Ein Buch über die Geschichte von Sportvereinen

Egalitäre Organisationen

Der Sportsoziologe Hans-Jürgen Schulke hat in einem Buch die bislang vernachlässigte Geschichte der Sportvereine beleuchtet.

Vor einiger Zeit brach großes Wehklagen unter Hamburger Sportjournalisten aus. Der Grund: drei unerfreuliche Vorkommnisse innerhalb weniger Wochen. Zunächst meldete der Insolvenzverwalter der Betriebsgesellschaft des Handball-Sport-­Vereins Hamburg – ein Projekt, in das ein Medizinunternehmer dem ­Hamburger Abendblatt zufolge im Laufe von elf Jahren »wohl mehr als 50 Millionen Euro« gesteckt hatte – die Mannschaft vom Spielbetrieb in der 1. Liga ab. Dann beantragten die Volleyballerinnen der VT Aurubis aus finanziellen Gründen keine Spiel­berechtigung für die oberste Spielklasse, und schließlich wickelte ein US-amerikanischer Unterhaltungskonzern seine notorisch defizitäre Hamburger Eishockey-Filiale ab. Von Hamburg als »Sportstadt« könne nun ja keine Rede mehr sein, seufzten oder schimpften daraufhin die Sportjournalisten. Ein besonders charmantes Kerlchen, das sein Geld beim NDR verdient, rempelte aufgrund der Entwicklung die Gegner der Hamburger Olympia-Bewerbung an, die sich im November 2015 bei einem Referendum durchgesetzt hatten. »An alle NOlympics: Glückwunsch nachträglich! Da habt Ihr eine schöne Lawine ausgelöst!« twitterte er.
Wenn man denn schon mit seinem Lokalpatriotismus hausieren gehen möchte, könnte man auch andere Geschichten erzählen. Zum Beispiel, dass der Hamburger Club Sportspaß mit 73 000 Mitgliedern Europas größter Aktivensport-Verein ist. Oder dass Hamburg darüber hinaus europaweit die Stadt mit den meisten Großvereinen ist, also Vereinen mit mehr als 2 000 Mitgliedern. Hinzu kommt die historische Pionierfunktion vieler Vereine: Der etwas seltsam benamte Hamburger und Germania Ruderclub, 1836 gegründet, ist der zweitälteste Ruderverein der Welt, der Wandsbeker Athleten-Club von 1879 deutschlandweit der älteste im ­Bereich Kraftsport. Das kümmert aber die meisten Sportjournalisten wenig, denn sie sind fixiert auf den Spitzensport und seine Stars. Zum Breitensport fällt ihnen eher wenig ein.
Wäre die Formulierung nicht mit einer ganz anderen Bedeutung belegt, könnte man sagen: Hamburg ist die Hauptstadt der Bewegung. Diese Entwicklung hat nun der Sportsoziologe Hans-Jürgen Schulke, einst ­unter anderem Vizepräsident des Deutschen Turnerbundes, aufgearbeitet. »Als Vereine in Bewegung kamen. Eine faszinierende Zeitreise durch den Sport«, lautet der Titel des von ihm herausgegebenen Buchs. In Hamburg beginnt diese Geschichte 1815 auf einem improvisierten Turnplatz in einem Garten der heutigen Speicherstadt. Aus einer Gruppe von 15 bis 20 Leuten entwickelte sich ein Jahr später die Hamburger Turnerschaft von 1816 (HT 16). Deren 200jähriges Jubiläum in diesem Jahr ist der Anlass des Buchs.
Bis in die neunziger Jahre bestand kein Zweifel daran, dass die HT 16 der älteste Verein der Welt ist. Doch nach der Wende stand plötzlich der TSV 1814 Friedland aus Mecklenburg auf der Matte und beanspruchte diesen Status für sich. Wer in diesem Sinne die Nummer eins ist, lässt sich, wie Schulke umfänglich erläutert, nicht mehr eindeutig klären, es kommt unter anderem darauf an, wie man »Verein« eigentlich definiert.
Eine Vereinschronik ist das von Schulke herausgegebene Buch allerdings nicht, vielmehr betten seine ­Co-Autoren und er die Entwicklung der Turnerschaft in die gesamte ­Geschichte der Sportvereine seit dem frühen 19. Jahrhundert ein. Die HT 16 sei »ein Prisma, das mit seinen ­Flächen das Geheimnis der Sportvereinsentwicklung in Hamburg und darüber hinaus erkennen lässt – die gemeinschaftliche Bewältigung neuer Herausforderungen von Sport und Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit«, schreibt Schulke.
