Eine Geschichte aus Deutschland

Unser Autor versucht, seinen Kindern, die frühestens 2027 volljährig werden, zu erklären, warum er etwa 20 Jahre vor ihrer Geburt Antideutscher wurde und warum er es immer noch ziemlich richtig findet.

Heute keine Zeit, um Pony zu spielen, und schon gar nicht für Fussball. Ich muss über etwas ­schreiben, was lange her ist. Es gab Demonstrationen und Tagungen, die wollten »Nie wieder Deutschland!«. Jetzt will eine Zeitung, die Jungle World heißt, wissen, ob ich heute noch ein »Antideutscher« bin. »Jungle World wie Dschungelbuch?« »Und wo wird die Zeitung gemacht?« »Liegt Berlin auch in Deutschland?« Und wie, möchte ich sagen, aber da habt ihr schon beschlossen, dass das blöd klingt. »Nie wieder Deutschland!«, »Antideutscher«. Außerdem leben wir doch in Deutschland. Okay. Versuchen wir es mal so herum:
Oft, wenn wir nach der Kita nach Hause kommen, ist Umziehen angesagt. Die Jungs raus aus den Jeans, rein in die Fussballklamotten. Oft tragt ihr das Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Das Mädchen macht es besser: Ballett-Tütüs kennen keine Länder, nur Rosa. Wenn internationale Wettkämpfe stattfinden, holt ihr dann aber alle Fähnchen oder Lollis in Schwarz-rot-gold. Wenn ich großes Pech habe, schminkt ihr euch mit den anderen Kindern im Hof auch noch in den Nationalfarben. Was und wen man toll findet und was blöd, ist oft Zufall. Oder liegt es an der oder in der Familie?
1990 wurde Deutschland Fußballweltmeister. Ich war damals Redakteur von Konkret, vermutlich der einzigen Zeitschrift in Deutschland, in der sich damals keiner über diesen Titel freute. Das hatte weniger damit zu tun, was auf dem Fußballplatz geschah und wie die deutsche Nationalelf spielte. Wir fanden schlimm, was in Deutschland in diesen Wochen auf der Straße passierte. Viele Leute feierten. Aber sie waren dabei nicht lustig. Sie pöbelten Menschen an, die sie für Ausländer hielten. Sie grölten »Deutschland, Deutschland!« – und es klang wie eine Drohung. Achtung! Wir Deutschen kommen! Und wir siegen! Wir fanden Deutschland hässlich. So hässlich wie das Foto eines Mannes, das wir damals gedruckt haben: Der trug ein Fan-Trikot mit den Nationalfarben, hatte zu viel getrunken, sich in die Hosen gepinkelt und erhob die Hand zum Hitler-Gruß.
Über Hitler und die deutschen Nationalsozialisten haben wir schon manchmal geredet. In der Zeit, in der Hitler in Deutschland an der Macht war, haben Deutsche die schlimmsten vorstellbaren Verbrechen begangen. Deutsche haben Millionen Menschen umgebracht, weil sie Juden waren. Menschen wurden in Lager gesperrt, gequält und ermordet, nur weil sie den Nationalsozialismus kritisiert hatten oder weil sie zum Beispiel schwul waren. Viele Erwachsene und Kinder wurden heimlich in Anstalten von Ärzten und Pflegepersonal ermordet, weil sie eine Behinderung hatten. Deutsche Soldaten haben damals auch viele Länder in Europa überfallen und damit den Zweiten Weltkrieg begonnen, den bis heute schlimmsten Krieg, in dem auch sehr viele Menschen gestorben sind, die keine Soldaten waren, auch viele Kinder. Das ist lange her. Aber es hat trotzdem auch mit uns heute zu tun.
Zum Beispiel weil einer der Soldaten, die damals in Russland gekämpft haben, euer Opa war. Ihr habt ihn nicht mehr kennengelernt, weil er schon vor vielen Jahren gestorben ist. Euer Opa hat mir erklärt, da war ich etwas älter als ihr heute, dass der Nationalsozialismus schlimm war. Er hat mir aber auch erzählt, dass die Deutschen damals nicht wissen konnten, was die Nationalsozialisten alles getan haben.
Ich habe viel später mit anderen Menschen gesprochen, die nicht wie euer Opa als Soldaten gekämpft haben, die nicht wie euer Opa in der Hitlerjugend waren, die stattdessen im Gefängnis gesessen hatten oder die aus Deutschland fliehen mussten. Dabei ist mir klar geworden, dass das nicht gestimmt hat, was mir mein Vater erzählt hat: Die Menschen in Deutschland wussten sehr genau, was ihre Nachbarn, ihre Brüder und Schwestern, ihre Eltern und auch sie selber getan haben. Viele haben damals mitgemacht. Sie haben Juden geschlagen und ihre Geschäfte zerstört, haben Menschen verraten, die sich versteckt oder den Nationalsozialismus kritisiert haben, haben in Kliniken gearbeitet, in denen Menschen mit Behinderungen umgebracht wurden – manche fanden es richtig, andere waren vielleicht zögerlich. Aber nur sehr wenige haben etwas dagegen getan.

