Krise und Migration in Südspanien

Gestrandet in Santa Pola

Während des spanischen Bürgerkriegs flohen Tausende Franco-Gegner vom südspanischen Santa Pola aus vor den Faschisten nach Algerien. Heute kommen viele afrikanische Flüchtlinge dort an. Vielen Touristen gefällt das nicht.

Wellen klatschen gegen die großen Steinbrocken, die den Kai vor der Meeresbrandung schützen. Die darauf klebenden Steinchen und Muscheln sind mit einer Salzschicht überzogen. José Antonio sitzt auf einem Klappstuhl vor drei Angeln und blickt auf das Meer. Der freundliche alte Mann mit der dunkelblauen Arbeiterhose und der Schiebermütze zieht seine Stirn in Falten. »Seit drei Jahren gibt es in Santa Pola keine Fische mehr«, erzählt er besorgt. Das liege an den großen Fischereischiffen, die mit ihren riesigen Netzen aus Monofilamenten wie Nylon die gesamte Fauna und Flora des Meeres zerstören. José Antonios Freund Manuel, ein stämmiger Mann in kariertem Hemd und weißer Weste, erzählt, wie sie vor kurzem hier auf dem Kai eine ganze Nacht verbracht haben: »Dennoch haben wir keinen einzigen Fisch gefangen.« José Antonio und Manuel sind hier aufgewachsen. Dass sie über 70 sind, sieht man den kräftigen Männern nicht an.
José Antonios Blick wandert prüfend zu den Angelhaken. Etwas bewegt sich. Er springt auf, rennt los und zieht den Angelhaken hoch, an dem ein kleiner Fisch baumelt. »Wirf ihn wieder ins Wasser. Lass ihn leben«, ruft ihm Manuel in valencianischem Dialekt zu. »Geht nicht, der ist schon verletzt«, erwidert José Antonio ruhig. Der Angelhaken hat sich bereits in die Kiemen des Fischs gebohrt. José Antonio geht mit dem Angelhaken zu einem Eimer und zieht ihn aus den Kiemen des zappelnden Tieres heraus. Nach weniger als einer Minute zuckt der kleine Fisch nur noch gelegentlich, bis er schließlich regungslos auf dem Stein des Kais liegenbleibt.
Manuel zündet sich eine Zigarette an und blickt auf die Strandmeile, die von grauen und weißen mehrstöckigen Gebäuden aus Beton gesäumt ist. Die dahinter liegenden kahlen Berge sind mit weißen und braunen Häusern bebaut, sie wirken irgendwie fad. »Vor 40 Jahren war das hier ein Fischerdorf. Alle diese Häuser und die Asphaltstraße gab es noch nicht. Als ich hierhin kam, gab es nur einen Weg, der durch Feuchtgebiete von den Bergen zum Strand führte«, erzählt er. Die Berge seien mit Pinien bewaldet gewesen. Mit dem Ausbau der Fischfangflotte seien diese Wälder für den Schiffbau abgeholzt worden, so Manuel weiter. Und zwar noch bevor in den sechziger Jahren immer mehr Touristen hierhin kamen, für die massenweise Hotels gebaut worden seien. »Leider aber hat kaum jemand von den Menschen, die hier leben, Interesse daran, die Natur hier zu erhalten«, fügt er nüchtern hinzu.
Antonio hat es sich erneut in seinem Klappstuhl bequem gemacht und schaut hinüber zur Insel Tabarka. »Wenn ich aufs Meer gucke, vergesse ich alles um mich herum«, sagt er. Manuel tritt von einem Fuß auf den anderen und guckt auf seine Uhr. »Es ist schon zwölf Uhr. Ich muss jetzt los«, sagt er, verabschiedet sich und läuft langsam in der Mittagssonne den Kai herunter.

