Davi Amorim und Maíra Alves im Gespräch über soziale Ungleichheit in Brasilien

»Immer noch große soziale Ungleichheit«

Im Zuge des neusten Korruptionsskandals um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras kam es Mitte März in Brasilien zu Massenprotesten gegen die Regierung von Dilma Rousseff (siehe Seite 12). Es handelt sich um die größten Demonstrationen seit den Protesten von 2013 und 2014. Damals richteten sie sich teilweise auch gegen Korruption der Regierung, es gingen aber vor allem Mitglieder sozialer Bewegungen und linker Parteien mit konkreten Forderungen auf die Straße. Über die Entwicklungen seit den damaligen Protesten und die Unterschiede zu den heutigen sprach die Jungle World mit Davi Amorim, dem Pressesprecher der Müllsammlerbewegung MNCR, und mit Maíra Alves von der »Bewegung für einen kostenlosen Nahverkehr« in São Paulo, dem Movimento Passe Livre (MPL), der die Proteste 2013/2014 maßgeblich organisiert hat.

»Dilma raus«, »Amtsenthebung für Rousseff« – mit diesen Slogans haben am 15. März mehr als eine Million Menschen in Brasilien gegen die Regierung protestiert. Sie werfen ihr Korruption vor. Wer sind die Menschen, die auf die Straße gegangen sind?
Amorim: Es handelt sich größtenteils um Angehörige der brasilianischen Mittel- und Oberklasse. Sie haben nicht die Arbeiterpartei PT gewählt und sehen sich von der wirtschaftlichen Krise beeinträchtigt, weil der Benzinpreis gestiegen ist. Dies hat – zusammen mit dem Ausbleiben von Regen – die Kosten für Energie und Wasser in die Höhe getrieben. Einige der Organisationen, die zu den Demonstrationen aufriefen, werden von großen nordamerikanischen Firmen finanziert, die sich für die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Institutionen stark machen, wie etwa die Bewegung »freies Brasilien«, die mit dem Institute for Humane Studies verbunden ist oder die Organisation Students for Liberty, die von den Gebrüdern Koch, den Besitzern des zweitgrößten US-Konzerns, finanziert wird. Zu den Organisatoren dieser Demonstrationen gehören auch Personen, die der Partei PSDB nahestehen, etwa die Bewegung »Komm auf die Straße«.
Bereits 2013 kam es zu zahlreichen Demons­trationen in ganz Brasilien, an denen Millionen Menschen teilnahmen. Was trieb die Menschen damals auf die Straße?
Amorim: Der Anlass war die Erhöhung der Fahrpreise. Die Bewegung Movimento Passe Livre (MPL) gibt es zwar schon länger, aber die Fahrpreiserhöhung im Bundesstaat São Paulo brachte das Fass zum Überlaufen. Im Juni 2013 fand eine riesige Demonstration in São Paulo statt, bei der die Polizei gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorging. Dies führte zu solidarischen Protesten in ganz Brasilien. Daran beteiligten sich unter anderem Gewerkschaften, soziale Bewegungen aus der Peripherie sowie Bewegungen von Wohnungslosen, Schwarzen und Frauen. Auch die Proteste gegen Zwangsräumungen und andere Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Fußballweltmeisterschaft in Rio de Janeiro erhielten dadurch neuen Auftrieb.
Alves: Unsere Arbeit findet jeden Tag statt, nur gewinnt sie, wenn es zu Fahrpreiserhöhungen kommt, an Sichtbarkeit, weil wir dann größere Aktionen organisieren. Zu den Massenprotesten 2013/14 kam es infolge jahrelanger Arbeit in Schulen, der Organisation in Stadtvierteln und aufgrund der Zusammenarbeit mit anderen sozialen Bewegungen. Ein Teil der brasilianischen Presse hatte unsere Bewegung vorher vollkommen ignoriert. Die Dynamik der Proteste 2013/14 wurde so dargestellt, als sei der MPL vollkommen spontan entstanden, um unsere Forderungen zu diskreditieren und der Bevölkerung vorzuenthalten, dass es Organisation braucht, um Rechte einzufordern.
