Atheisten in Jerusalem

Gottlos in der heiligen Stadt

Jerusalem gilt den drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam als heilige Stadt. Der Glaube spielt hier eine enorm wichtige Rolle. Doch auch Atheistinnen und Atheisten leben in der Stadt. Einfach ist das für sie nicht immer.

Eine Frau schreit »Shabbat!« aus dem Fenster. In der Bar gegenüber läuft lauter Industrial-Krach. Die Bar öffnet gerade, es ist Samstagnachmittag, einige Stunden bevor der jüdische Teil Jerusalems nach der Sabbat-Ruhe wieder zum Leben erwacht. Die Bar liegt im Herzen der Stadt in einer kleinen Seitengasse, in einer Gegend, die unter der Woche sehr belebt ist. Heute ist es ruhig, fast alle Läden und Cafés haben geschlossen. Eine Katze läuft vorbei, ein älterer Mann in abgerissener und zu langer Hose bittet um eine Zigarette. Sonst ist da niemand, die Frau wiederholt: »Shabbat!«
Mit einer guten Dreiviertelstunde Verspätung kommt Smiley an. Er ist, so wird sich herausstellen, Anarchist, Antimilitarist und Antizionist. Und er ist Atheist, im Privaten. Mit anderen zusammen betreibt er einen Veranstaltungsort für Hardcore-, Noize- und Punkmusik in Mea Shearim, dem ultraorthodoxen jüdischen Viertel Jerusalems. Der Laden heißt Studio Straus, er liegt im Keller eines Bürogebäudes im Hinterhof, an der Vorderseite hängt ein Schild mit dem Schriftzug der Histadrut, des israelischen Gewerkschaftsbundes. Smiley und die anderen aus seiner Gruppe veranstalten dort normalerweise Konzerte und Partys, manchmal bis zu vier pro Woche. Außerdem arbeiten dort einige Tattookünstler, mit Termin. Derzeit finden keine Veranstaltungen statt, die Räume würden renoviert und das Kollektiv reorganisiere sich, erklärt Smiley.
»Die Leute hier in der Gegend können sich gar nicht vorstellen, dass in ihrem Viertel so ein Laden ist«, sagt er. »Sonst könnten wir das hier nie machen.« Der Veranstaltungsort mutet absurd an: Mea Shearim liegt nur zehn Minuten vom Zentrum Jerusalems entfernt, doch kaum jemand, der nicht zur Gemeinschaft der Ultraorthodoxen gehört, kommt je dorthin. Hier dominiert die Religion, es geht um Regeln und das Lesen der Thora, geachtet wird auf Geschlechtertrennung und züchtige Kleidung. Darauf weisen große Schilder an den Grenzen des Viertels hin, die einzige Beschriftung hier, die sich auch auf Englisch findet.
Punk, Atheismus und Tattoos, das gelte im ultraorthodoxen Judentum als Blasphemie, so Smiley. »Es reicht aber schon, dass im Straus Männer und Frauen im gleichen Raum sind«, sagt er. »Das ist unerhört.« Als das Straus 2013 eröffnete, sei es keine Absicht gewesen, aufgrund des Standorts mittten in Mea Shearim zu provozieren. Im Gegenteil, Smiley regt sich über Menschen auf, die sich in die Gemeinschaft der Strenggläubigen einmischen wollen. Im Studio Straus habe es, das sei für ihn selbstverständlich, noch nie am Sabbat Veranstaltungen gegeben; er respektiere die Kultur, die in Mea Shearim herrscht. Er kritisiert den Staat, den der »liberalen, ashkenasischen kolonialistischen Eliten«, wie er sagt, der diese Kultur zerstören wolle.
Das Straus ist kein atheistisches Kollektiv oder ein irgendwie politisches. Natürlich, sagt Smiley, fänden dort viele radikale politische Veranstaltungen statt, aber es sei ein Künstlerkollektiv und habe keine explizite politische Ausrichtung, auch nicht religiöser Art. Deshalb, findet Smiley, seien Teile der ultraorthodoxen Gemeinschaft auch gute Partner im Kampf gegen den Staat. Damit meint er jene, die einen religiös motivierten Antizionismus vertreten. Die Errichtung des jüdischen Staates sehen sie als Sache des Messias und den politischen Zionismus – egal welcher Couleur – empfinden sie als Blasphemie. Smiley fände es schön, wenn solche Leute ins Straus kommen würden.
