Soziale Proteste in der Kabylei

Leere Kassen, tote Städte

In Algerien gibt es vor allem in Berbergebieten Proteste gegen Spar­maß­nahmen der Regierung. Die Lage bleibt angespannt, die Regierung bestreitet, dass es soziale Unruhen gibt.

Manche europäische Beobachter nutzen den Vergleich, um sich kalte Schauer über den Rücken zu jagen oder um vorgefasste politisch-militärische Vorschläge zum Besten zu geben. Das algerische Regime nutzt ihn, um Unheil von sich und seinen Pfründen abzuwehren: In einer Reihe von Veröffentlichungen und Verlautbarungen wird in jüngster Zeit – aus unterschiedlichen Motiven – behauptet, dass Algerien »das nächste Syrien« am Südufer des Mittelmeers werden könnte, falls das dortige Regime ins Wanken gerät. Pierre Defraigne, vormaliger Generaldirektor der EU-Kommission und Direktor eines Think Tanks namens Madariaga-College of Europe Foundation, schrieb im Dezember etwa in der Zeitung La Libre Belgique in warnendem Tonfall, Algerien könne »das nächste Aleppo« werden, »in der Nachbarschaft Europas«. Allerdings ging es ihm dabei vor allem darum, ein Vorhaben zu fördern, das seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ohnehin intensiver debattiert wird: eine stärkere, von den USA unabhängige »gemeinsame europäische Verteidigung«.
In Wirklichkeit unterscheidet sich die Lage beider Länder jedoch erheblich. Algerien hat einen blutigen Bürgerkrieg ähnlich dem in Syrien längst hinter sich. In den Jahren von 1992/93 bis 1998/99 bekämpften sich die Staatsmacht und bewaffnete Islamisten, rund 150 000 Menschen wurden getötet – darunter viele Zivilisten. Zuvor hatten Unruhen im Oktober 1988, als das Einparteiensystem der Nationalen Befreiungsfront (FLN) implodierte, eine Art »arabischen Frühling« ausgelöst. Zwei Jahre lang hielt damals eine demokratische Öffnung an, die Armeeführung und radikale Islamisten führten sie jedoch in eine Sackgasse. Jihadisten und Salafisten, die auch in Algerien nach wie vor aktiv sind, genießen deswegen derzeit insgesamt eher geringe Sympathien bei der Bevölkerung.
Die Freitagspredigten in vielen Moscheen Algeriens nahmen vorige Woche unterdessen einen politischen Klang an. Die Imame hätten sich gefälligst für »Stabilität und Sicherheit« auszusprechen und gegen eine fitna Stellung zu beziehen. Dieser religiöse Begriff bezeichntet traditionell einen Zwist, einen »Bruderstreit« unter gläubigen Muslimen, zu dessen Vermeidung die Gottesfürchtigen aufgefordert sind. Ein Rundschreiben des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten und Stiftungen war an alle vom Staat anerkannten Vorbeter in den Moscheen ergangen. Es trug den roten Stempelaufdruck musta’agil (»dringend«) und gab diese offizielle Anweisung.
Ministerpräsident Abdelmalek Sellal hatte am Donnerstag voriger Woche eine Ansprache gehalten, um jeden Verdacht weit von sich zu weisen, man fürchte soziale Unruhen – ähnlich ­denen im Winter 2010/11 in Tunesien, die in mehreren Ländern der Region politische Umbrüche auslösten. »Wir kennen keinen ›arabischen Frühling‹, und er kennt uns nicht! In einigen Tagen feiern wir Yennayer«, sagte der seit 2010 amtierende Regierungschef. Als Yennayer bezeichnet man das Neujahrsfest der Berberbevölkerungen in Nordafrika. Erst seit 2002 sind die Berbersprache und -kultur in Algerien ­offiziell anerkannt, erstere wurde damals neben dem Arabischen zur Amtssprache erhoben.