Was forderten die Demonstrierenden?
Amorim: Natürlich ging es nicht nur um die
Erhöhung des Fahrpreises und die Forderung nach kostenlosem öffentlichen Nahverkehr. Die Demonstrierenden wollten sich ihre Stadt aneignen, den öffentlichen Raum besetzen, sie wandten sich gegen Immobilienspekulation und Polizeigewalt in der urbanen Peripherie. Der Druck auf die Regierung Dilma Rousseff ist in den vergangenen zwei Jahren erheblich gewachsen, aber auch der auf die Regierungen der Bundesstaaten. Die Menschen fordern stärker ihre Rechte ein.
Warum setzen Sie sich für einen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr ein?
Alves: Wir vertreten die Auffassung, dass der Transport von Personen ein Recht der gesamten Bevölkerung ist. Wir fordern, dass in Bussen und Zügen keine Gebühren mehr verlangt werden, sondern dass diese Kosten von denen übernommen werden, die die Arbeitenden ausbeuten und die höchsten Einnahmen in der Stadt erzielen. Die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr müssen vom Staat über progressive Steuern erhoben werden, die die Bestverdienenden am stärksten belasten. Denn allein in São Paulo verfügt ein Prozent der Bevölkerung über 20 Prozent des Reichtums, der in der Stadt produziert wird. Unser Hauptanliegen ist nicht der Kampf gegen die Erhöhung des Fahrpreises. Da aber jede Erhöhung den sozialen Ausschluss verschärft, gehen wir auch gegen Fahrpreiserhöhungen auf die Straße. Denn solange Gebühren von den Nutzerinnen und Nutzern des öffentlichen Nahverkehrs verlangt werden, besteht dessen Zweck nicht in der Versorgung der Bevölkerung, sondern im Erzielen eines Profits durch Unternehmen und öffentliche Institutionen.
Ihre Bewegung entstand 2005 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre. Wer hat den MPL gegründet und wie arbeiten Sie?
Alves: Es waren Einzelpersonen und Kollektive aus verschiedenen Städten, die sich über die prekäre Situation des öffentlichen Nahverkehrs und die Höhe der Fahrtkosten empörten. In São Paulo gehören der Bewegung Schüler, Studierende und Arbeitende aus verschiedenen Vierteln an. Kennzeichnend für unsere Bewegung ist, dass wir davon überzeugt sind, dass nur durch eine unabhängige Organisation der Bevölkerung Veränderungen in der Gesellschaft erreicht werden können. Deshalb organisieren wir öffentliche Anhörungen, Debatten und Demonstrationen. 2013/14 haben wir Versammlungen in den Vierteln Marsilac in der Südzone und Novo Horizonte in der Ostzone von São Paulo organisiert, in denen Buslinien ersatzlos gestrichen worden waren. Dabei haben wir gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern ein Konzept zur Gestaltung und Organisation des öffentlichen Nahverkehrs in ihren Vierteln erarbeitet.
Zu Beginn der Präsidentschaft von Luiz Inácio Lula da Silva gab es einen starken Dialog mit den sozialen Bewegungen, der aber in Folge zahlreicher Konflikte abnahm. Was hat sich seit der Präsidentschaft von Dilma Rousseff am Verhältnis des Staats zu den sozialen Bewegungen geändert?
Amorim: Die Regierung von Dilma hat sich stark von den sozialen Bewegungen distanziert, das liegt an ihrem Regierungsstil. Und heute gibt es keine linke Partei mehr, die die Forderungen der sozialen Bewegungen repräsentiert.
