Das Bundesverfassungsgericht bestätigt das Recht auf Sampling

In der Schule gepennt

Kraftwerk vs. Moses Pelham: Das Urteil des Bundes­verfassungsgerichts stellt künstlerische Freiheit über Eigentumsrechte.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Rechtsstreit zwischen Moses Pelham und der Band Kraftwerk entschieden, dass der Fortschritt der digitalen Welt künftig auch hierzulande nicht justitiabel ist: HipHop darf weiterhin existieren und mit ihm alle Möglichkeiten, die seine musikalische Existenz ausmachen, zuvörderst das Sampling. Das Gericht misst somit der Kunstfreiheit ein größeres Gewicht bei als dem Urheber- und Leistungsschutzrecht – eine gute Nachricht, auch wenn die Kulturindustrie sofort nach der Urteils­verkündung alle Register zog, um sie in Zweifel zu ziehen. In dem Rechtsstreit ging es darum, ob der Musikproduzent Pelham einen zwei Sekunden langen Beat aus dem 1977 veröffentlichten Kraftwerk-Track »Metall auf Metall« als Sample für den Song »Nur mir« verwenden durfte, den er für Sabrina Setlur produziert hat. Ralf Hütter, Mitbegründer von Kraftwerk, hält dieses Sampeln schlicht für »Diebstahl«, und Florian Drücke, der Geschäftsführer von Deutschlands oberstem Lobbyverband der Musikindustrie, dem BVMI, assistiert: Die Kunstfreiheit sei »nicht per se stärker als das Eigentumsrecht«, und die »Beteiligung der Kreativen und ihrer Partner« dürfe »nicht weiter ausgehöhlt werden«. Mit dieser Begründung tragen die Vertreter der Musikindustrie seit Jahren ihre Forder­ungen vor: Es gehe um die Rechte der »Kreativen«, obwohl der BVMI keineswegs der Interessenverband der Künstler, sondern der der Verwertungsindustrie ist. Seit jeher stellt er sich gegen eine erlaubnisfreie Nutzung einzelner Klangpartikel.
Es geht um Eigentum – und an diesem Beispiel lässt sich studieren, wie sich die Konzerne und einzelne Großkünstler den Dienst an ihren Gütern vorstellen. Man trifft auf eine Geisteshaltung, die bürgerliche Souveränität nur an Tauschwert und Eigentum bindet. Die Verwertungsindustrie hat durchgesetzt, dass jede Melodie, jeder Klangschnipsel zum Eigentum deklariert und damit nicht mehr frei verfügbar ist. Dem hat BVerfG-Vizepräsident Ferdinand Kirchhof in der Verhandlung eindrucksvoll widersprochen: Ein Verbot von Samples würde nämlich »die Schaffung von Musikstücken einer bestimmten Stilrichtung praktisch ausschließen«.
Darf Sampling ohne Zustimmung der Rechteinhaber erfolgen? Die Verwertungsindustrie verneint dies, und auch Künstler wie Smudo, der das BVerfG-Urteil grundsätzlich begrüßt, wünscht sich nicht nur eine Festlegung einer Sekundengrenze, sondern auch, dass die Rechte­inhaber »um Erlaubnis gefragt« werden. Sollten also unter anderem Plattenfirmen und Musikverlage darüber entscheiden, welche Samples verwendet werden, und so mitbestimmen, wie die zeitgenössische Musik sich entwickelt? Dadurch würde Kreativität eingeschränkt und Zensur ausgeübt werden. »Das Neue entsteht nicht aus dem Nichts, sondern leitet sich aus dem Fundus des Vorhandenen ab«, schreibt der Sozio­loge Georg Fischer. Tatsächlich haben sich Musiker schon immer am Vorhandenen bedient: Bach verarbeitete Werke von Vivaldi, die Dreigroschenoper« von Brecht und Weill bediente sich an Vorlagen anderer Dichter, und ohne das spektakuläre Abba-Sample aus »Gimme! Gimme! Gimme!« wäre Madonnas »Hung Up« kein Welt­hit geworden.
