Eine Ausstellung zeigt die zahlreichen Facetten des Themas Warten

Gefangen in der Wartehierarchie

Die Hamburger Ausstellung »Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit« wirft einen genauen Blick auf etwas sehr Alltägliches.

Drüben an der Wand tickt der Sekundenzeiger stur vor sich hin – und die Zeit steht trotzdem still. Der Minutenzeiger rührt sich nicht vom Fleck, es vergehen immer die gleichen 60 Sekunden. Auch die digitalen Wanduhren im Wartesaal des Baseler Hauptbahnhofs, der für die Kunsthalle Hamburg nachgebaut wurde, scheinen nur auf den ersten Blick verlässlich. Sie zeigen unterschiedliche Zeiten an. Wie verhält sich ­das Zeiterleben zur Zeitmessung?

»Das Warten gibt es nicht. Jedes Warten hat seine Geschichte«, sagt Brigitte Kölle, die Kuratorin der ­Ausstellung »Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit«. 23 Künstlerinnen und Künstler hat sie eingeladen, sich in Fotografien, Skulpturen, Performances, Filmen und Installationen mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Prekäre Existenzen, Abgehängte, denen nichts anderes übrig bleibt, als am untersten Ende der Wartehierarchie auf ein besseres Leben zu hoffen – hier werden die politischen Implikationen der Ausstellung offenkundig.

 

Warten, das ist vordergründig banal, alltäglich, eigentlich wartet man ständig und überall. Mit dem nahe­liegenden, dem Warten auf öffentliche Verkehrsmittel, beschäftigen sich zwei Arbeiten der Ausstellung, wobei Andreas Gursky mit »São Paulo, Sé« dem Warten eine Bedeutung geradezu aberwitzigen Ausmaßes beimisst. Eine sechsstöckige U-Bahnhaltestelle in der größten Stadt Brasiliens ist ­abgebildet – in Gurskys typischer Großformatfotografie, knapp drei mal zwei Meter groß. Der streng symme­trische Bildaufbau, die massiven Betonbalustraden der einzelnen Stockwerke und die unzähligen sich tummelnden Wartenden eröffnen eine gewaltige Szenerie, die Gursky durch digitale Nachbearbeitung verstärkt hat. Ursula Schulz-Dornburg porträtiert in ihrer monochromen Foto­serie Bushaltestellen im Nichts der armenischen Landschaft. Die unterschiedlichen Wartehäuschen aus ­Beton und Eisen gleichen mal einer Tankstelle, mal einer Kapelle. In ästhetisierter Tristesse wirken sie allesamt seltsam deplatziert. Oft sind sie menschenleer, nur manchmal sind vereinzelt Wartende zu sehen.

Vermeintlich verschwendete Zeit als Voraussetzung für Kreativität – das klingt nach den bemühten Diskussionen, die hierzulande vor einem knappen Jahrzehnt unter anderem über das Buch »Dinge geregelt kriegen (ohne einen Funken Selbstdisziplin)« von Kathrin Passig und Sascha Lobo geführt wurden. Plötzlich war allerorten von Prokrastination die Rede, womit nichts anderes als Aufschieberitis gemeint war. Bruce Nauman scheint hier mit seinem 54minütigen Video »Office Edit II (with color shift, flop, flip, and flip/flop), Mapping The Studio (Fat Chance John Cage)« anzuschließen und lädt ein, sein Atelier zu besuchen: Einige Bücher, ein Schreibtisch, ab und zu huscht eine Maus über den Tisch. Nächtliche Geräusche erklingen dazu, es geschieht nichts. Man muss die Untätigkeit aushalten können, zumindest als Künstler: »Es gibt Stillstand und Leerzeiten in der künstle­rischen Produktion. Sich selbst mit den eigenen Unzulänglichkeiten aushalten zu können, ist auch eine Kunst«, sagt Kölle.

Nicht nur Besucher der Ausstellung, sondern auch vorbeilaufende Passanten werden von Michael Sailstorfers Installation überrascht. Ein ehemaliges Wartehäuschen mit Haltestellenschild steht auf dem Fußgängerweg neben der Kunsthalle und wird durch seine Einrichtung einer neuen Verwendung zugeführt: Bett, Tisch, Stuhl, Toilette, Herd, Wasch­becken, Lampe und Tür – Mobilität und Sesshaftigkeit werden thematisiert. Wer hier wohnt, ist zum Ausharren verdammt und zugleich öffentlich ausgestellt. Der Hauptbahnhof und die Notunterkünfte für Obdachlose sind gleich in der Nähe.

