Was über Günter Grass gesagt werden muss

Es tickt immer noch

Am 13. April ist Günter Grass im Alter von 87 Jahren in Lübeck gestorben.

Es war nicht verwunderlich, dass viele, die sich in den vergangenen Wochen zu Günter Grass äußerten, einen großen Teil seines Werks nur vom Hörensagen kannten. Interessant war allerdings, dass sie vor allem die Bücher kannten, die vor den achtziger Jahren erschienen waren, und dass sie über das jüngere Werk des Autors nur noch in Leerformeln sprechen konnten.
Dabei gibt gerade der Ort, an dem im März dieses Jahres einer seiner letzten Texte zu Lebzeiten erschienen ist, Aufschluss über Grass, er ist dort in seinen Stärken wie in seinen Schwächen erkennbar. Es ist der erste Band von »Freipass. Schriften der Günter und Ute Grass Stiftung«, herausgegeben von Volker Neuhaus, Per Øhrgaard und Jörg-Philipp Thomsa.
Eröffnet wird das Periodikum mit Berichten »Aus der Werkstatt«. Und bevor Saša Stanišić einen Text präsentiert, den er nicht mehr in seinem Roman »Vor dem Fest« hat unterbringen können, ist es selbstredend der Nobelpreisträger selbst, der unter dem Titel »Was nicht geschrieben wurde« ein Gedicht über Subhash Chandra Bose abliefert, »dessen Strophenfall die schwarze Göttin Kali diktierte«.
Bose, den man auch »Netaji«, also »Führer«, oder, so behauptet es Grass, »Führerlein« nannte, bildete mit Hilfe der Nazis um 1942 eine »Indische Legion«, die formell der Waffen-SS unterstellt war. In Kalkutta, wo Grass sich mehrfach aufhielt (was er in seinem schrecklichen Buch »Zunge zeigen« auch in Text und Bild dokumentierte), wird Bose sehr verehrt. Grass nun, schreibt Grass, wollte ihm ein Theaterstück oder einen Roman widmen, sammelte immer wieder Material dafür, aber: »Daraus wurde nichts. Doch immer noch tickt, was nie zu Papier kam.« (In diesem letzten Satz ist Grassens Sprachkunst zur Gänze enthalten). So blieb es bei dem Langgedicht »Netajis Weltreise«. Darin wird Boses Leben nacherzählt und Gandhi als Widerpart und »dürrer Guru« beschrieben: Boses Reisen durch die Welt und nach Deutschland, die Briten (»die khakifarbenen Herrn«) und der Kampf gegen ihre »wohlgenährten Bataillone«, dann schließlich Boses mutmaßlicher Tod im August 1945. Da »war Japans Sonne schon im Pazifik versunken,/weil atomare Pilze, zwei,/bewiesen hatten, wie total/der Zukunft Zukunft heißen wird.« Das Gedicht schließt mit Mahnung und Warnung: »Doch heut noch lebt er in Bengalen als Legende./Erzählt und auch besungen wird/das Wunder seiner Wiederkehr./Denn frisch geblieben ist der Wahn,/der ihn weltweit getrieben,/Stets sucht er Auslauf, findet neue Bahn.«
Somit ist Grass, der als Lyriker debütierte, mit einem Gedicht abgetreten. Ein anderes hatte er wenige Jahre zuvor bekanntlich »mit letzter Tinte« verfasst, und seine Projektionen auf Israel brachten ihn seinerzeit weltweit in die Schlagzeilen. Im kommenden Monat wird sein letztes Buch erscheinen, »Vonne Endlichkait« wird es heißen, es soll eine Mischung aus Prosa und Poesie bieten.
Grass war für seine Prosa berühmt – für die ersten beiden Bände seiner späteren »Danziger Trilogie«, für den Roman »Die Blechtrommel« und die Novelle »Katz und Maus«. Schon dem dritten Band »Hundejahre« begegneten viele mit Skepsis, sein Roman »Örtlich betäubt« von 1969 wurde verrissen, sein »Tagebuch einer Schnecke« von 1972 wird selbst schwer Schlafgestörten als hervorragende Schlummerhilfe dienen können. Sein »Butt« und das »Treffen in Telgte« wurden wohlwollender aufgenommen, der Roman »Ein weites Feld« löste zu Recht Entsetzen aus, »Mein Jahrhundert« von 1999 ist nur noch vermessen, das Textungetüm »Im Krebsgang« schließlich restlos misslungen. Die späten autobiographischen Schriften »Beim Häuten der Zwiebel«, »Die Box« und »Grimms Wörter« sind dann ganz der Grass’schen Selbstvergottung gewidmet.
