: Gott oder Nation? Konservative in der Türkei haben unterschiedliche Prioritäten

Die Erben des Sultans

Beim ideologischen Streit unter den Konservativen in der Türkei geht es vor allem darum, ob Gott oder der Nation der Vorrang gebührt. Einig ist man sich, wenn es gegen die Kurden geht.

Angesichts der Entwicklung in der Türkei, in der das politische System faschistoide Züge annimmt, versagen gängige Kategorien. Konservatismus ist ein aus der politischen Geschichte Europas stammender Begriff. Er wird gern dem Liberalismus und Sozialismus als Bewegung gegenübergestellt, die die Bewahrung der bestehenden oder die Wiederherstellung einer früheren gesellschaftlichen Ordnung zum Ziel hat. Wie sieht die politische Tradition in der Türkei aus?
Karl August Wittfogel prägte den Begriff der »orientalischen Despotie«, ein aus dem Denken der Antike stammendes, im 19. Jahrhundert unter ­verschiedenen Bezeichnungen wiederbelebtes Konzept, dem Kritiker vorwerfen, dass es vor allem die Überlegenheit der europäischen Kultur soziologisch zu belegen suchte. Max Weber, auf dessen Arbeit Wittfogel aufbaute, untersuchte neben der Form der politischen Herrschaft und der Entwicklung der Städte Inhalte der jeweiligen Religionen. Der westlichen Welt wurde der Protestantismus als »Geist des Kapitalismus« als Grundkonzept unterstellt. Für den islamischen Kulturkreis wurde in Abgrenzung dazu das Osmanische Reich und die spezifische Art der Verwaltung seiner Provinzen untersucht.
Die Oberschicht des Osmanischen Reichs bestand neben der Sultans­familie aus der Militärführung und Würdenträgern bei Hofe, der »Pforte« in Istanbul. Weber schloss aus der Vorläufigkeit bestimmter Privilegien der Offiziere, die einzelne Provinzen verwalteten, dass die orientalische Despotie keine Loyalitätsstrukturen wie das Vasallentum in Europa hervorgebracht habe. Der islamische Glaube fördere außerdem den Hang zu Fatalismus und Schicksalsergebenheit. Zum Fehlen eines Adels und eines sich emanzipierenden Bürgertums sei die Mentalität »Gott richtet es schon« hinzugetreten, deshalb habe es ein ganzer Kulturkreis nicht vermocht, sich vom Joch der re­ligiös untermauerten Despotie der Sultane zu befreien, die im Osmanischen Reich nicht nur weltliche Herrscher, sondern auch religiöse Oberhäupter der Sunniten waren. Eine Vereinfachung, die den orientalistischen Konzepten des kolonialistischen Europa entsprach. Um sich dem Begriff des Konservatismus in der Türkei zu nähern, ist es ­allerdings essentiell, die politischen Strömungen im Kontext der Auseinandersetzung mit diesen europäischen Konzepten zu verstehen.
Der Gründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, war selbst ein General des osmanischen Militärs. Die schmale Bildungselite des Osmanischen Reiches war sowohl osmanisch als auch europäisch gebildet. Wie İpek Çalışlar in »Latife«, ihrer Biographie der Ehefrau Atatürks, beschreibt, sehnte sich die osmanische Oberschicht nach westlicher Modernität vor allem im Privaten. Ganze Romane wurden über die Rückständigkeit des Familien­lebens geschrieben, die arrangierten Ehen, das einseitige Scheidungsrecht für Männer und die Mehrehe galten als Wurzel allen Übels.
Latife stammte aus einer reichen _Familie İzmirs und hatte vor dem Befreiungskrieg in Paris und London Jura studiert. Çalışlar analysiert die kemalistischen Reformen und legt plausibel dar, dass viele der Ideen zur zentralen Rolle der Emanzipation der Frauen als Leitbild für die junge Republik von Latife stammten. Nur in einem wichtigen Punkt waren Mustafa Kemal und seine Frau unterschiedlicher Meinung. Atatürk war ein Anhänger des euro­päischen Entwicklungsmodernismus im Sinne Émile Durkheims. Er glaubte, dass durch eine progressive Bildungspolitik Modernität lehrbar sei und sich die Gesellschaft in Windes­eile modernisiere, wenn der richtige Input gegeben wird. Ein harscher Bruch mit der Tradition war der Ausgangspunkt des Kemalismus: die Abschaffung des Sultanats und des Kalifats, die Gleichstellung der Frau und die Einführung des lateinischen Alphabets.