Hehre Worte, die einem heutzutage beim Stichwort Sport eher nicht als Erstes einfallen. Beim Bild, das der Sport heute abgibt, gerät aus dem Blick, dass Sportvereine aufgrund ihrer Organisationsweise als Pioniere der Demokratie gelten können. Man könne sich heute kaum noch aus­malen, was für eine mitreißende Wirkung auf die Bevölkerung »egalitäre Organisationen« gehabt hätten, »in denen jeder eine Stimme hatte, unabhängig von Einkünften, Geschlecht, Zunft, Stand oder Religion«, sagt Schulke. Die ersten Vereine, ergänzt der 70jährige, seien »entstanden, als sich der herrschende Adel noch auf das Gottesgnadentum berief, alle Lebensbereiche streng hierarchisiert waren und Kinder noch den ­Vater, wenn nicht gar beide Elternteile siezen mussten«.
Hamburg spielte in dieser Entwicklung unter anderem deshalb eine maßgebliche Rolle, weil es »eine der ältesten Bürgerrepubliken weltweit« ist, wie Schulke sagt. Der Adel wurde früher als in anderen Regionen entmachtet. Die ersten Vereine trafen hier »auf ein Bürgertum, das liberal war, verglichen jedenfalls mit den militärischen und adligen Zirkeln, die anderswo die politischen Geschicke festlegten«.
Anderswo waren die Turner den Herrschenden derart suspekt, dass sie auch in den Karlsbader Beschlüssen von 1819 Berücksichtigung fanden. Eine vom österreichischen Außenminister Klemens Wenzel von Metternich einberufene Konferenz ver­abschiedete damals eine Reihe repressiver Maßnahmen – unter anderem ein Turnverbot, das zumindest in einigen Teilen Deutschlands durch­gesetzt wurde. Erst in den vierziger Jahren hob der preußische König Friedrich Wilhelm IV. diese »Turnsperre« auf.
In der HT 16 gab es noch in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Kritik an einem Paragraphen der Vereinsverfassung, der das Duzen festschrieb. Die Regelung blieb zwar bestehen, aber die Diskussion vermittelt einen Eindruck davon, wie tiefgehend der gesellschaftliche Wandel war, für den die Vereine in der ersten Hälfte des vorvorigen Jahrhunderts sorgten.
Von Dauer war die im weiteren Sinne fortschrittliche Haltung natürlich nicht, Zum 100jährigen Jubi­läum der HT 16, begangen während des Ersten Weltkriegs, dominierte eine Haltung, die sich von der anderer bürgerlicher Vereine nicht unterschied. »Kritik am Waffengang an sich wurde nicht geübt, Fragen nach dem Sinn des Krieges wurden nicht gestellt«, schreibt Schulke. »Von ­einer Besinnung auf die demokratischen Grundwerte bei der Vereinsgründung« habe keine Rede mehr sein können.
Die Demokratie innerhalb der Vereine werde heute dadurch geschwächt, dass sich bei Mitgliedern »verstärkt eine Dienstleistungsmentalität durchsetzt«, sagt Schulke. »Man erwartet, dass alles funktionieren soll. Die Leute gehen zum Sport, wie sie zum Friseur gehen.« Er meine das »gar nicht vorwurfsvoll«, ergänzt der Buchautor. »Wenn jemand 55 Stunden pro Woche arbeitet und eine Familie hat, will er nicht abends noch umständlich über irgendwas diskutieren, auch wenn es mindestens mittelbar ihn selbst betrifft.« Das mangelnde Interesse an der Mitbestimmung im eigenen Verein hänge aber auch mit veränderten Freizeit- und Mediennutzungs­gewohnheiten zusammen, meint Schulke. »Andererseits gibt es bei konkreten Projekten wie Baumaß­nahmen oder jetzt der Flüchtlingsbetreuung weiterhin ein großes Engagementpotential.«
»Als Vereine in Bewegung kamen« benennt auch Schwächen in der ­bisherigen Aufarbeitung der Sportgeschichte: Schulkes Co-Autor Bernd Lange-Beck erwähnt zum Beispiel den Umgang mit dem Arbeitersport: Die Geschichte des deutschen Arbeitersports sei zwar mittlerweile »breit aufgearbeitet«, Vereinsstudien seien »allerdings noch rar«. Viele nach 1945 wiedergegründete Vereine haben sich mit diesem Teil ihrer ­eigenen Geschichte zu wenig befasst. Damit, dass sie sich noch eines Bes­seren besinnen, ist allerdings nicht zu rechnen.

Hans-Jürgen Schulke (Hrsg.): »Als Vereine in Bewegung kamen. Eine faszinierende Zeitreise durch den Sport«. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2016, 320 Seiten, 34,90 Euro