In Europa wird die reproduktive Selbstbestimmung nicht überall garantiert

Verweigertes Recht

In den meisten EU-Ländern ist Abtreibung mit sogenannten Fristen­regelungen legal. Dennoch sind die Unterschiede zwischen Gesetzes­text und Realität teilweise gewaltig. Das zeigt sich in Italien, wo sich ­mittlerweile sieben von zehn Ärzten, auch in öffentlichen Kliniken, weigern, Abtreibungen vorzunehmen.

Thomas Börner, Gynäkologie-Chefarzt der Capio-Elbe-Jeetzel-Klinik im niedersächsischen Dannenberg, wollte nicht, dass in seiner Abteilung Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. Er könne Abtreibungen mit seinem christlichen Glauben nicht vereinbaren, begründete er seine Entscheidung. Von seinen Gynäkologie- Kolleginnen und -Kollegen bekam er Unterstützung. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten Frauen aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg künftig in eine mindestens 20 Kilometer weit entfernte Klinik fahren müssen, um eine un­erwünschte Schwangerschaft abzubrechen.

Dass diese Entscheidung zum unbequemen Politikum werden könnte, ahnten Niedersachsens Gesundheitsministerin Cornelia Rundt (SPD) sowie andere Politikerinnen und Politiker aus der Region, die die Ärzte öffentlich kritisierten, bis sich die Leitung der ­privaten Klinik einschaltete und der Debatte ein Ende setzte: »Als weltanschaulich neutrale und konfessionsübergreifende Einrichtungen würden die Capio-Kliniken mit gynäkologischen Fachabteilungen Frauen auch weiterhin Abtreibungen nach der gesetzlich vorgesehenen, eingehenden Beratung ermöglichen«, heißt es in ­einer Pressemitteilung, Börner dürfe seine Meinung nicht anderen Ärzten aufzwingen. Nun wird der Arzt seine Stelle in der Klinik aufgeben.

Wer den Ausgang dieses Falles begrüßt, der oder die möge sich nun vorstellen, das Gegenteil wäre passiert – dass die Entscheidung eines oder mehrere Ärzte, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, für Schlagzeilen gesorgt hätte. Eine absurde Vorstellung, denn Aufsehen erregt normalerweise nicht die Regel, sondern die Ausnahme.

In Italien sind es jedoch seit Jahren genau solche Fälle, die Schlagzeilen machen: Immer wieder liest und hört man von mutigen, unermüdlichen Ärztinnen, die Frauen Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen anbieten. Sie gelten als Heldinnen. Und sie sind es auch, denn es ist mittlerweile vor allem ihnen zu verdanken, dass Tausende italienische Frauen ihr Recht überhaupt noch wahrnehmen können, eine Schwangerschaft zu beenden, wie es das italienische Gesetz im Rahmen der Fristenlösung (90 Tage) vorsieht. Obwohl Abtreibungen in Italien seit fast 40 Jahren legal sind, sind immer weniger Ärzte im staatlichen Gesundheitsdienst bereit, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Die sogenannten medici obiettori, also »Abtreibungsverweigerer«, berufen sich dabei auf einen Paragraphen im Gesetz 194 von 1978, das ihnen Gewissensfreiheit zubilligt.

Das italienische Gesundheitsministerium hat im vergangenen Jahr Daten veröffentlicht, die zeigen, wie die Rechtslage und die Realität auseinandergedriftet sind. Bereits vor einem Jahrzehnt weigerten sich in bestimmten Regionen mehr als 50 Prozent der ­Gynäkologen, Abtreibungen vorzunehmen, heute sind es teilweise mehr als 90 Prozent.

Das Phänomen der Gynäkologen, die den Eingriff aus Gewissensgründen ablehnen – sowie der Anästhesisten und des ärztlichen Personals, die sich weigern, bei Abtreibungen mitzuwirken – hat erschreckende Ausmaße angenommen. Das italienische Gesundheitsministerium hat im vergangenen Jahr Daten veröffentlicht, die zeigen, wie die Rechtslage und die Realität auseinandergedriftet sind. Bereits vor einem Jahrzehnt weigerten sich in bestimmten Regionen mehr als 50 Prozent der ­Gynäkologen, Abtreibungen vorzunehmen, heute sind es teilweise mehr als 90 Prozent. Die Rede ist hier nicht von den rückständigen, katholisch geprägten ländlichen Gegenden im Süden des Landes, wie man annehmen könnte. Auch in den »fortschrittlichen« Großstädten Rom und Mailand weigern sich zwischen 63 und 80 Prozent der Ärzte. Von zehn Gynäkologen sind ­sieben Abtreibungsgegner, so das Gesundheitsministerium.

Was das für die Frauen bedeutet, wissen Ärztinnen und Mitarbeiterinnen von Organisationen wie Laiga (Vereinigung italienischer Gynäkologinnen für die Umsetzung des Rechts auf Abtreibung). Für Frauen, die abtreiben wollen, insbesondere wenn es sich um Spätabtreibungen handelt – die unter gewissen Voraussetzungen legal sind – wird die Suche nach einem Krankenhaus, in dem dies möglich ist, zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Das erhöht das Risiko, dass Betroffene, die es sich nicht leisten können, für einen Abbruch ins Ausland zu gehen, sich für eine heimliche Abtreibung entscheiden. Das Gesundheitsministerium schätzte die Zahl solcher Abtreibungen im Jahr 2014 auf rund 15 000.