Das einstige Naturparadies um Santa Pola ist bereits zu einem Teil zerstört. Die Touristen, die hier im Sommer in Massen kommen, werden diesen schleichenden Prozess kaum bemerken. Die feinen Sandstrände, die Salzlagunen, die Insel Tabarka und das Kap Santa Pola bieten ihnen immer noch einen hohen Freizeitwert. Im Gegensatz zu den Touristenhochburgen Benidorm und Torrevieja kommen in die alicantische Ortschaft eher einheimische Touristen. Das einzige Naturschutzgebiet ist das Feuchtgebiet bei den Salzlagunen am Ortsausgang. Der malerische Naturpark Salinas del Braç al Port umfasst eine Fläche von etwa 2 500 Hektar. Obwohl er direkt an der stark befahrenen Küstenstraße liegt, ist das Biotop immer noch ein Refugium für Flamingos und Reiher. Mit etwas Glück kann man die rosafarbenen Vögel zwischen den Salinen und Salicornias, Pflanzen mit den aufrecht stehenden fleischigen Stengeln, beobachten, wie sie nach Salinenkrebsen und Froschlurchen suchen. Aus den Salinen wird immer noch Salz gewonnen, wovon die große Salzberge am Ortsausgang von Santa Pola zeugen.
Zwischen 1950 und 1973 war Santa Pola einer der wichtigsten Fischereihäfen des Mittelmeerraums. Hierhin wurde frischer Fisch aus den Fanggründen des Mittelmeeres und des atlantischen Ozeans geliefert. Von den 130 Fischern, die hier lebten, waren zu dieser Zeit 90 Prozent Hochseefischer, die mit großen Schleppnetzen auf Fischfang gingen. Seitdem ist der Fischfang stark zurückgegangen. Die kleine Hafenstadt ist nun vom Tourismus abhängig. An dem historischen Hafen liegen heute vor allem Ausflugsschiffe, die Touristen zur Insel Tabarka bringen.
Bekannt ist der Hafen von Santa Pola aber nicht nur wegen seiner ausgeprägten Fischertradition, sondern auch wegen seiner Flüchtlingsgeschichte. Die Küste von Algerien liegt 295 Kilometer entfernt. Als die Truppen von General Francisco Franco 1938, gegen Ende des spanischen Bürgerkrieges, von Almeria aus in Richtung Alicante vordrangen und Mussolinis Truppen vom Norden Jagd auf Republikaner, Anarchisten und Kommunisten machten, flohen Tausende von hier aus vor den Faschisten nach Algerien. Vom Hafen von Alicante flüchteten sich weitere Tausende in letzter Hoffnung auf den englischen Fischkutter Stanbrook, der sie nach Oran in Algerien brachte. »Als das Schiff ablegte, fielen Bomben auf den Hafen. Das waren die Italiener«, erzählte ein Zeitzeuge, der Priester Helia, 2012 der spanischen Zeitung Público. Als das Schiff in Oran anlegte, verweigerte das französische Kolonialregime den Geflüchteten einen Monat lang den Zutritt zum Land. So mussten sie an Bord des Schiffs ausharren und überlebten nur, weil sie vom Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen versorgt wurden. Als sie schließlich das Land betreten durften, wurden sie, anders als viele Flüchtlinge aus Afrika, die heutzutage in Santa Pola und Alicante stranden, von der algerischen Bevölkerung herzlich aufgenommen und bilden bis heute in Oran eine wichtige Diaspora.

