Berlin und seine Identitätskrise

Hype und Hysterie

Nach zwei Verrissen der Berliner Techno-Diskothek Berghain im amerikanischen Rolling Stone und der New York Times behauptete Ende Februar das New Yorker Blog »Gawker«, der globale Berlin-Boom sei endgültig vorbei. Die Debatte hat auch die deutschen Feuilletons und die Berliner Stadtmedien ergriffen. Das könnte Folgen haben.

Das gibt es wahrscheinlich nur in Berlin. Eine amerikanische Klatsch-Homepage veröffentlicht einen kleinen, spöttischen Text, recherchefrei und lediglich fünf kurze Absätze lang, mit der Überschrift: »Berlin is over. What’s next?«, eine Art metadiskursiver Antwortartikel auf die vielen hundert Berlin-Hype-Texte, die in den vergangenen Jahren überall auf der Welt und besonders in den USA erschienen sind. Und in Berlin bricht die große Identitätskrise aus. Die großen Zeitungen bringen besorgte Artikel, die Mitglieder der sozialen Netzwerke spielen verrückt, das Abgeordnetenhaus kommt zu einer Sondersitzung zusammen. Wie kann es sein? Was kann die Politik tun? Wie kriegen wir bloß unsere Coolness zurück?
Okay, das mit dem Abgeordnetenhaus stimmt nicht. Aber möglich wäre es. Das Berliner Wachstum der vergangenen Jahre basierte auf dem Berlin-Hype. Die Wirtschaft wuchs, weil die Besucher viel Geld in die Stadt spülten, 11,3 Millionen Touristen waren es im Jahr 2013, das ist eine Steigerung um 4,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr, jeder wird mindestens einige hundert Euro hier gelassen haben. Die Besucher kamen vor allem wegen des Rufs der Stadt als hippste Metropole. Und die Bevölkerung wächst nach Jahren des Schrumpfens, weil einige die Stadt so sehr mögen, dass sie sie nicht nur besuchen, sondern bleiben. Erst im vergangenen Herbst hat der Senat seine Prognose verkündet, dass Berlin bis zum Jahr 2030 auf 3,75 Millionen Einwohner wachsen wird. Im Augenblick sind es 3,4 Millionen. Nach solchen Zahlen werden die Planungen für Infrastruktur und Wohnungsbau ausgerichtet. Das soll alles schon wieder hinfällig sein? Da könnte sich ein Regionalparlament schon mal zusammen setzen.

Berlin ist eine hysterische Stadt. Der Wunsch, als Weltstadt von anderen Weltstädten wahr- und ernst genommen zu werden, ist so alt wie unerfüllt. Die Angst, dass es auch jetzt wieder nicht klappen könnte mit der Anerkennung, dass ausgerechnet die Felder, in denen man sich ganz sicher auf Weltniveau glaubte, das Nachtleben und die Hipness nämlich, auf einmal nicht mehr als so attraktiv angesehen werden wie gedacht, ist tief verwurzelt.
Zu Recht. Denn Berlin hat eben nicht viel anderes. Kein Dax-Unternehmen hat seinen Hauptsitz mehr in der Hauptstadt, seit Bayer vor einigen Jahren Schering übernommen hat. Der deutsche Maschinenbau, die Chemie- und die Autokonzerne, all die Branchen, mit denen Deutschland den Weltmarkt versorgt, haben ihre Zentralen woanders. Berlin hat die Politik, den Tourismus und die Nischenkulturen. Mehr nicht.
Wenn man so will, ist es die Hauptstadt der Spekulation. Denn die Hipness, die bevorzugte Wissensform der Nischenkultur, ist die Reinform der Spekulation: die Wette auf das coole Wissen. Und hinter Hipness stecken keine realen Werte. Nur die Hoffnung darauf, solche Werte kämen irgendwann hinterher. Da ist es nicht unbedingt hysterisch, sondern im Grunde ziemlich vernünftig, mit dem Absturz zu rechnen.

Diese Berliner Fragilität hat auch ihre guten Seiten. Es gab seit dem Mauerfall einige Versuche, der Stadt eine Identität zu verpassen. Nichts davon hat geklappt. Berlin ist nicht preußisch geworden, wie es einige Konservative gerne gehabt hätten, trotz der Entscheidung für den Wiederaufbau des Stadtschlosses. Berlin ist auch nicht ordentlicher geworden, trotz des Regierungsumzugs. Berlin ist nicht das deutsche Tor nach Osten geworden, weder im Selbstbild der Stadt noch in der Handelsbilanz. Und selbst das Laboratorium der Einheit, was auch immer man sich darunter vorstellen sollte, kann man in Berlin lange suchen. Ost und West leben gut nebeneinander her. Mehr aber auch nicht.
Wenn die Stadt einen identitären Kern hat, findet er sich dort, wo ihn noch vor einigen Jahren niemand vermutet hätte. 1987 machte der damalige Bürgermeister Eberhard Diepgen hinter den Krawallen um eine IWF-Tagung die berühmten »Anti-Berliner« aus und beschrieb damit sehr passgenau den Konflikt, der Westberlin prägte. Auf der einen Seite die Zugezogenen, die auf der Suche nach einem anderen Lebensentwurf waren. Auf der anderen Seite die Alteingesessenen; Menschen, die glauben, das mit dem anderen Leben sollte man besser bleiben lassen. Hipster und Spießer. Heute kann man sagen: Die Anti-Berliner haben gewonnen. Wenn Berlin heute ein Selbstbild hat, dann das der Selbstverwirklichungsmetropole. Als die Stadt der Freiräume, die Menschen die Möglichkeit gibt, sich selbst zu finden.

