Soziale Bewegungen müssen angesichts des digitalen Wandels kooperieren

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Allmählich wird »4.0« zur Chiffre für vermeintlich undurchschaubare Veränderungen von Arbeit und Produktion. Doch die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitswelt sollten gerade Linke für sich nutzen, anstatt sich in Identitätspolitik zu verrennen.

Braucht man den Begriff »digitaler Kapitalismus«? Schließlich ist Kapitalismus immer schon nach binärer Logik geregelt und mit der Entwicklung von Technik und Werkzeugen verbunden. Warum also das Schlagwort »digital« verwenden, das eher der Vermarktung alles vermeintlich Neuen dient? Weil benannt werden muss, dass sich etwas tut. Weil sich Ausbeutungsformen verändern durch Computer- und Informationstechnologie und der Begriff des Postfordismus die Veränderungen in der Produktion, die sich in den vergangenen Jahren zeigen, nicht mehr fassen kann.
In den Ausbeutungsmethoden des digitalen Kapitalismus verbinden sich Elemente aus dem Fordismus und Postfordismus auf eine Weise, die den jeweils letzten stabilisierenden Gehalt der beiden Systeme auslöscht. Die frei auf dem Markt flottierende Amazon-Turk-Arbeiterin etwa hat keinerlei soziale Absicherung und auch keinen Einfluss auf den Preis der eigenen Arbeitskraft. Der Konzern Amazon rät seinen Kunden sogar, die Arbeit nicht zu bezahlen, wenn sie nicht zufriedenstellend ist, oder einen anderen Turk-Arbeiter zu wählen, denn davon gibt es mehr als genug. Alle, egal wo auf der Welt, können so arbeiten, sobald sie einen Computer und einen Internetzugang haben. Diszipliniert werden die Arbeitskraftanbieter durch wachsende Konkurrenz, aber auch durch immer weitere digitale Kontrollmethoden. Die Geschwindigkeit des Deliveroo- oder Foodora-Fahrers wird durch permanente Ortung überwacht, die Leistung der flexibel buchbaren Putzkraft auf der Website von den Kunden bewertet. Nur wer gut abschneidet, darf sich weiter ausbeuten lassen. Kollektive Interessenvertretungen wie Gewerkschaften verlieren immer mehr an Bedeutung, weil Vereinzelung herrscht.
Während linke Theoretikerinnen und Theoretiker noch vor einigen Jahren hoffnungsvoll auf die Occupy-Proteste in den USA schauten, entdeckt selbst Antonio Negri mittlerweile nirgends mehr die Multitude. Stattdessen werden Diskussionen um neue Gräben innerhalb der linken Szene geführt – während die einen sich gegen die vermeintliche »Butlerisierung deutscher Universitäten« wenden und queere Kämpfe abwerten, drohen andere, sich mit der Kritik der cultural appropriation in die Abgrenzung der »Kulturen« zu verrennen. Diese innerlinken Auseinandersetzungen erscheinen rückschrittlich. Es hatten sich bereits in der Vergangenheit »postidentitäre soziale Bewegungen« entwickelt, wie der Soziologe Oliver Marchart sie nennt, die sich gegen jede Form der Identitätspolitik wendeten. Sie hatten sogar deren Zusammenhang mit kapitalistischen Verhältnissen begriffen. Eine solche Bewegung, die transnational bedeutsam wurde und dabei dezentral und horizontal organisiert blieb, war der »Euromayday«: ein Netzwerk zunächst von italienischen, französischen und katalanischen Menschen, das sich 2001 gründete, um zeitgemäße Formen der Organisierung jenseits von Gewerkschaften zu entwickeln und ein gemeinsames politisches Subjekt zu erschaffen, das den Andro- und Eurozentrismus der traditionellen Arbeiterbewegung überwinden sollte. Die Verbindung über verschiedenste Interessensgruppen hinweg bestand in der gemeinsamen Erfahrung der Prekarität. Die Art, wie über die Beschreibung von Prekarität Kollektivität erzeugt wurde, die nicht identitär, also nicht vereinheitlichend und ausgrenzend war, könnte weiterhin Inspiration liefern.
Das Wort der Prekarisierung hat sicher seine Tücken. Es vermittelt den Eindruck, es wäre einmal weniger prekär gewesen, es hätte vielleicht gar eine unprekäre Lohnarbeit gegeben – wie in manchen Analysen von Prekarisierung, die das Normalarbeitsverhältnis des vollerwerbstätigen weißen Mannes im Fordismus schönfärben. Sie lassen dabei die prekären Lebenslagen von Frauen, Migranten und anderen Minorisierten außer Acht. Die Bewegung »Euromayday« eignete sich den Begriff der Prekarisierung anders an. Er beschrieb hier eine Reihe von Erfahrungen, die der hegemoniale Diskurs meist nicht in Zusammenhang brachte. Die Erfahrungen der illegalisierten Migrantin, des Sexarbeiters, der Minijobberin, des Arbeitslosen und der Teilzeitkraft an der Universität oder im Callcenter. Das Gemeinsame war: So unterschiedlich die Folgen ­ihrer jeweiligen sozialen Positionen auch sind – alle teilen die Erfahrung der Verunsicherung und der unklaren Perspektive bezüglich ihrer Lohnarbeitsverhältnisse. Diese Gemeinsamkeit verschiedener Ausbeutungsverhältnisse zu markieren, war Ziel und Strategie der Bewegung, die »soziale Medien« nicht nur zur transnationalen Mobilisierung nutzte, sondern Online-Plattformen zur Zusammenarbeit ganz verschiedener Interessensgruppen hinweg schuf. 2004 fanden erstmals in verschiedenen europäischen Städten »Euromayday»-Paraden statt, ab 2007 als »Mondo-Mayday« auch außerhalb Europas etwa in Tokio und Toronto. Gerade in Hamburg, wo diese Bewegung stark war, machen zurzeit Menschen im Netzwerk »Recht ­auf Stadt« weiter und etablieren gemeinsame Strukturen mit den Protestbewegungen der Geflüchteten. Der Geist des »Euromayday« lebt auch weiter in Initiativen in Athen und Göttingen, in Dresden und Berlin, wo Häuser besetzt wurden, um »Social Center4all« zu schaffen. Dort verbinden sich die Kämpfe um Wohnraum mit denen der Flüchtlinge. An deren Seite organisiert sich seit kurzem auch die Gewerkschaft für Ehrenamt und freiwillige Arbeit (Gefa), die über eine Online-Plattform Gruppen vernetzt, die sich gegen die staatliche Indienstnahme der Freiwilligenarbeit wehren, und zu Warnstreiks aufruft.
Unterstützt von einem Solidaritäts-Bündnis streikten auch bei Amazon die Arbeiterinnen und Arbeiter seit 2013 an mehreren deutschen Standorten und organisierten sich über nationale Grenzen übergreifend, etwa mit den Arbeiterinnen und Arbeitern in den Werken in Polen.Doch wenn Arbeiterinnen und Arbeiter ohne deutschen Pass als Streikbrecher eingesetzt werden und sich die Streikenden dann rassistisch äußern, ist fraglich, ob der Verweis auf die gemeinsame Erfahrung von Prekarität letztere von ihrem Rassismus abbringen kann. Dennoch kann nur mit Kooperation eine gemeinsame Perspektive auf die Zusammenhänge zwischen Herrschaftsverhältnissen entstehen und klar werden, dass der Prozess von Fremd- und Selbstidentifizierung untrennbar mit den kapitalistischen Verhältnissen verbunden ist.