Die Gegend um Santa Pola war schon immer ein Ort innerspanischer und internationaler Migration. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kamen viele Spanier aus dem Norden und Algerier hierher, um in der Fischereiindustrie zu arbeiten. Im Jahr 2008 stammte ein Viertel der Bevölkerung von Santa Pola aus dem Ausland. Hier und in den umliegenden Gemeinden leben heutzutage viele afrikanische Flüchtlinge, vor allem Nigerianer und Gambier, sowie Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Der Großteil von ihnen ist mit untauglichen Schlepperbooten hierhergekommen. Nur wenige dieser auf dem Meer treibenden Nussschalen werden von Fischerbooten gerettet.
2007 rettete José Durán aus Santa Pola mit seinem Fischkutter »Pesquero y Catalina« 51 Flüchtlinge, darunter zehn Frauen und ein Kind, aus dem Meer. Sein Schiff wurde eine Woche in Malta festgehalten, während Spanien, Algerien und Malta darüber stritten, wer die Flüchtlinge aufnehmen müsse. Auf die Frage, ob er dies – trotz der ökonomischen Einbußen und der jahrelangen Gerichtsprozesse infolge der Rettung – wieder tun würde, sagte er gegenüber dem UNHCR: »Ich würde es wieder tun. Ohne Zweifel. Wenn ich einer von ihnen wäre, würde ich nicht wollen, dass ein Schiff an mir vorbeifährt, ohne mir zu helfen.« Wegen der drohenden Gerichtsverfahren trauen sich aber immer weniger Fischer, Flüchtlinge zu retten. Nach ihrer Ankunft werden Flüchtlinge ohne Papiere häufig aufgegriffen und in das Abschiebegefängnis, ein sogenanntes Centro de Internamiento de Extranjeros (CIE), in Zapateros bei Valencia gebracht. Diese Einrichtungen sind für die unzumutbaren Lebensbedingungen aufgrund von fehlender Warmwasserversorgung, fehlender Ausstattung mit warmer Kleidung, unzureichender Essensversorgung und Wanzenplagen sowie für zahlreiche Menschenrechtsverstöße bekannt.
In ihrem Bericht vom März dieses Jahres berichtet die Flüchtlingsorganisation Campana para el Cierre de los Centros de Internamiento de Extranjeros (CIEsNO) von mehr als 50 Fällen von Misshandlung und Folter durch Polizeibeamte in Zapateros, von denen sich einige derzeit vor Gericht verantworten müssen.
In Santa Pola sind auch die Touristen den Flüchtlingen nicht immer wohlgesinnt: »Das hier war mal eine schöne Gegend, aber in letzter Zeit scheint sie eher eine afghanische Wüste mit vielen Flüchtlingen zu sein, als ein schöner mediterraner Strandort«, schreibt eine Touristin auf der Internetplattform Rentalia. Auf der Fähre von der Insel Tabarka zurück nach Santa Pola erzählt ein Ehepaar aus Madrid, Flüchtlinge hätten hier mehr Rechte als Spanier. Sie würden von Sozialleistungen und den Steuergeldern der Spanier leben, denen es wirtschaftlich schlecht gehe.

Gegenüber der Anlegestelle der Ausflugsboote steht Babacar rauchend vor einer Bar. Der Gambier um die 30 lebt bereits seit zehn Jahren in Elche, der wirtschaftlich wichtigsten Stadt in der Nähe von Santa Pola. Jahrelang hat er für wenig Geld am Hafen von Santa Pola gearbeitet. Später jobbte er auf Fischkuttern, stets für geringen Lohn. »Den Mindestlohn habe ich nie bekommen, obwohl er gesetzlich festgeschrieben ist. Immerhin bin ich aber entsprechend der Menge an Fisch bezahlt worden, die ich gefangen habe«, erzählt er. Das Meer sei sein Leben, denn auch in Gambia sei er in einer Hafenstadt aufgewachsen. »Bereits mit zehn Jahren bin ich mit meinem Vater zum Fischen rausgefahren«, erinnert er sich und schaut auf das Meer. Für einen kurzen Moment glänzen seine Augen. Dann aber kehrt sein abgeklärter Gesichtsaudruck zurück. »Gehen Sie mal aus dem Weg. Ich brauche Platz«, brüllt eine Frau, die eine ältere Dame im Rollstuhl schiebt. Babacar springt schnell zur Seite, bevor die Räder des Rollstuhls seine Füße überrollen. »Die älteren Menschen hier sind fast nie gereist«, sagt Babacar, »viele sind sogar noch nie in Alicante oder Valencia gewesen, obwohl diese Städte nur wenige Kilometer von Santa Pola entfernt liegen.« Deshalb seien einige hier sehr verschlossen. Drastische Erfahrungen machte Babacar in seiner Wohnung in der nahe gelegenen Stadt Elche. 14jährige Mädchen, die im gegenüberliegenden Haus wohnen, hätten am Silvesterabend Wasser auf den Balkon der Wohnung geschüttet, in der er mit seinen Freunden lebt, berichtet er. Daraufhin hätten er und seine Freunde die Polizei gerufen. Die Mutter der Mädchen leugnete Babacar zufolge aber gegenüber der Polizei, Kinder zu haben. Erst nachdem die Mädchen bereits zum dritten Mal Wasser in ihre Wohnung geschüttet hatten, hätten Polizisten die beiden Mädchen bei einer Streife aufgegriffen und mit auf die Wache genommen. Nun würde das nicht noch einmal vorkommen, so Babacar. Aber er wolle hier weg, »nach Schweden oder zurück nach Gambia«, sagt er und lächelt. Eine Straßenecke weiter steht Mohamed aus Nigeria vor einem Supermarkt. Nein, er brauche kein Geld, denn heute habe er bereits etwas gegessen, sagt er.