Sehnsucht nach der Hölle

Sympathy for the Devil

Ein Plädoyer für mehr Hölle in unseren Leben.
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Stellen Sie sich einen kegelförmigen Berg vor, mitten im Ozean. Er ist einen Kilometer hoch und Sie sitzen obendrauf. Es ist Nacht, die Sterne funkeln. Aber nicht nur über Ihnen! Sondern auch einen Kilometer unter Ihnen, rund um Ihren Berg bis hinab zum Meeresspiegel. Sie sitzen also im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Sternen, mitten im Himmel. Nun ist dies aber kein gewöhnlicher Berg, sondern ein Vulkan. Sie sitzen am Rand des Kraters, der sich da oben auftut, und aus diesem schießen alle 20 Minuten mit viel Gedonner und Feuer hohe Lavafontänen. Sie schauen direkt in den Krater hinein, ins Erdinnere sozusagen. Sie sitzen also im Himmel und schauen gleichzeitig der Hölle in den Schlund.
Das können Sie auf der Insel Stromboli im Mittelmeer genau so erleben. Das ist die irdische Sicht auf eine gar nicht irdische Angelegenheit. Aber wir sehen selbst hier schon: Himmel und Hölle, das gehört zusammen. Wie auch beim Himmel-und-Hölle-Fingerspiel: Das eine ist ohne das andere nicht die Hälfte wert. Erst recht nicht im religiösen, also pädagogischen Sinne. Womit wir bei der Metaphysik sind, also bei der Vorstellung von Himmel und Hölle.
Ich habe mir das als kleines Kind so vorgestellt: Himmel ist total öde. Nur Wolken, Wolken, Wolken. Engel sitzen da herum, es gibt Gebäck und Oblaten, alle sind brav und benehmen sich ordentlich. In der Hölle hingegen feiern die Teufel wilde Feste, laute Musik, Tanz, Alkohol, es wird gegrillt, es gibt Ćevapčići, und alle tun Dinge, die verboten sind.
Das mag auf den ersten Blick ja ganz rebellisch erscheinen, vor allem für einen Steppke, aber: Um die Sünde positiv zu besetzen, dafür muss man nicht Punk sein oder Grufti, nicht seine Jugend mit Black-Sabbath-Platten verbracht haben oder auf dem »Highway to Hell« unterwegs gewesen sein. Schon in der Unterwelt der Antike war die Hölle los, das war nichts für Krämerseelen. Hierzulande bis in die biederen fünfziger Jahre hinein, und auch später noch, als auch das Kleinbürgertum sich zu zivilisieren begann, waren die Sünde, die Unmoral und das Tête-à-tête mit dem Teufel durchaus allgemein geschätzt. Ob Zarah Leander (»Jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual, denn er spricht nur immer von Moral«) oder Willy Millowitsch (»Wir sind alle kleine Sünderlein«), Günter Strack (»Grad die kleinen Sünden machen großen Spaß«), Udo Jürgens (»Schöne Grüße aus der Hölle, hier steppt der Bär, es ist ein Traum«), die Wildecker Herzbuben (»Wir hab’n doch alle uns’re kleinen Sünden«) und, last but not least, der große Frank Zander mit seinem legendären Ententanz: »Ja, wenn wir alle Englein wären, dann wär die Welt nur halb so schön. Wenn wir nur auf die Tugend schwören, dann könnten wir doch gleich schlafen geh’n.«
Man kokettierte damit, möglicherweise in die Hölle zu müssen, weil man es sich ja so verdammt gutgehen ließ im Diesseits. Wir alle wissen, dass diese Koketterie nur ein Abbild derselben kreuzbraven und bigotten Spießbürgerlichkeit war, die sie auf den Arm zu nehmen vorgab. Und dennoch: Die Affirmation der kleinen Teufelchen und ihrer Verlockungen stehen natürlich in Opposition zu den Tugendwächtern und Fatwa-Erklärern, den Gesundheitsaposteln und Saustallausmistern.
Heute ist die Hölle in der Krise, die Moral hat Oberwasser. Können Sie sich einen Veganer vorstellen, der mit einem Leberwurstbrot in der Hand »Wir sind alle kleine Sünderlein« singt? Oder in der Hitparade einen affirmativen Schlager übers Fliegen, bei dem sich »CO2« auf »was ist denn schon dabei« reimt? Eine Heimatkomödie, bei der der charismatische Held immer auf dem Fahrradweg parkt? Oder auch: einen islamischen Prediger, der von der Kanzel ein paar selbstironische Witze über das heimliche Whiskeytrinken macht?
Es steht schlecht um die Hölle! Auch bei mir. Heute habe ich eine ganz andere Vorstellung der Hölle. Ich kann sie besichtigen: In Auschwitz und Dachau hat sie Gedenkstätten, ich kann mir Propaganda­videos des »Islamischen Staats« anschauen, sie ist in Aleppo, in Nigeria, in den Fabrikhöllen, äh, -hallen in Nordkorea, und in einem vorpommerschen Dorf oder im Wahlkreis Lichtenberg 1. Dort muss ich nur in eine Eckkneipe gehen, um eine Ahnung von der Hölle zu bekommen: von der Hölle auf Erden nämlich.
Umso mehr braucht es die metaphysische Hölle, die nichtirdische also. Denn diese Hölle, nicht der Himmel, ist das Gegenkonzept zur Hölle auf Erden. Im Himmel werden versklavte Jungfrauen angeboten und scheitern Flüchtlinge am Türsteher Petrus. Die Hölle ist unser Darkroom, unsere Party, unsere antiautoritäre Antithese zur gottgerechten Disziplinargesellschaft. Zur Hölle mit uns!