Jüdisch und säkular
Jerusalemer Atheisten gänzlich anderer Prägung sind Professor Yaakov Malkin und seine Tochter Rabbi Sivan Maas. Malkin, geboren 1926 in Warschau, ist mit sieben Jahren ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina gekommen, gab später das Magazin der linkszionistischen Jugendbewegung Hashomer Hazair heraus, arbeitete für die Radiosender der Hagana und der IDF, lehrte an Universitäten und gründete Geimendezentren, so das erste gemeinsame jüdisch-arabische in Haifa. Er ist Autor mehrerer Bücher zum Thema jüdischer Säkularismus mit Titeln wie »Judaism without God?« oder »About Atheism and Human Belief«. Er ist außerdem Gründer des International Institute for Humanistic Judaism, das auch in den USA einen Zweig hat und dort den ersten säkularen humanistischen Rabbi der Welt ordinierte.
Seine Philosophie sei mittlerweile bekannt genug, um ihn zu gefährden, sagt Malkin. Im Januar erst wurde sein Gartenzaun mit Bibelversen besprüht, die zur Vernichtung »Amaleks« aufrufen, des ewigen Feindes der Juden. In Kombination mit einem anonymen Brief und einem Messer, das die Täter hinterlassen haben, eine klare Morddrohung. Rabbi Maas sagt, sie und ihr Vater liebten die Bibel, eines von Malkins Büchern trägt den Untertitel »die Bibel als Literatur«. So richtig berühmt sei er aber nicht durch seine philosophische Arbeit geworden, sondern durch die Drohung mit dem Messer, sagt Malkin und lächelt etwas gezwungen.
Er und seine Tochter vertreten einen humanistischen Atheismus jüdischer Prägung, in dem es um die Souveränität des Individuums geht. Die Halacha, die Sammlung jüdischer Gesetze, war bis ins 16. Jahrhundert Zweifel und Veränderung unterworfen – der Talmud, sagt Rabbi Maas, bestehe aus nichts als Fragen. Das passt zum Namen: »Halacha« kommt vom Verb lalechet, gehen, wandeln. Rabbi Yosef Karo (1488–1575) hat schließlich beschlossen, diesem Umherwandeln müsse ein Ende gesetzt werden und schrieb im »Schulchan Aruch« (»gedeckter Tisch«) Regeln fest. Mit Bezug auf die ältere jüdische Tradition bezeichnet sich der Atheist Malkin heute als traditionellen Juden.
Zentral in seiner Philosophie ist, dass auch der humanistische Atheismus als Glaube gilt, an Moral, an Humanismus, Freiheit und Gleichheit und daran, das Leben der Menschen zu verbessern. Die Abgrenzung zwischen religiösen und nichtreligiösen Gläubigen erklären die beiden aus dem Buch Esther, benannt nach der jüdischen Königin von Persien im 5. Jahrhundert v. Chr. Das heutige hebräische Wort für Religion, dat, komme vom persischen Wort data, das »Gesetz des Königs« bedeutet. Die »Datiim«, die Religiösen also, unterliegen den Gesetzen, das heißt, sie sind nicht souverän. Säkulare Juden unterliegen diesen Gesetzen, die heute religiöse Gesetze sind und viele Details des Lebens regeln, nicht – sie sind souverän, gebunden allein durch ihre Moral. Deshalb ist auch der Vorwurf der »Blasphemie« im Judentum viel weniger an Gedanken gekoppelt als an Taten, die gegen diese Gesetze verstoßen, und wird von orthodoxen Gruppen auch so vorgebracht: So etwa gegen einen künstlichen Strand in Jerusalem, gegen Bauarbeiten am Samstag oder gegen die Öffnung eines zentralen Jerusalemer Cafés im Unabhängigkeitspark am Sabbat. Und gegen Malkin, in Form von Morddrohungen.
Rabbi Sivan Maas ist auch in der Israeli Atheist Association organisiert, die vor etwa fünf Jahren gegründet wurde und rund 2 000 Mitglieder zählt. Die Organisation tritt überparteilich für eine Trennung von Religion und Staat ein, für Wissenschaft und Rationalität. Seit 2012 veranstaltet sie eine jährliche Konferenz und Vorträge, die meisten Aktivitäten finden in Tel Aviv statt. Seit kurzem, darauf ist man bei der Israeli Atheist Association stolz, macht auch eine Gruppe arabischer Atheisten mit.