Prekäre Existenzen, Abgehängte, denen nichts anderes übrig bleibt, als am untersten Ende der Wartehierarchie auf ein besseres Leben zu hoffen – hier werden die politischen Implikationen der Ausstellung offenkundig. Die gesellschaftlichen Gewinner haben es nicht nötig, sich hinten anzustellen. Der Obdachlose, eine von Duane Hanson täuschend echt modellierte Figur, schon. Die Holzkiste, auf der er sitzt, trägt die Aufschrift: »fragile«. Den Blick nach unten gerichtet, den Mund leicht geöffnet, wirkt er resigniert, am Rande der Verzweiflung. Sein Hemd ist schmutzig, die Schuhe abgetreten. Er hält ein Pappschild in den Händen: »Will work for food«. Sieht so der faule Taugenichts aus, dem Franz Müntefering vor nicht allzu langer Zeit ent­gegenwarf: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«?

Die Kuratorin Kölle beschäftigte sich bereits in den neunziger Jahren mit einem Künstler, der sich dem Thema des Wartens widmete. Gregor Schneiders Arbeiten wohne ein ­»Prozess des Entstehens, Wiederholens und Veränderns« inne, der in ­einer Performance an der Staatsoper Berlin besonders zutage trat. Schneiders Happening »19–20:30 UHR 31.05.2007« wurde unter großem Tamtam angekündigt, die Leute kamen in Scharen, schließlich handelte es sich um ein Event eines weltberühmten Künstlers – und sie standen Schlange. Voller Erwartung wurden die Besucher nacheinander in das Magazin der Staatsoper gelassen, durchliefen es und wurden auf der anderen Seite wieder auf die Straße geleitet. Was in der Zwischenzeit geschehen war? Nichts. Denn es gab im Magazin nichts zu sehen, Schneider hatte die Warteschlange als Kunst­event inszeniert. Die Enttäuschung vieler Besucher war immens.

Scherze dieser Art finden in Kölles Hamburger Ausstellung keinen Platz. Es geht ihr zu allererst um den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und dem Warten. Das zeigt besonders deutlich »Beyond Caring«, eine Fotoserie des britischen Fotografen Paul Graham. Reiner Sozialrealismus aus der von Sozialkürzungen geprägten Regierungszeit Margaret Thatchers: Triste Arbeitsämter, überlastete Angestellte, man blickt in müde Gesichter, die seit Stunden unter amtsüblichen Bedingungen ausharren müssen. Warten, das beinhaltet auch, jemanden warten zu lassen. »Bis zum 16. Jahrhundert haben wir das Verb warten synonym mit dienen verwandt. Es klingt noch so ein bisschen an in dem englischen Begriff waiter, der Kellner, oder auch in dem deutschen altmodischen Begriff ›die Aufwartung machen‹«, sagte Kölle in einem Interview.

Andrea Diefenbach porträtiert moldawische Arbeitsmigranten in Westeuropa sowie deren zurück­gelassene Kinder, die bei Großeltern oder Geschwistern aufwachsen müssen. Auf eindrucksvolle Weise zeigt sie elternlose Kinder als Folge des wirtschaftlichen Elends und gleichsam kinderlose Eltern, die sich als Altenpfleger um fremde Menschen kümmern, eine Fürsorge, die sie ­ihren Kindern nicht geben können. Es ist eine Wartesituation, die sich über Monate und Jahre ausdehnt.

Diesen Aspekt des Wartens zwischen Ertragen und Hoffen zeigen auch Jens Ullrichs Eindrücke vom Lageso in Berlin: Bilder von Flüchtlingen, deren Gesichter mit Kapuzen verdeckt sind, montiert er in die ­Kulisse einer alten Bremer Fabrikantenvilla. Aufgeben oder weiterkämpfen – Ullrichs großformatige Schwarzweißbilder stellen diese Frage auf eindrückliche Weise.
Eine weitere existentielle Dimension zeigt sich im Warten auf den Tod. Vajiko Chachkhianis Videoprojektion »Life Track« beginnt mit der Außenaufnahme eines geschlossenen Hospizfensters, in dem sich frühlingshaftes Grün spiegelt. Tauben gurren, Vögel zwitschern, ein alter Mann tritt aus dem Inneren des Raumes an die Scheibe heran. Älterwerden und sterben, dagegen ist jeder Mensch machtlos.

Die Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zeigt auf gelungene Weise unterschiedlichste Facetten des Themas Warten. Die versammelten Exponate erzählen von persönlichen Schicksalen und Erlebnissen, dokumentieren soziale Ungleichheit und lassen den Besucher in Wartesituationen eintauchen. Mal alltäglich, mal außergewöhnlich oder zum Schmunzeln einladend, verdeutlichen sie, was das Warten sein kann: Mittel und Ausdruck politischer Prozesse. Oder Müßiggang. Nur muss man sich den eben auch leisten können.

»Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit« ist noch bis zum 18. Juni in der Hamburger Kunsthalle zu sehen