Allerdings kann Madonna es sich leisten, ein paar Hunderttausend Dollar an Abba zu zahlen, und wenn Coldplay bei Kraftwerk anfragen, ob sie ein Sample aus deren »Computer Love« verwenden dürfen, kann man davon ausgehen, dass Coldplay Kraftwerk am Erfolg ihres Songs »Talk« beteiligen. Doch es darf kein Zwei-Klassen-Recht beim Sampling entstehen, das die Erfolgskünstler bevorzugt und alle anderen außen vor lässt. Sampling ist eine gängige Kulturpraxis, niemand kann erwarten, dass Jugendliche Ralf Hütter um Erlaubnis fragen, bevor sie sich der technischen Möglichkeiten be­dienen und remixen, samplen und Stücke neu zusammensetzen. Als einer der Verfassungsrichter Ralf Hütter fragte, ob dessen Konzept der Besitzstandswahrung nicht die »Beatles des 21. Jahrhunderts« verhindere, antwortete Hütter: »Die Beatles zeichneten sich dadurch aus, dass sie ihre eigene Musik geschrieben haben.« Ach ja? Die Beatles eigneten sich gerne vorhandenes Material an: »Come Together« enthält ein Versatzstück von Chuck Berrys »You Can’t Catch Me«, »Yesterday« ist ein Destillat aus Ray Charles’ Version von Hoagy Car­michaels »Georgia on My Mind« und Nat King Coles »Answer Me My Love«, und »All You Need Is Love« enthält Samples unter anderem von »Greensleeves«, Glenn Millers »In The Mood«, der »Marseillaise« und Bachs »Invention Nr. 8 in F-Dur«. Die Kulturtechnik des Plagiierens war eine der wesentlichen Quellen des kreativen Schaffens der Fab Four. In einem Interview mit Playboy bekannte Paul McCartney 1982: »Oh yeah. We were the biggest nickers in town. Plagiarists extraordinaires.«
Auch Kraftwerk verwenden Versatzstücke anderer Musik, etwa in ihrem Stück »Tour de France« von 1983, das ein Sample aus Paul Hindemiths »Sonate für Flöte und Klavier« aus dem Jahr 1936 enthält. Und die Band hat die Verwendung von Kraftwerk-Samples durch Afrika Bambaataa auf »Planet Rock« goutiert (und sich fürstlich bezahlen lassen). Nein, hier geht es auch um das kulturelle und gesellschaftliche Standing eines etablierten Musikers gegenüber einem, der die kulturellen und gesellschaftlichen Codes des Bürgertums nicht beherrscht. Es geht um den Underdog Moses Pelham, der 1996 gerappt hat: »Ich hab gepennt in der Schule. Die Klasse hat gelacht.« Ihm gegenüber steht Ralf Hütter, dessen Band Kraftwerk weltweit in den etablierten Kunstmuseen auftritt und der sich als Großkünstler ins­zeniert: »Man stellt sein ganzes Leben in den Dienst dieser Kunst und dieser Arbeit und jemand anderes greift durch Knopfdruck und irgendwie heraus und macht da etwas anderes mit.« Der Musiksoziologe Johannes S. Ismaiel-Wendt findet, dass aufschlussreich an dieser Äußerung Hütters »vor allem der konservative Gestus« sei, »der ihr innewohnt. Die Abwertung des ›Knopfdrückens‹ und der Anspruch, gefragt zu werden, sind typische und altbekannte Strategien des Vorwurfs, andere pflegten eine ›Unkultur‹.« Hier geht es um die Zugehörigkeit zum Popkanon, die mit aller Arroganz erklärt wird. Im Gegensatz zu den samplingbasiert arbeitenden Musikern«, die nur irgendwelche Knöpfe drücken, wird »mit dem Argument des Musik Selbstschreibens gekontert«, also mit dem Geniekult, den die Eliten seit jeher um die Kunstmusik und natürlich um die Hegemonie des Schreibens betreiben.
Wenn Moses Pelham, der nicht in den Kunstmuseen auftritt und für gewöhnlich auch nicht in den bürgerlichen Feuilletons vorkommt, vor Gericht feststellt, dass seine Verwendung von Samples »üblich und rechtens« sei, weil »HipHop ohne Sampling nicht möglich ist. Es gibt keine Kunst im luftleeren Raum, es geht immer um Auseinander­setzung mit anderer Kunst«, dann steckt darin auch eine Selbster­mächtigung eines Musikers, der »in der Schule gepennt« hat. Bei der oft kleinteiligen Diskussion um Urheber- und Leistungsschutzrecht sollte zudem nie vergessen werden, dass im Urheberrecht weißes Herrschaftsdenken mit all seiner Semiotik festgeschrieben ist. Wenn die Musikindustrie Hand in Hand mit ihren etablierten Erfolgskünstlern nun Sturm läuft gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dann ist dies nicht nur ein Kampf darum, ein spezielles Geschäfts­modell, das im 20. Jahrhundert zufällig erfolgreich war, unter neuen Herstellungsbedingungen erbittert zu verteidigen auch um den Preis, eine wertvolle Form des kulturellen Ausdrucks zu opfern. Es ist vor allem ein Kampf um Eigentumsrechte. »Werke des Geistes sind nicht von Natur aus knapp und besitzen daher nicht von sich aus einen wirtschaftlichen Wert«, sagt der Physiker und Nobelpreisträger Robert Laughlin. Im Gegenteil: Man könnte sagen, ein Musikstück wird ja sogar immer wertvoller, je öfter es verwendet, weiterverarbeitet und gespielt wird. Nur dass davon eben die Gesellschaft profitiert und nicht ein Konzern der Musikindustrie.