Vom Muslim zum Atheisten
Einer von ihnen ist Ramzi, 25 Jahre alt und Softwareingenieur bei IBM im Jerusalemer Süden. Nach einigem Zögern sagt er, er möchte als palästinensischer Bewohner Ostjerusalems vorgestellt werden. Aber es gehe ihm gegen den Strich, dieses ganze Identitätsgehabe. Er sei halt hier geboren, »Punkt«, mehr heiße das nicht. Ramzi erzählt von seiner Jugend als gläubiger Muslim. Er besuchte eine christliche Schule, weil sie gut war. Als er an der Hebräischen Universität in Jerusalem ein Vorbereitungsprogramm auf sein Doppelstudium in Informatik und Buchhaltung belegte, waren einige seiner Freunde US-amerikanische Protestanten. »Die Geschichten, an die sie glaubten, habe ich immer schon als unlogisch empfunden«, sagt er.
Ramzi habe viel über den Islam und das Christentum gelesen, zunächst in der Absicht, das Christentum zu kritisieren und Argumente für den Islam zu finden. Ein oder zwei Jahre später dann, wieder durch den Kontakt mit anderen, habe er vom Atheismus erfahren und begonnen, über den Widerstreit zwischen Religion und Nichtreligion nachzudenken. Als die Frage aufkam, ob er Muslim geworden wäre, wäre er nicht als solcher geboren worden, lautete Ramzis Antwort: »Nein.« Wenn es einen Gott gäbe, sagte er, wäre ihm die Religion das Wichtigste. Er sehe aber keinen und deshalb sei es ihm auch egal, ob es einen gebe. Er wisse selbst nicht so genau, ob er Atheist oder Agnostiker sei, mit Gott habe er abgeschlossen.
Seinen Eltern zu sagen, dass er nicht mehr gläubig ist, sei dumm gewesen, erzählt er. Es sei hart für sie wie für ihn gewesen, und sie hofften bis heute, dass er eines Tages zum Glauben zurückkehrt. Früher sei er selbst religiöser gewesen als sie, daher konnten sie ihm nicht Paroli bieten und schickten ihn zu mehreren Geistlichen, um seinen Abfall von der Religion zu diskutieren. Das sei deren religiöse Pflicht, wenn jemand, der den Islam verlassen möchte, zum Gespräch bereit sei, sagt Ramzi. Der islamische Streit darüber, ob ein solcher Mensch zu töten oder anderweitig zu bestrafen sei, ginge erst nach dem Scheitern des Dialogs los. In Israel bestehe diese Gefahr ohnehin kaum, weil diejenigen, die so eine Bestrafung durchführten, Probleme mit der Staatsgewalt bekämen, erläutert Ramzi. In seinem Fall seien auch die Eltern nicht auf Druck aus gewesen: »Andere Familien hätten ihre Kinder verstoßen oder Schlimmeres.« Er selbst sei damals bereit gewesen, sich Argumente anzuhören und sich auch wieder vom Islam überzeugen zu lassen, wenn diese Argumente gut gewesen wären – das waren sie aber nicht. »Die Kleriker hatten selbst keine Argumente für den Islam, sie haben ihn einfach nur von ihren Eltern übernommen.« Viele dieser Gespräche hätten ihn nur in seiner Entscheidung bestärkt.
»Wenn ich heute Menschen beim Beten sehe, bin ich angewidert von Religion«, sagt Ramzi. »Die Menschen tun mir leid, sie sind nur Mitläufer, teilweise bereit zu sterben und zu töten für ihren unlogischen und irrationalen Glauben.« Der Druck, sich nicht öffentlich zum Atheismus zu bekennen, sei zumindest in Jerusalem groß, sagt Ramzi. Auch in seinem Fall betrifft es nicht nur ihn persönlich, sondern die ganze Familie. Man rede dann schlecht über sie, und auch wenn das ihm selbst egal wäre, möchte er das der Familie ersparen. Deshalb passiere es auch immer wieder, dass Atheisten, die in einer ähnlichen Situation seien wie er, nichts voneinander erfahren. Er würde eigentlich gerne weggehen, in die USA, zum Beispiel, und er könnte das auch. Aber er bleibt wegen seinen Eltern.