Als bildender Künstler ist Grass immer nur Teil der sogenannten Kreuzberger Malerpoeten geblieben, die sich in den sechziger Jahren um die Galerie Zinke sammelten. Er war vielleicht einer ihrer talentiertesten. Grass wusste darum, er hielt viele Jahre, als die anderen noch lebten, Abstand zu ihnen. Nach dem Ableben der meisten Kollegen bekannte er sich jedoch, wenn auch in der Haltung eines primus inter pares, zu seinen Wurzeln.
Doch zurück zu »Freipass«. Den Werkstatttexten folgt ein Schwerpunktteil, der Irmtraud Morgner gewidmet ist, da sich Grass immer wieder um Autorenförderung bemühte. Im Anschluss wird der globalen Grass-Rezeption und -Forschung Raum gegeben, auch die diversen Grass-Archive müssen berichten. Und abschließend werden unter dem Titel »›Zunge zeigen‹: der NSA-Skandal und die Folgen … « Texte von Eugen Ruge, Juli Zeh und Steffen Kopetzky zum Thema versammelt – damit soll wohl auch Grassens eigenes politisches Engagement gewürdigt werden. Und das, obschon Grass selbst in seinen Begleitworten zum oben zitierten Gedicht behauptet, dass die Göttin Kali auf Bildern stets die Zunge zeige, »was Scham bedeuten soll«.
In diesem Schriftenband geht alles durch­einander. Dieter Stolz geißelt dort unter dem Titel »Mein Grass« die, die Grass kritisieren, dann wiederum wird der verdienten Kollegin Morgner gedacht, schließlich darf mit Juli Zeh jener Typus von lauter Selbstdarstellerin zu Wort kommen, in dem Grass mutmaßlich sowohl »Jugend« als auch seine »Schule« verkörpert sah. Und er selbst bietet schelmisch ein Gedicht über jemanden, der mit der Waffen-SS kungelte und Höheres im Sinn hatte, und dabei soll man wohl an den 17jährigen Grass denken, der aus Verblendung in die SS eintrat.
Dass er ein Demokrat war, hat er bewiesen. Dass er in seiner ungewöhnlich großen Eitelkeit nicht verstehen wollte, dass man »die Juden« nicht einfach so mit Israel gleichsetzen kann und dass es gerade ihm nicht zustand, Israel seine Politik vorzuwerfen, ändert nichts daran, dass Grass nach 1946 ein Antifaschist war. Auch spricht es für ihn, dass Salman Rush­die, John Irving oder Elfriede Jelinek ernsthaft um ihn trauern. Offenkundig hatte er, auch mit seinen schlechten Büchern, großen Einfluss auf Kolleginnen und Kollegen. In den Nachrufen, die nicht despektierlich waren, wohl aber ungewöhnlich kritisch, war immer wieder zu lesen, dass mit ihm, dem ewigen Sozialdemokraten, der »engagierte Schriftsteller« als solcher ausgestorben sei, was selbstredend Quatsch ist.
Grass zeigte mindestens einmal anderes als billigen Mut: Er, dessen Frühwerk als Aufstand gegen den Mief der fünfziger Jahre gelesen werden kann und der tatsächlich Anteil hatte am Erfolg der SPD in den sechziger Jahren (und an deren Verdammung der Studentenrevolte), wusste, schuldbeladen wie er war, 1989 instinktiv, dass ein wiedervereinigtes Deutschland gefährlich sein würde. Er glaubte nun, mit Hilfe seines Ruhmes die Wiedervereinigung abwenden zu können. Er wusste, dass »Deutschland denken« eben auch immer »Auschwitz denken« heißt. Er trat aus der geliebten SPD aus, als diese dem »Asylkompromiss« zustimmte. Das alles in der Hoffnung, Dinge verhindern zu können. Doch das konnte er nicht. Das wiederum konnte er nicht akzeptieren. Nun stellte er sich nicht mehr so in den Wind. Auch dieser Mensch, der da vor 25 Jahren Dinge begriff, war Grass.