Die russische Propaganda und der Fall des nicht vergewaltigten Mädchens aus Berlin

Die Wutrussen sind los

Der Fall der vermeintlichen Vergewaltigung einer 13jährigen Russlanddeutschen durch Flüchtlinge führte zu Demonstrationen in ganz Deutschland. Selbst die diplomatischen Beziehungen zu Russland wurden durch die Verbreitung der Geschichte strapaziert.

Die Geschichte klingt absurd: Verwandte eines 13jährigen russlanddeutschen Mädchens setzen das Gerücht von einer Entführung und Gruppenvergewaltigung der Minderjährigen durch arabische Flüchtlinge in die Welt. Weiter angestachelt von russischen Medienberichten protestieren daraufhin bundesweit mehr als 11 000 deutsche und russlanddeutsche Wutbürger in unzähligen Städten gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Russische und deutsche Minister befassen sich mit der Sache.
Das mag abwegig klingen. Doch der Fall von »Lisa« aus dem Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf sorgte jüngst tatsächlich für internationale Verwicklungen. In seiner Jahrespressekonferenz sprach Russlands Außenminister Sergej Lawrow von »unserem russischen Mädchen« und warf der deutschen Polizei Vertuschung vor. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bezichtigte Lawrow daraufhin, »politische Propaganda« zu betreiben, um »die ohnehin schwierige Migrationsdebatte in Deutschland anzuheizen«.

Was war geschehen? Am Montag, dem 11. Januar, war die 13jährige nicht in der Schule erschienen. Die Eltern meldeten sie deshalb als vermisst und hängten Vermisstenplakate auf. Die Suche wurde auf Facebook und dessen russisches Pendant »VK« ausgeweitet. Tags darauf tauchte das Mädchen allerdings wieder auf. Der Polizei zufolge erzählt sie mehrere Versionen dessen, was passiert sei.
Am Mittwoch, den 13. Januar, verbreitete sich im Internet die Geschichte, die 13jährige sei entführt und 30 Stunden lang von Migranten vergewaltigt worden. In Umlauf hatte dies das Onlineportal »Genosse.su« gebracht, das der Taz zufolge rechtsextremen Russlanddeutschen als Plattform dient. Dort ist der Name Genrih Grout zu finden. Der nennt sich auch Heinrich Groth und ist Leiter des »Internationalen Konvents der Russlanddeutschen«. Auf der Seite des Konvents findet sich nach Angaben des antifaschistischen Online-Portals »Blick nach rechts« ein gemeinsames Video von Groth und Andrej Triller, einem Mitbegründer des »Arbeitskreises der Russlanddeutschen in der NPD«. Das Querfrontheft Compact interviewte Groth. Und schon 2006, so berichtet »Blick nach rechts« weiter, war der Mann Kandidat für eine rechte Splitterpartei im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf.
Am 14. Januar übernahmen auch die Facebook-Seiten »Kein Asylanten-Containerdorf in Falkenberg« und »Nein zum Heim – Marzahn-Hellersdorf« die Geschichte von der Entführung und Vergewaltigung des Mädchens. Die Täter seien arabischsprechende Männer aus einer Containerunterkunft in Falkenberg, hieß es dort. Fünf Männer randalierten an diesem Donnerstagabend in der Flüchtlingsunterkunft gegenüber von Lisas Schule und schimpften dabei auf Russisch.
Am 16. Januar berichtete eine angebliche Cousine des Mädchens auf einer NPD-Demonstration in Berlin, die sich gegen »Überfremdung« richtete, über die vermeintliche Entführung. Der größte russische Staatssender Erster Kanal war mit einem Filmteam an Ort und Stelle und sendete die Geschichte. Anmoderiert wurde der Beitrag mit dem Hinweis auf »die neue Ordnung in Deutschland«, in der sich Migranten an Kindern vergehen könnten. Die NPD-Demonstration stellte der Sender als »spontane Protestkundgebung besorgter Menschen« dar. Eine angebliche Tante Lisas erzählte zudem im Interview, das Mädchen sei von drei ausländischen Männern entführt und vergewaltigt worden. In diesem angeblichen Bericht aus Berlin ist auf Uniformen jedoch das Wort »Polis« zu lesen. Neben schwedischen Polizisten sind auch finnische Polizeifahrzeuge in dem Beitrag zu sehen. Weitere russische Leitmedien übernahmen das Thema. Die deutschsprachige Facebook-Seite »Anonymous.Kollektiv« postete den Bericht des russischen Ersten Kanals mit deutschen Untertiteln. Das Posting hat mittlerweile beinahe zwei Millionen Likes.