Durch seine Bezugnahme auf die berberisch geprägte Festbezeichnung versuchte Sellal, die Berber und vor ­allem deren in Algerien wichtigste Gruppe – die in ihrer Mehrheit östlich der Hauptstadt Algier lebenden Kabylen – zu beruhigen. Denn das Bergland der Kabylei, das bereits 1980 und 2001 Unruhen erlebte, bei denen es eher um kulturelle Freiheiten ging, war auch in der ersten Januarwoche dieses Jahres in Bewegung geraten. Dieses Mal ging es jedoch mehr um soziale Forderungen. Anlass war die Unterzeichnung des Haushaltsgesetzes für 2017 durch Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika am 28. Dezember. Es sieht Sparmaßnahmen vor, aufgrund derer die Preise für staatlich subventionierte Grund­bedarfsgüter und -dienstleistungen wie den Nahverkehr steigen, sowie eine Anhebung der Mehrwertsteuer von sieben auf neun beziehungsweise 17 auf 19 Prozent. Eine solche Konsumbesteuerung belastet vor allem Menschen mit geringem Einkommen.
In der größten Stadt der Kabylei, Béjaïa am Mittelmeer, traten am 2. Januar daraufhin die Inhaber von Geschäften in einen Streik unter dem Motto »Operation Tote Stadt«. Wenige Meter vom Sitz der Wilaya, der Bezirksregierung, entfernt hielt eine Antiaufruhr-einheit der Polizei einen Demonstrationszug an. Daraufhin kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, infolge derer mindestens zehn Menschen, darunter Po­lizisten, in die Notaufnahme von Krankenhäusern eingeliefert wurden. Ab Mittwoch vergangener Woche folgten Dutzende Festnahmen. Die Revolte und die »Tote Städte«-Bewegung hatten auf andere Städte der Kabylei wie Tazmalt und Akbou übergegriffen und auch Bouira erreicht, eine zwischen der berbersprachigen Region und Algier liegende Stadt mit sprachlich gemischter Bevölkerung. An mehreren Orten, wie Raffour, wurden auch Überlandstraßen blockiert.
Am 3. und 4. Januar kursierten auch in der Hauptstadt Algier und in den ­sozialen Netzwerken zahlreiche Gerüchte über den Ausbruch von Unruhen. Auf sie schienen viele Menschen mit Spannung zu warten. Die Situation blieb jedoch unklar. Aus der Küstenstadt Aïn Benian, einem Vorort westlich von Algier, wurden bei Facebook Videos als Beweis gewalttätiger Auseinandersetzungen mit der Polizei präsentiert. Eine Überprüfung ergab jedoch, dass es sich um Aufnahmen vom Neujahrswochenende – vor Beginn der sozialen Protestbewegung – handelte, die Konflikte zwischen zwei rivalisierenden Gangs zeigen. In den Stadtteilen Bab Ezzouar und Boushaki nutzten am Dienstag Banden und ein ihnen folgender Mob die aufgeladene Stimmung, um Geschäfte anzugreifen, die Chinesen gehören, und diese zu plündern. Anwohner gingen nach einer guten Viertelstunde dazwischen und setzten diesen Übergriffen ein Ende.
Derzeit herrscht angespannte Ruhe. Algerien hat seit 2014 rund 70 Prozent seiner Einnahmen aus dem Rohölverkauf aufgrund des gesunkenen Preises verloren. 60 Prozent der Staatseinnahmen insgesamt und 98 Prozent der Devisenerlöse aus dem Export hängen vom Erdöl- und Erdgasverkauf ab. Versuche in der Vergangenheit, die Ökonomie zu diversifizieren und unabhängiger von diesen beiden Rohstoffen zu werden, gehen vor allem auf die staatssozialistische Ära, die bis Ende der siebziger Jahre währte, zurück und scheiterten bislang. Präsident Bouteflika ist seit einem Schlaganfall 2013 weitgehend gelähmt und de facto amtsunfähig. Der harte Kern des Regimes versucht seitdem, die politische Stagnation aufrechtzuerhalten, um die 2011 in Tunesien ausgelöste Welle von Veränderungen zu überstehen. Wie lange die Bevölkerung dabei mitspielt, bleibt abzuwarten.