In Zweifel löschen
Eines vorweg: Ein Gesetz zur »Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken«, für welches Bundesjustizminister Heiko Maas nun einen Entwurf vorgestellt hat, ist nötig. Wer häufig in sozialen Netzwerken unterwegs ist, macht unweigerlich Erfahrungen mit Hasskriminalität. Online ist das Risiko, beschimpft oder beleidigt zu werden, meist höher als außerhalb der sozialen Netzwerke. Verleumdungen, Beleidigungen und Volksverhetzung sind nicht selten. Bei selbsternannten besorgten Bürgern und offen auftretenden rechten Gruppen gehört das Vortäuschen von Straftaten, die den öffentlichen Frieden gefährden können, zum Alltag. Initiativen wie »Mimikama« sind den ganzen Tag damit beschäftigt, Falschmeldungen über angebliche Straftaten von Flüchtlingen zu entlarven. Und sicher ist: Diese Falschmeldungen werden gezielt für die rechte Propaganda eingesetzt. In der Problembeschreibung des Gesetzes zum Umgang sozialer Netzwerke mit solchen Delikten steht: »Die Selbstverpflichtungen der Unternehmen haben zu ersten Verbesserungen geführt. Diese reichen aber noch nicht aus. Noch immer werden zu wenige strafbare Inhalte gelöscht.« Das ist richtig. Soziale Netzwerke sind längst ein fester Bestandteil unseres Alltags geworden, von dort beziehen wir viele unserer Informationen, dort diskutieren und streiten wir. Sie sind schlicht Räume unseres Lebens geworden, in denen wir uns so selbstverständlich und sicher bewegen sollten wie überall sonst. Das bedeutet, dass es auch dort Gefahren gibt, die zum Leben dazu gehören. Aber auf Facebook und Twitter sollte das Leben nicht unsicherer sein als am frühen Morgen im Club oder in der Kneipe und ein Gesetz, das Facebook und Twitter dazu zwingt, hinzuschauen, wenn es kracht, ist allemal okay.
Ein Gesetz, das die Bürgerinnen und Bürger schützen will, darf nicht die Räume zerstören, in denen sich diese aufhalten.
Doch die entscheidende Frage ist, wie hingeschaut wird. Allein im deutschsprachigen Bereich haben die großen sozialen Netzwerke Nutzerzahlen im zweistelligen Millionenbereich. Um beim Beispiel der Kneipe zu bleiben: Facebook kann nicht die Aufgabe des Wirtes übernehmen und eingreifen, wenn einer beginnt, mit Biergläsern zu werfen. Das wird das Unternehmen seinen Nutzern überlassen. Sie werden melden, wenn sie Straftaten erkennen. Facebook muss dann die Meldungen überprüfen und den entsprechenden Beitrag innerhalb von 24 Stunden löschen, wenn der Inhalt »offensichtlich rechtswidrig« ist. Ist er es nicht, bleibt zum Löschen eine Woche Zeit.
Damit beginnen die Probleme. Eine Anzeige außerhalb der sozialen Netzwerke zu erstatten, ist zeitaufwendig. Man überlegt sich, ob es sich lohnt. Auf Facebook reicht ein Klick. Das Risiko, dass Beiträge gemeldet werden, auch wenn sie nicht strafbar sind, nur in der Hoffnung, dass Facebook sie löscht und den Urheber oder die Urheberin sperrt, ist sehr hoch. Das ist heute bereits Alltag in Online-Auseinandersetzungen. Zu glauben, dies werde seltener, wenn es um Straftatbestände geht, wäre naiv. Zumal die wenigsten auch nur eine grobe Ahnung davon haben, was eine Straftat ist und was nicht. Zwischen dem geschriebenen Recht und dem gefühlten Recht liegen Welten. Tritt das Gesetz in Kraft, wird also viel gemeldet werden. Facebook und Twitter werden dann sehr viel löschen, um auf Nummer sicher zu gehen, und das ist nachvollziehbar, denn die Strafen, die ihnen drohen, können von wenigen Euro bis zu Millionenbeträgen gehen und zur Überprüfung haben sie nur wenige Stunden Zeit. Bei Arvato, der Bertelsmann-Tochter, die als Dienstleister Meldungen für Facebook überprüft, müsse täglich jeder Mitarbeiter 2 000 Beiträge prüfen, schrieb das Magazin der Süddeutschen Zeitung im Dezember. Da bleiben manchmal nur wenige Sekunden zum Nachdenken – dabei geht es bislang nur um die Facebook-Richtlinien. Das Strafgesetzbuch ist deutlich komplexer. Die Gefahr besteht, dass künftig fast alles, was gemeldet wird, auch gelöscht wird. Facebook und Twitter drohen zu ziemlich langweiligen Orten zu werden.
Ein Gesetz, das die Bürgerinnen und Bürger schützen will, darf nicht die Räume zerstören, in denen sich diese aufhalten. Es darf nicht das Risiko eingehen, dass jede Debatte durch das Melden vermeintlicher Straftaten beendet wird. Beim vorliegenden Gesetzentwurf besteht diese Gefahr. Sicher, es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, den Konflikt zwischen Schutz und Freiheit zu schlichten. Aber auch im Wahljahr sollte das Bundesjustizministerium eine solche Aufgabe lösen.