Als Präsident herrschte Atatürk fast wie ein Sultan, seine Reformen wurden von einem Einparteienregime erziehungsdiktatorisch erlassen und durchgesetzt. Der Nationalismus ersetzte als Ideologie die Religion, andere politische Bewegungen wurden unterdrückt und verfolgt wie die Kommunisten oder absorbiert wie die türkische Frauenbewegung. Es gab viele neue Ansätze, die allerdings zahlreiche Relikte der Despotie beibehielten. Çalışlar wies anhand von Gesprächen mit Familienmitgliedern und anderen Menschen aus dem Umfeld Latifes nach, dass die Ehe an ihren politischen Ambitionen scheiterte. Zusammen mit Halide Edip Adıvar, ­einer anderen Weggefährtin Atatürks, unterstützte Latife die Bildung einer Oppositionspartei, um die Religiösen in das politische System zu integrieren.
Aus heutiger Perspektive erweist sich das als weitsichtig. Denn der Bruch mit der politischen und religiösen Tradition schuf ein Oppositionspotential, das den religiösen Konservativismus mit Liberalisierungsvorstellungen verbindet und gleichzeitig Feindbilder propagiert. In der 2008 erschienenen Publikation »Perspektiven auf die ­Türkei« analysieren verschiedene Autoren den Okzidentalismus der türkischen Konservativen und kommen zu dem Ergebnis, dass die Islamisch-Konservativen als Antwort auf die vom Kemalismus geschaffenen Mythen die Geschichtsschreibung auf der Basis antiwestlicher und antikemalistischer ­Positionen rekonstruieren.
In der momentanen Phase muss das politische System in der Türkei neu kategorisiert werden. Als konservativ können mittlerweile alle drei etablierten Parteien (AKP, MHP und CHP) eingestuft werden. Die islamisch-konservativen Anhänger der Regierungspartei AKP verklären das Osmanische Reich und verteufeln den verwestlichten Kemalismus. Was unter dem Osmanischen Reich zu verstehen ist, wird allerdings nur durch die Interpretation der AKP-Parteiführung vermittelt, die der Ideengeschichte feindlich gegenübersteht und sich immer mehr an einem sunnitischen Volksglauben orientiert, dessen Regeln von Präsident Recep Tayyip Erdoğan täglich neu erfunden werden. Die Wiedereinführung der ­Todesstrafe oder auch die Aufhebung des Mindestalters für Eheschließungen werden in populistischer Manier erwogen und wieder verworfen. Die ­ultranationalistische Bewegungspartei (MHP) passt sich aus machtpolitischem Interesse an und hat mit der AKP einen gemeinsamen Feind: die kurdische Bewegung.
Die kurdische Demokratiepartei des Volkes (HDP) ist, abgesehen von vielen kleinen Splittergruppen, die einzige progressive Partei, die seit dem Wahlkampf von 2015 strikt auf EU-Kurs ist. Mit einer Frauenquote, Umweltbewusstsein und sozialdemokratischen Forderungen in der Wirtschaftspolitik vereint sie viele linksliberale Elemente. Fatal ist, dass eine Koalition mit der ­kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) immer wieder an dem die konservativen Parteien kennzeichnenden Nationalismus scheitert. Obwohl selbst der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu mittlerweile öffentlich sagt, dass Bombenanschläge in der Türkei von der Regierung gebilligt, wenn nicht gar initiiert werden, schwenkt die ­Partei immer wieder auf Regierungskurs ein, sobald ein Anschlag extremistischen Kurden zugeschrieben wird. Doch wer hinter den Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) steht, bleibt unklar. Sie schlagen immer dann zu, wenn es der türkischen Regierung nützt, um den Nationalismus als einendes ideologisches Element zu bemühen.
So ist die CHP eine sich auf die mobilisatorischen Elemente der Nationalstaatenbildung berufende konservative Partei, die in gesellschaftlichen Krisenzeiten immer wieder den EU-Kurs verlässt und sich antiwestlicher Verschwörungstheorien bedient. Die Theorie, dass die USA den Islamistenprediger Fethullah Gülen unterstützte, um ihre imperialistischen Wirtschafts­interessen im Nahen Osten umzusetzen, wurde ursprünglich von der CHP-Hauspostille Cumhuriyet verbreitet. In diesem Punkt bilden Kemalisten, Islamisch-Konservative und Ultranationalisten momentan eine unheimliche Koalition des populistisch-nationalistischen, stark antieuropäisch ausgerichteten Konservatismus.