Fliegen lernen
Während Professor Malkin, Rabbi Maas, Ramzi und Smiley Ausnahmen sind, glaubt Dina Klein, dass es viele gibt, die wie sie denken, gerade in Jerusalem. Aufgewachsen in einer nicht ganz so strengen orthodoxen Familie in Bnei Brak, einer ultraorthodoxen Vorstadt von Tel Aviv, hat Klein begonnen, sich von der Religion zu entfernen, als sie mit 18 Jahren in den Zivildienst eintrat. Zunächst sei sie lange noch religiös gewesen, aber nicht mehr so streng. Sie begann, mit Männern Umgang zu haben, hatte Beziehungen und fing an, einige der religiösen Regeln zu missachten, während sie andere, etwa die Sabbat-Ruhe, weiterhin einhielt. Heute ist Klein 35 Jahre alt. Den letzten, bewussten Schritt zur Atheistin hat sie vor etwa zwei Jahren gemacht, als sie begann, als Flugbegleiterin für die israelische Fluggesellschaft El Al zu arbeiten. Sabbat, sagt sie, sei einfach störend in diesem zeitlich sehr unregelmäßigen Job, und sie habe begriffen, dass der Gott, an den zu glauben sie erzogen wurde, nicht mehr ihr Gott sei. Sie sei überzeugt, dass es gerade in Jerusalem viele gibt wie sie. In Israel heißen sie »Datlasch«, das ist eine Abkürzung für dati leshe avar, »der religiös gewesen ist«. Sie sagt: »Ja, ich bin Atheistin, aber ich glaube an eine höhere Macht.« Dieser Glaube bleibt unkonkret, sie wisse nur, dass es nicht der jüdische Gott der Halacha sei mit all seinen Regeln und Strafen, unter dessen Herrschaft, ausgeübt von Eltern und Gemeinde, sie aufgewachsen ist. Sie nehme ihren Eltern die religiöse Erziehung nicht übel, was sie aber störe, sei die Schulbildung, die sie genossen hat. Mathe, Englisch und weltliches Wissen im Allgemeinen spielte kaum eine Rolle, es ging vor allem um die religiösen Texte. Nur weil sie auf einer Mädchenschule war, sei ihr überhaupt ein bisschen weltliches Wissen vermittelt worden. Im ultraorthodoxen Bildungssektor sind Schulen strikt getrennt, die Jungen beschäftigen sich nur mit Religion. Das soll sie auf die religiöse Pflicht des Thora-Studiums vorbereiten, ohnehin sind es später meist die Frauen, die in den früh geschlossenen orthodoxen Ehen sich um Kinder, Haushalt, aber auch Lohnarbeit kümmern.
Ihren Eltern hat Klein noch nichts von ihrem Atheismus erzählt. »Natürlich merken sie was«, sagt sie, und sie überlegt, ihnen ihre Entscheidung mitzuteilen. Vor allem, weil sie bislang am Sabbat immer länger als 24 Stunden bei ihnen bleiben muss, wenn sie sie besucht. Das sei einfach nervig. Ihr Vater aber wäre »sehr traurig«, da ist sie sich sicher.
Dem Religionssoziologen Ari Engelberg zufolge ist das ein verbreitetes Phänomen. Engelberg lehrt an der Hebräischen Universität in Jerusalem und ist sich sicher, dass es für viele Israelis nicht einfach ist, sich zum Atheismus zu bekennen. Oftmals aus persönlichen Gründen, aber auch, weil es gesellschaftlich nicht akzeptiert ist.
Dem stimmt auch Malkin zu, und er sieht einen Trend dahingehend, dass die religiösen Teile der Gesellschaft politisch an Macht gewinnen. Oft sind die Stimmen der religiösen Parteien in der Knesset, dem israelischen Parlament, entscheidend für die Regierungsbildung. Während Tommy Lapid einer der ersten israelischen Politiker gewesen sei, der den wachsenden Einfluss des religiösen Sektors auf die ganze Gesellschaft offen bekämpft habe, kritisiert Malkin dessen Sohn Yair Lapid, den Vorsitzenden der liberalen Partei Yesh Atid, dafür, dass er erst vor ein paar Tagen im Gebetsschal die Klagemauer besucht habe. »Das dient alles der Vorbereitung auf einen politischen Deal mit den religiösen Parteien«, sagt Malkin. Im israelischen Fernsehen, nennt Malkin als anderes Beispiel, gäbe es mit Lior Schleien und Yaron London nur zwei Journalisten, die sich offen zu ihrem Atheismus bekennen.