Am 18. Januar gab die Berliner Polizei via Facebook bekannt, es habe nach Erkenntnissen des Landeskriminalamts keine Entführung und keine Vergewaltigung gegeben. Lisa habe den Ermittlern mehrere widersprüchliche Versionen der Geschichte erzählt. Es sei lediglich dem Interesse der Netzgemeinde und den Diskussionen in den sozialen Medien geschuldet, dass diese Information überhaupt publik wurde. Mehr wolle man nicht sagen, um die Persönlichkeitsrechte des 13jährigen Mädchens zu schützen.
Am 20. Januar wurde dennoch über verschiedene Whatsapp-Gruppen und im Netzwerk »VK« ein russischsprachiger Demonstrationsaufruf für den 24. Januar verbreitet. Bereits die Überschrift war martialisch formuliert: »Achtung! Das ist der Krieg!« Die käufliche Regierung und ihre treuen Polizeischergen versuchten, so hieß es in dem Aufruf, den Vorfall auf jede erdenkliche Art und Weise zu vertuschen. Pathetisch spitzte sich der Appell in dem Satz zu: »Wir stehen an einem Abgrund, und wenn wir uns nicht zusammenschließen und Deutschland verteidigen, dann werden wir alle zerquetscht wie Ratten.« Auf der Facebook-Seite »Der Russen-Treff« wurden An­mel­de­bestätigungen von Demonstrationen und Aufrufe gepostet. In den Kommentaren las man Aufrufe zu Spontanprotesten vor Flüchtlingsheimen.
Am Samstag, den 23. Januar, demonstrierten etwa 700 Menschen überwiegend Russlanddeutsche, aber auch Reichsbürger und Parteivorstandsmitglieder der NPD, vor dem Bundeskanzleramt. Sie riefen Parolen gegen »Migrantengewalt«, aber auch »Merkel muss weg«. Der Internationale Konvent der Russlanddeutschen hatte zu der Kundgebung aufgerufen. Unterstützung erhielten die Demonstranten von »Bärgida«, dem Berliner Ableger von Pegida.
Am Sonntag, den 24. Januar, demonstrierten dann in etlichen Städten bundesweit mehr als 11 000 Menschen, überwiegend Russlanddeutsche, aber auch Mitglieder von AfD, Republikanern und NPD. In Köln setzte die Polizei etwa 200 Deutsche und Russlanddeutsche am Hauptbahnhof fest, die sich zuvor einer Demonstration von »Pro NRW« mit 50 Teilnehmern angeschlossen hatten. In Ellwangen marschierten etwa 500 Demons­tranten vom Marktplatz zur Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge.
Am Freitag, den 29. Januar, nahm der Fall Lisa dann eine weitere Wendung. Wie die Staatsanwaltschaft Berlin mitteilte, ließen sich die 30 Stunden, in denen das Mädchen verschwunden war, nun rekonstruieren. Aus Daten des Mobiltelefons der 13jährigen gehe hervor, dass sie die Zeit bei einem Bekannten verbracht habe. Der 19jährige habe dies auch zugegeben. Lisa habe sich vor ihren Eltern verstecken wollen, da diese wegen schulischer Probleme ihrer Tochter zu einem Elterngespräch gebeten worden seien.

Nach einem Telefongespräch mit Steinmeier erklärte der russische Außenminister daraufhin, die Sache nicht weiter verfolgen zu wollen. Für die russische Regierung ist die Affäre dennoch keine Blamage. Marieluise Beck, Bundestagsabgeordnete der Grünen, erläuterte Gründe für das russische Vorgehen kürzlich im Interview mit dem Deutschlandfunk: Die russische Wirtschaft schwächele, der Rubel falle und die Lebensmittelpreise stiegen. Unter der Führung von Präsident Wladimir Putin sei es die innenpolitische Strategie, die Situation in Deutschland und Europa möglichst schlimm darzustellen, um das Leben in Russland erträglicher erscheinen zu lassen. Die Osteuropa-Politikerin machte zudem darauf aufmerksam, dass Putin rechte Parteien und Organisationen in Europa finanziell und politisch unterstütze. Sie nannte den französischen Front National und die Parteien Ukip aus Großbritannien, Goldene Morgenröte aus Griechenland und Jobbik aus Ungarn. Der Berliner Morgenpost zufolge steht auch die Führung der Alternative für Deutschland bereits seit längerer Zeit mit russischen Behörden in Kontakt.
Auch andere scheuen den Kontakt zu Putin nicht, auch wenn sie sich damit Kritik einhandeln. Als vergangene Woche bekannt wurde, dass Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) an diesem Donnerstag Putin im Kreml besuchen will, warnten der Koalitionspartner SPD, die Opposition, aber auch Außenpolitiker der Schwesterpartei CDU vor einem Schulterschluss mit dem russischen Präsidenten gegen die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
»Ich habe Hinweise aus Moskau, sehr konkrete, dass es Pläne gibt, wie man weiter die Situation in Deutschland destabilisieren will«, sagt der Buchautor und Russland-Kenner Boris Reitschuster. Diese Vorhaben schlössen sogar Gewaltakte ein, das mache ihm große Sorgen. »Wir haben es mit einem hybriden Angriff zu tun, der leider von den meisten Deutschen nicht erkannt wird«, sagt der Kritiker Putins. Die Beschreibung des Vorgehens lasse sich in der neuen Militärdoktrin des russischen Generals Walerij Gerassimow über den hybriden Krieg nachlesen. »Da heißt es, dass man Länder destabilisieren kann mit dem breiten Einsatz von Desinformation, politischen, ökonomischen und anderen nichtmilitärischen Maßnahmen. Das Ziel ist es, Angela Merkel in Bedrängnis zu bringen, sie aus dem Amt zu drängen, weil sie entscheidend ist für die Sanktionen gegen Russland.«