Wutbürger im Konzertsaal. Eklat in der Kölner Philharmonie

Das neue Mutbürgertum

Der Cembalist Mahan Esfahani fragt die Pöbler in der Kölner Philharmonie: »Wovor haben Sie Angst?« Doch sie haben gar keine Angst – im Gegenteil.

Ein triviales Motiv aus zwölf Sechzehntelnoten wird von zwei Klavieren zugleich gespielt, zunächst synchron. Kleine Geschwindigkeitsveränderungen lassen die Linien auseinanderlaufen und erzeugen Phaseneffekte, es wirbelt stereophon. Nach einer Weile ist alles wieder rhythmisch im Lot, nur sind die Linien jetzt um eine Note verschoben. Und so geht es immer weiter, der Komponist spendiert im Verlauf ein wenig Variation und Oktavierung. Das ist Steve Reichs »Piano Phase« aus dem Jahr 1967.
Eine kurze Tonfolge über längere zeitliche Strecken zu verteilen und hübsche akustische Effekte zu erzielen, reine Klanglichkeit also, hippieeske Psychedelik – dieser Minimalismus setzt beim Publikum keine große intellektuelle Kraft voraus, keine Kenntnis der Partitur, keine angestrengte Reflexion. Reich selbst meinte, hier gäbe es kein Argument.
Und doch: Als Mahan Esfahani das Stück kürzlich in der Kölner Philharmonie als Version für Cembalo und Zuspielband anmoderieren und interpretieren wollte, gab es statt konsumierbarem Effekt wutbürgerlichen Affekt. Schon den englisch gesprochenen Vorsätzen schallte entgegen: »Reden Sie gefälligst Deutsch!« Das Stück selbst musste dann wegen anhaltender Störungen aus dem Publikum abgebrochen werden.
Dabei galt der Eklat weniger dem Stück selbst. Er war eine Machtdemonstration jener Kulturbürger, denen der Sonntagnachmittag, an dem das Konzert stattfand, heilig ist. Ein Aufstand für Kaffee, Kuchen und Barockmusik. Letztere habe auf Darmsaiten gegeigt zu werden, »authentisch« im »Originalklang«. Darauf beharrend kommt das konservative Bürgertum wieder zu sich, auch wenn es sich dafür kurz vergessen muss. Das ist der neue deutsche Mut, im Konzertsaal ebenso wie auf dem Wahlzettel. Überhaupt ist dieses Bür­gertum in seiner postnazistischen Form gerade dabei zu beobachten, wie es im Versuch der Auf­erstehung noch seine letzten Grundlagen selbst zerstört. In einer solchen Phase wird es gefährlich.
Nun ist Neue Musik schon seit der ersten Zwölftonreihe in einen objektiven Widerspruch zum selbstzufriedenen Bedürfnis des Publikums geraten und ästhetisches Kampffeld gesellschaftlicher Widersprüche. Doch selbst dann, wenn sie sich im Fortgang – wie bei Steve Reich – der refle­xiven Anstrengung entledigte, blieb ihr nur eine eigensinnige Kleinstgruppe von Befürwortern.
Dagegen kämpfen manche Musiker verbissen an – mit allen Mitteln, auch illegitimen. Wenn zum Beispiel Barenboim heute Schönberg dirigiert, tritt er in Widerspruch zu Boulez und Gielen, so verschwimmt alles im Vibrato, jede Dissonanz wird gewaltsam zu einem schlechten Wagner verharmlost. Und doch gilt selbst bei dieser Konzes­sion ans Publikum der Applaus nicht der Kunst, sondern allenfalls dem Dirigenten, dem einschlägig engagierten Künstler, dem man seine modernistische Schrulle nachsieht. Neue und neueste Musik ist keine fürs Publikum im großen Saal. Im besten Fall wird sie dort tapfer ertragen. Der Streit im Kölner Publikum war darum auch keiner über Ästhetik, sondern nur noch über Anstand.
Nach dem Konzert meinte Esfahani: »Mein ­Gehirn explodiert jedoch bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn ich an dem Nachmittag in Köln wirklich etwas Neues gespielt hätte.« Man mag es sich nicht vorstellen.