Wir haben Glück gehabt: Deutschland wurde von den Alliierten besiegt. Hitler brachte sich um. Viele Deutsche fanden trotzdem, dass das keine Befreiung war. Eigentlich hätten sie den Krieg lieber gewonnen. Sie fanden es schlimm, dass Deutschland geteilt wurde und es jetzt zwei deutsche Staaten gab: die DDR, die mittlerweile nicht mehr existiert, und die Bundesrepublik Deutschland, das Land, in dem wir heute leben und in dem es uns sehr gut geht. Während die Fußballweltmeisterschaft stattfand, wurde verhandelt, dass aus der DDR und der BRD wieder ein einziges Deutschland wird. Ein großes Deutschland. Dichter besiedelt als Frankreich, größer als England. Und viel größer als die Schweiz.
Vor einem Deutschland mitten in Europa, das größer ist als alle anderen Länder ringsherum, das viele Soldaten hat und noch viel mehr Fabriken, das reich ist – vor einem solchen Deutschland hatten viele Menschen im Ausland gewarnt. Dieses Deutschland könnte wieder ein Staat werden, der aggressiv seine Interessen durchsetzen will. In Deutschland selbst gab es damals aber fast niemanden, der sagte: »Ein solches vereintes, großes, starkes, mächtiges Deutschland wollen wir nicht. Es war vor dem Zweiten Weltkrieg schädlich, es hat nach dem Zweiten Weltkrieg niemandem gefehlt und es wird auch jetzt nichts Gutes bringen.« Im Gegenteil. In Deutschland meinten fast alle: »Wir dürfen selber bestimmen, ob wir wieder ein Deutschland haben wollen. Der Zweite Weltkrieg ist lange her. Wir haben daraus gelernt. Wir sind heute ein ganz normales Land.«

Das haben wir anders gesehen. Deswegen war unsere Parole: »Nie wieder Deutschland«, manche haben uns »Antideutsche« genannt. Wir meinten: Deutschland wird immer das Land bleiben, in dem die Nationalsozialisten an die Macht kamen, das die schlimmsten denkbaren Verbrechen begangen hat und das weitergemacht hätte, wenn es nicht zerstört und besiegt worden wäre. Die deutschen Gerichte zum Beispiel haben sich nicht besonders bemüht, die Kriegsverbrecher und Massenmörder zu verfolgen. Nur wenige wurden überhaupt angeklagt. Von denen wurden viele freigesprochen. Oder sie erhielten geringe Strafen.
Aber auch soweit Deutschland heute als ein »normales« Land in Europa erscheint, ist das kein Grund zur Beruhigung. Die Normalität, in der wir leben, ist nämlich an vielen Stellen nicht harmlos. Es gibt in Deutschland Gegenden, in denen sind Menschen mit dunkler Hautfarbe oder Frauen mit Kopftuch nicht sicher. Immer wieder werden Flüchtlinge angegriffen und vereinzelt werden ihre Unterkünfte angezündet. Insgesamt sind mehr als 200 Menschen seit der Wiedervereinigung getötet worden, die hier Asyl suchten oder deren Familien hier eingewandert sind. Es gibt Gewalt gegen Schwule, gegen Obdachlose oder gegen Menschen mit Behinderungen. Wer mit einer Kippa oder Schläfenlocken als Jude erkennbar ist, läuft in Gefahr, beschimpft oder bedrängt zu werden. Besonders schlimm ist, dass es deutsche Polizisten und deutsche Soldaten gibt, die Nazi-Lieder singen, die Flüchtlinge in der Polizeiwache misshandeln oder judenfeindliche Hassparolen im Internet versenden. Manche rechtsextremen Politiker sind auch als Abgeordnete gewählt worden. Viele sagen: auch in anderen Ländern in Europa gibt es Menschen, die Juden hassen oder die Flüchtlinge angreifen. Es gibt auch in anderen Ländern rechtsextreme Parteien, die von vielen Menschen gewählt werden. Mit Deutschland hat das, meinen sie, deswegen nichts zu tun.
Das ist nicht ganz falsch. Es ist aber auch nicht ganz richtig. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in vielen Ländern Menschen, die sagten: Wir wollen keine behinderten Menschen. Es gab auch in vielen Staaten viele Menschen, die Juden ablehnten. Aber nirgendwo sonst, außer in Deutschland, wurden dann vom Staat Juden und Behinderte systematisch ermordet.
Als wir in Frankfurt eine große »Nie wieder Deutschland«-Demonstration gemacht haben, haben wir gesagt, dass Deutschland ein gefährliches Land werden kann, auf das man aufpassen muss. Manchmal kann sich eine schlimme Lage sehr schnell und überraschend entwickeln. Zum Beispiel, wenn es den Menschen hier plötzlich schlechter geht. Dann werden sie jemanden suchen, der daran schuld sein soll. Es kann manchmal auch sehr lange dauern, bis etwas richtig schlimm wird. Es ist dann schwierig, die Veränderungen richtig zu bemerken. Ich befürchte, dass wir uns in Deutschland gerade in so einer Phase befinden.
Trotzdem leben wir in Deutschland. Wir sind auch Deutsche. Das ist okay. Es gibt aber keinen Grund, stolz darauf zu sein, dass man Deutsche oder Deutscher ist. Im Gegenteil. Wir haben gute und viele Gründe, uns dafür einzusetzen, dass es Minderheiten in Deutschland besser geht, dass sie sich sicherer fühlen können, als das heute der Fall ist. Und es ist wichtig, darauf zu achten, dass auch die deutschen Politiker nicht versuchen, andere Länder zu zwingen, dass sie alles so machen, wie es für Deutschland am besten erscheint. »Nie wieder Deutschland« ist dafür nicht die einzige und vielleicht nicht beste Parole. Aber die, die immer zuerst an Deutschland denken, wissen jedenfalls, was gemeint ist. Und das ist auch wichtig.