Das hängt natürlich damit zusammen, dass die Stadt im Vergleich zu anderen Metropolen immer noch stark untermedialisiert ist. Anders als Paris, London, New York oder Los Angeles verbinden sich nur wenige große Geschichten mit Berlin, die wieder und wieder neu interpretiert und erzählt werden können. Ja, es gibt den Zweiten Weltkrieg und die Teilung, die Weimarer Republik und die Nazis. Aber das ist alles Vergangenheit, das sind Geschichten, die sich nur schwer in die Gegenwart fortschreiben lassen, wenn man Anfang 20 ist und aus Mailand oder Avignon hierherzieht.
Die sofort erkennbaren Filmbilder, Romanszenen oder Videoclipsequenzen fehlen in Berlin, das Gefühl der medialen Vertrautheit, das andere Metropolen ihren Besuchern geben. Berlin lockt mit etwas anderem: Die Stadt lädt dazu ein, sich selbst ein Bild zu machen. Mehr noch, sie suggeriert mit ziemlicher Überzeugungskraft, dass man in Berlin eben nicht nur Zuschauer und Besucher sein kann, sondern selbst aktiver Teil. Diese Stadt ist noch nicht auserzählt, so lautet dieses Versprechen: Du kannst noch mitschreiben, deine Geschichte in die Stadt einschreiben, die Stadt dadurch verändern. Das ist auch der Kern der »Be Berlin«-Kampagne, mit der die städtische Berlin-Tourismus-Marketing-Agentur überall auf der Welt wirbt. Es ist so leicht wie dumm, sich darüber lustig zu machen. Sie funktioniert nämlich nicht nur, sie transportiert eben auch ein Moment der Wahrheit.

Natürlich ist der Anteil des Senats an dieser Entwicklung denkbar gering. Die Nischenkulturen der Stadt blühen nicht, weil irgendeine Agentur dies geplant hätte, sondern weil viele Akteure es durchgesetzt haben – gegen die offizielle Stadt, oder zumindest an ihren Institutionen vorbei. Das Beste, was eine Verwaltung tun kann, wenn sie eine solche Entwicklung befördern möchte, ist nichts. Die Dinge laufen lassen und sich nicht einmischen.
Aber nur weil es eine Weile so ging, muss es nicht so bleiben. Die Stadt der Nischenkulturen, der Selbstverwirklichung und des sozialen Experiments ist ja ein Ergebnis der historischen Ausnahmesituation. Der Westteil der Stadt zog seit den sechziger Jahren vor allem die Leute an, die andere Pläne mit ihrem Leben hatten, als viel Geld zu verdienen. Und die Wende eröffnete im Ostteil Freiräume, die Leute aus Ost wie West suchten und auch fanden. Zudem schien Berlin in den folgenden Jahren ökonomisch zu stagnieren und bot gerade deshalb noch einmal eine Menge offener Räume für Subkulturen.
Das ändert sich nun langsam. Denn ausgerechnet das, was jahrzehntelang der Grund war, von zu Hause wegzugehen und nach Berlin zu ziehen, der Wunsch kreativ zu sein, anstatt die abgesteckten Wege der Angestelltenlaufbahn einzuschlagen, steht heute im Ruf, ein Weg in die Zukunft zu sein. Nichts schätzen Risikokapitalfirmen heute so sehr wie Menschen, die erfolgreich den Eindruck vermitteln können, das zu machen, woran sie wirklich glauben. Menschen, die anders sein wollen, sind ein Standortfaktor geworden.

Die Gentrifizierung in Berlin läuft nach etwas anderen Gesetzen als anderswo. Nach den Künstlern, Clubbetreibern und Internetpionieren kommen eben nicht nur die Immobilienmakler, die die Gegend luxussanieren und an eine wohlhabende Klientel verkaufen wollen. Es kommen auch die Risikofonds-Manager, die glauben, mit der Eigensinnigkeit Berlins ließe sich eine Menge Geld verdienen, wenn man sie nur in die richtigen unternehmerischen Bahnen lenkt. Diese Leute glauben den Hype. Sollte er vorbei sein, sind sie auch recht schnell wieder weg. Und Hypes sind dann vorbei, wenn Leute glauben, dass sie vorbei sind.
Die letzte große Krise gab es übrigens Ende der neunziger Jahre, als die Spekulationsblase der Nachwendejahre platzte. Sie hatte einige gute und einige weniger gute Folgen. Sie riss zum Beispiel die Berliner Landesbank in den Abgrund, dafür zahlen die Steuerzahler noch heute. Sie ließ aber auch Immobilienpreise und Mieten sinken.
Wie wird es nun werden? Der Senat der Stadt scheint sich auf das Gesetz der Wahrscheinlichkeit zu verlassen. Wenn sich einige Zehntausend junge Leute in ein paar Stadtvierteln niederlassen, alle von dem Wunsch beseelt, in dieser Stadt ihr Glück zu finden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass daraus etwas hervorgeht, relativ hoch. Ein paar Unternehmen, eine Branche, irgendetwas Besonderes. Planen lässt es sich nicht. Es kann sein. Es kann aber auch nicht sein.