfzirkus ’98« und »Freakstars 3 000« von Christoph Schlingensief, »Rosa Luxemburg – Rote Rosen für Dich« von Johann Kresnik, »Kill Your Darlings! Streets of Berladelphia« und »Der General« von René Pollesch, »Murmel Murmel« und »Die (s)panische Fliege« von Herbert Fritsch, »Iwanow« von Dimiter Gotscheff und die berühmt-berüchtigte Ibsen-Saga von Vegard Vinge und Ida Müller – um nur einige zu nennen.

Der einst formulierte Anspruch hat sich auch in den Spielzeitüberschriften niedergeschlagen, von »Ohne Leit­bild« (nach dem Aufsatz von Adorno) über »Ohne Glauben leben« und »Don’t look back« bis »No service«. Neben Castorf prägten konzeptuell vor allem der vor zwei Jahren verstorbene Bühnen- und Kostümbildner Bert Neumann und der an der Kritischen Theorie geschulte Dramaturg Carl Hegemann die Volksbühne, auch zahlreiche Schauspieler wie Henry Hübchen und Sophie Rois – und natürlich auch all die anderen Menschen, die im Haus und den Werkstätten arbeiteten.

Die Gleichberechtigung von Kopf- und Handarbeit sei ihm immer ein Anliegen gewesen, sagt Castorf. Wovon die Volksbühne ausging, war der Stand der gesellschaftlichen Erfahrung im Ausgang aus dem »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm). Statt business as usual versuchte man zu ergründen, warum die Alternative »Sozialismus oder Barbarei« zu »Barbarei oder Barbarei« schrumpfte oder die Tragödie zur Farce wurde. Die Blockade von Geschichte war ­eines der zentralen Motive der Reflexion, und je mehr Geschichte sich staute, desto schneller musste man über die Bühne rennen und desto lauter schreien. Das sah in manchen Momenten einer leerlaufenden Performance zum Verwechseln ähnlich, war aber keine, weil es einem Bewusstsein der Krisenhaftigkeit von Gesellschaft entsprang. Das ist die kleine Differenz ums Ganze, die zwischen der Volksbühne und dem Performancebetrieb besteht, die Differenz zwischen negativer Dialektik und fröhlichem Positivismus. Und jetzt wird am Rosa-Luxemburg-Platz die Zeit des letzteren anbrechen.

Die Künstler, die an der Volksbühne gearbeitet haben, zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen; manche wird man künftig an anderen Berliner Theatern sehen können. Was verloren geht, ist der konkrete Ort der gemeinsamen Arbeit, der kollektiven Produktion, der Restbestand an Utopie. Denn man kann nicht überall das Gleiche hervorbringen, das ist nicht wahr. Diesem naiven Idealismus steht die materialistische Erkenntnis entgegen, dass das Besondere eben nur aus einer spezifischen Konstellation entspringen kann. Und diese ist vergänglich. So, wie man zwischen 1992 und 2017 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Theater gemacht hat, wird man es vielleicht nie wieder machen und nie wieder machen können. Hegel spottete einst über die Spießer, die meinten, die Wahrheit könne man wie eine Münze in die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen. Ebenso wie die Wahrheit ist die Kunst keine solche Münze, das abstrakte Allgemeine, sondern an die Materialität ihres Erscheinens gebunden. Wie ein Feuerwerk am Nachthimmel kann man im Vergänglichsten ein Moment entdecken, welches die Immanenz durchbricht. Jetzt verglühen die letzten Funken dessen, was an der Volksbühne möglich war. Vielleicht wird es weitergehen, woanders. Das Räuberrad, sagt Castorf, muss in Bewegung bleiben.