Immer wieder kommt es zum Tod schwangerer Frauen, die unzureichende oder gar keine medizinische Unterstützung bei der Abtreibung bekommen haben. Derzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft etwa gegen zwölf Ärzte, denen Fahrlässigkeit in Zusammenhang mit dem Tod von Valentina Milluzzo im vergangenen Oktober ­vorgeworfen wird. Die im fünften Monat schwangere Frau war nach stundenlangem Leiden gestorben, nachdem sie leblose Zwillinge zur Welt gebracht hatte. »Aus Gewissensgründen« sei der 32jährigen im Krankenhaus die medizinisch notwendige Beendigung der Schwangerschaft verweigert worden, weil beim Fötus noch ein Herzschlag wahrnehmbar gewesen sei, klagt die Familie der Verstorbenen. Jedes Mal nach einem solchen Ereignis entflammt die Debatte über die Verweigerer erneut. Die Ärztinnen und Mitarbeiterinnen von Laiga sprechen von ­einem regelrechten Notstand: »Die Situation ist jetzt schon katastrophal, und sie wird schlimmer werden, denn bald werden die Nichtverweigerer aus den öffentlichen Krankenhäusern verschwinden«, schreiben sie in einem Appell an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier. »Viele der Ärztinnen und Ärzte, die in Italien noch Abtreibungen durchführen, gehören der ­älteren Generation, sie gehen bald in Rente«, so Laiga. »Ein Gesetz des ita­lienischen Staates wird so nicht mehr umgesetzt werden können«, konstatieren sie.

Wie konnte es zu einer solchen Situation kommen, in einem Land, das auf dem Papier eine liberalere Abtreibungsgesetzgebung etwa als Deutschland hat?

Abtreibungen sind schlecht für die Karriere

Wie konnte es zu einer solchen Situation kommen, in einem Land, das auf dem Papier nicht nur eine liberalere Abtreibungsgesetzgebung etwa als Deutschland hat, sondern wo die Akzeptanz von Abtreibungen jüngsten Statistiken zufolge auch unter Katholiken mit bis zu 80 Prozent relativ verbreitet ist? Angesichts des hohen Anteils der Abtreibungsgegner unter den Ärzten könnte man vermuten, italienische Krankenhäuser seien fest in der Hand von »Lebensschützerinnen« und »Lebensschützern«, aber die Re­alität sieht viel profaner aus. Das Problem fängt nämlich nicht erst im Krankenhaus an. Oft sind es Universitäten unter religiöser Trägerschaft, die zukünftige Gynäkologinnen und Gynäkologen ausbilden und ihnen eine Kar­riere in öffentlichen Krankenhäusern ermöglichen. Die Karrieremöglich­keiten für Ärztinnen und Ärzte, die sich bereit erklären, Abtreibungen durchzuführen, würden nicht in erster Linie aus religiösen Gründen begrenzt, sagen die Expertinnen und Experten von Laiga. Ihre Diskriminierung finde eher dadurch statt, dass diese Ärzte oft nur noch für Abtreibungen zuständig seien und dies für sie zum Karrierehindernis werde. Immer mehr Nichtverweigerer klagen öffentlich über chronische Unterbesetzung, inhumane Arbeitszeiten und ein feindliches Arbeitsklima in den meisten Krankenhäusern, was viele dazu bewegt, als Abtreibungsgegner aufzutreten, selbst wenn das gegen ihre ethischen Überzeugungen geht.

Dass diese Arbeitsbedingungen für Ärzte unzumutbar seien und unter diesen Umständen das Recht auf weibliche Gesundheitsvorsorge in Italien nicht mehr garantiert sei, befand auch der Europarat im vergangenen April, nachdem der größte italienische Gewerkschaftsbund CGIL Beschwerde eingelegt hatte. Es ist nicht das erste Mal, dass Italien von der EU aufgrund der Nichteinhaltung der Abtreibungsgesetzgebung kritisiert wird. 2014 hatte die International Planned Parenthood Federation gemeinsam mit Laiga gegen Italien geklagt. Auch damals wurde die italienische Regierung bloß »gerügt«, passiert ist seitdem nichts. Weder auf der legislativen Ebene noch in der Gesellschaft. Die »Family Day«-Veranstaltungen, wie in Italien die Pro-Life-Demonstrationen heißen, erfreuen sich jedes Jahr der Beteiligung Hunderttausender Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Italien ist nicht das einzige Land in der EU, in dem die weibliche reproduktive Selbstbestimmung nicht garantiert ist. Die »Lebensschützer« treten auch in anderen Ländern immer offensiver in die Öffentlichkeit.

Die Unterzeichnung des »Memorandum zur Mexico City policy« durch US-Präsident Donald Trump (s. Seite 4) hat nun europäische Politikerinnen und Politiker dazu bewegt, aktiv zu werden. Auf Initiative des niederländischen ­Außenministeriums werden Pro-Choice-Vertreter und -Vertreterinnen aus zahlreichen Staaten bei einer Geberkonferenz Geld für Organisationen sammeln, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Die Konferenz mit dem Titel »She Decides (www.shedecides.com) soll am 2. März in Brüssel stattfinden. Entwicklungshilfeminister aus Schweden, Belgien, den Niederlanden und Dänemark sowie Vertreter aus mehr als 50 Staaten werden erwartet.