Alves: Seit 2013 sind soziale Bewegungen entstanden, die einem neuen Konzept folgen. Sie kooperieren nicht mit dem Staat, sondern organisieren sich direkt und unabhängig. Der Kampf gegen die Erhöhung des Fahrpreises 2013/14 hat gezeigt, dass Verhandlungen mit Repräsentanten der lokalen Regierung und staatlichen Institutionen hinter verschlossenen Türen nicht der beste Weg sind, um voranzukommen und hinsichtlich der Forderungen der sozialen Bewegungen Erfolge zu erringen. Die Vertreter der staatlichen Institutionen können mit der neuen Dynamik der sozialen Bewegungen nicht umgehen.
Welche Rolle haben rechte und nationalistische Bewegungen bei den Massenprotesten 2013/14 gespielt?
Amorim: Sie nahmen zwar an den Protesten teil, waren aber keine Protagonisten. Sie forderten Veränderungen, ohne aber konkrete Vorschläge zu machen. In der Menge gingen sie nicht soweit, antidemokratische Fahnen hochzuhalten, aber sie griffen Vertreterinnen und Vertreter linker Parteien und sozialer Bewegungen verbal und sogar körperlich an, warfen Molotov-Cocktails und verbrannten Fahnen linker Parteien.
Wie unterscheiden sich diese Massenproteste von denen 2013/14?
Amorim: An den Märschen 2013/14 nahmen viel mehr Jugendliche teil. Es gab konstruktive Forderungen und es wurde ein toleranter und aus meiner Sicht intelligenterer Kurs gefahren. Bei den Demonstrationen vom vorvergangenen Sonntag nahmen mehr ältere Menschen der Mittelklasse teil, die Forderungen waren nicht klar formuliert und vage. Zum Beispiel wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff gefordert, aber ohne dass klar gesagt wurde, wer dann die Macht übernehmen soll. Die Demonstrierenden schienen auch uneins in der Bewertung der Militärdiktatur und der Rolle, die das Militär in Brasilien spielen soll. So formten sie eine Masse, die nicht dieselbe Sprache spricht. Aber der Hass auf die Politiker war deutlich zu spüren. So ziellos, wie er auf dieser Demonstration war, führt das aber zu nichts weiter als Gewalt.
Wie hat sich die soziale Ungleichheit in Brasilien entwickelt?
Alves: Strukturell hat sich nicht viel geändert. Das Land verzeichnet immer noch eine große soziale Ungleichheit und die Ausgabenpolitik der kommunalen, staatlichen und bundesstaatlichen Institutionen ist skandalös, was das Problem der Verschuldung der öffentlichen Haushalte verschärft. Die geringen staatlichen Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr verstärken die soziale Ausgrenzung. Zahlen des Instituts für angewandte wirtschaftliche Studien Ipea von 2011 zufolge investiert der brasilianische Staat elfmal mehr in den Individualverkehr als in den öffentlichen Nahverkehr.
Und wie geht es nun weiter?
Alves: Wir werden uns weiterhin in unseren Vierteln organisieren und einen Personentransport fordern, der der Bevölkerung zugutekommt. 2015 bekommen die Busunternehmen, die für die Stadtverwaltung von São Paulo arbeiten, eine neue Lizenz. 2013 hatte die Stadtverwaltung diese Lizenz bereits öffentlich ausgeschrieben, sie aber infolge des sozialen Drucks zurückgezogen. Wir wissen noch nicht, welche Auswirkungen die neue Lizenz auf den öffentlichen Nahverkehr haben wird. Wenn es so eine wie 2013 ist, bringt sie einen großen Nachteil mit sich, denn sie funktioniert nach dem Prinzip der Vergütung pro Passagier. Je mehr Passagiere, desto mehr Einnahmen. Wir sind gegen dieses Prinzip, denn es führt zu einer erheblichen Verschlechterung der Bedingungen im öffentlichen Nahverkehr und erhöht lediglich die Einnahmen der Busunternehmen.