Die Repression gegen liberale Kräfte in China

Die Partei lässt träumen

Die chinesische Regierung versucht, sich im Kampf gegen die Korruption zu profilieren. Wer sich an selbstorganisierten Bürgerprotesten gegen korrupte Kader beteiligt, muss jedoch mit Verfolgung rechnen. Die Kommunistische Partei setzt lieber auf den autoritären Staat und lässt ihre Kader gemäß der »Massenlinie« erziehen.

Am 28. Oktober begann der Prozess gegen Frau Liu Ping sowie Herrn Wei Zhongping und Li Sihua in der Stadt Xinyu. Sie wurden im April verhaften, nachdem sie auf einem Transparent die Offenlegung der Gehälter der Staatsbeamten gefordert hatten. Wegen »illegaler Versammlung« und »Störung der öffentlichen Sicherheit« drohen ihnen nun bis zu fünf Jahren Haft. Sie sollen Teil der »Neuen Bürgerbewegung« sein, die die Durchsetzung von Verfassung und Rechtsstaat, den Aufbau einer Zivilgesellschaft sowie die Schaffung eines neuen Bewusstseins aller Bürger und Beamten fordert, um den Versuchungen der Korruption zu widerstehen.
Einer ihrer Gründer, der Jurist Xu Zhiyong, ist schon seit Juli wegen »Störung der öffentlichen Ordnung« in Haft. Der Milliardär Wang Gongquan, der die Bewegung auch finanziell unterstützte, wurde im September verhaftet. Wang, der sein Vermögen mit Immobilien und Risikokapital gemacht hat, wurde bekannt durch eine Kampagne zur Gleichstellung der Kinder von Wander­arbeitern mit denen der Stadtbevölkerung bei der zentralen Aufnahmeprüfung für die Universi­täten. Bisher brauchen Abiturienten mit dem Haushaltsregister in Shanghai oder Beijing weniger Punkte, um auf eine Eliteuniversität zu kommen, als die aus den bevölkerungsreichen Provinzen.

Die Parole der Bewegung ist »Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe«. Das zentrale Wort »Bürger« (gongmin) ist in der Handschrift von Sun Yat-Sen geschrieben, der die nationalistische Partei Guomindang (GMD) gründete, auf den sich aber auch die KPCh positiv beruft. Um staatlicher Verfolgung zu entgehen, treffen sich die »neuen Bürger« jeden letzten Samstag im Monat nicht auf der Straße, sondern in Restaurants, um über die Probleme des Landes zu diskutieren.

Der Jurist Xu legte im Mai 2012 in einem Manifest die Ziele der Bewegung dar. Anstatt den Sturz der Partei durch eine gewaltsame Revolution anzustreben, wird die friedliche und schrittweise Umwandlung Chinas in einen Verfassungs- und Rechtsstaat propagiert. In dem bürgerlich-liberalen Manifest wird auch an die Moral der Landsleute appelliert: Der neue Bürger-Arzt nimmt keine Geschenke an, um Operationen durchzuführen, der neue Bürger-Buchhalter fälscht nicht die Abrechnungen, der neue Bürger-Unternehmer beschränkt sich auf einen fairen Wettbewerb auf dem Markt und der neue Bürger-Arbeiter stellt keine gefälschten Markenprodukte mit schlechter Qualität her.
Xu behauptet, dass auch andere sozialen Bewegungen wie Umweltschützer, kritische Blogger und Protestierende gegen den Abriss von Wohnungen oder für Lebensmittelsicherheit Teil der »Neuen Bürgerbewegung« seien. Die Proteste sind weder landesweit koordiniert noch organisatorisch verbunden. Es ist kein Wunder, dass der Staat beim Wort »Bewegung« empfindlich reagiert, weil dieser Begriff mit den Massenbe­wegungen der Ära Maos verbunden ist, die die Partei mittlerweile als Mittel der Politik ablehnt. Der Fall der »Neuen Bürgerbewegung« zeigt, dass auch liberale Kräfte sich um soziale Fragen sorgen, allerdings wird die Schaffung eines wirklichen Rechtsstaats als Allheilmittel gesehen und nicht die Gründung von Gewerkschaften oder Bauernverbänden in den Vordergrund gestellt.
Die Partei bekämpft nicht nur unkontrollierte Proteste gegen Korruption. Viele Beobachter sind sich einig, dass die Regierung unter Xi Jinping, der Präsident und Generalsekretär der KPCh ist, versucht, die Gesellschaft wieder stärker zu kon­trollieren. Im »Dokument Nr. 9« hat das Zentralkomitee im April versucht, die Grenzen der Debatten festzulegen. Folgende Ansichten würden die Legitimation der KPCh in Frage stellen und seien daher zu bekämpfen: die Einführung von Verfassungsdemokratie und Gewaltenteilung, die Propagierung von universellen Werten sowie die Idee der Zivilgesellschaft, die vollständige Privatisierung der Wirtschaft sowie die Infragestellung der staatlichen Führung der Medien. Diese Inhalte sind denen ähnlich, für die die »Neue Bürgerbewegung« eintritt. Es entspricht der na­tionalistischen Rhetorik der Führung um Xi, hinter diesen Ansichten eine Verschwörung des Westens gegen China zu vermuten. In dem Dokument gibt es zugleich auch einige Angriffe auf die alte und neue Linke: Man dürfe nicht behaupten, dass China ein kapitalistisches Land sei und die Reformpolitik grundsätzlich im Gegensatz zu den Ideen Mao Zedongs stehe.

Als entscheidend im Kampf gegen Korruption sieht die Partei die moralische Erziehung der Kader, die sich seit Monaten Lektionen über die »Massenlinie« anhören und an Prüfungen teilnehmen müssen. Hier knüpft Xi an die mao­istische Rhetorik an, der zufolge Kader sich nicht von den Massen entfernen dürften und auf deren Stimmungen achten müssten. Als Übel des Arbeitsstils von Kadern hat die Parteiführung Formalismus, Bürokratismus, Hedonismus und Extravaganz ausgemacht. Wie schon bei Mao Zedong sollen die »Tiger« und »Fliegen« gefasst werden, zu Deutsch: die »großen und kleinen Fische«. Im Oktober wurde zum Beispiel der Bürgermeister der Stadt Nanjing, Ji Jianye, wegen des »Verdachts von Verstößen gegen die Parteidisziplin« des Amtes enthoben. Er soll offiziellen Berichten zufolge eine Summe von umgerechnet über 2,4 Millionen Euro unterschlagen haben.
Wegen der Betonung der »Massenlinie« befürchten einige westliche Beobachter eine Rückkehr zum maoistischen Politikstil. Doch gegen diese These spricht, dass nach den Lehren Maos in ­einem zweiten Schritt die Massen mobilisiert werden müssen, auch zur Kritik und zum Sturz korrupter Kader. Das ist für die heutige Führung undenkbar, weil sie zu sehr um Kontrolle und Stabilität besorgt ist. Es wurden zwar einige staatliche Internetplattformen eingerichtet, auf denen Bürger gegen Beamte Beschwerde einlegen können. Demonstrationen und Kritiksitzungen der »Massen« kommen aber keineswegs in Frage. Die Einheit von Volk und Partei, die mit Hilfe der »Massenlinie« hergestellt werden soll, ist wohl eine Illusion in einer Gesellschaft, in der immer mehr Interessenkonflikte entstehen und offen ausbrechen. Auch wenn die Erziehungsmaßnahmen für die Kader ein Jahr andauern sollen, ist es fraglich, ob die moralische Litanei im Kampf gegen die Korruption helfen wird.
Die Parteiführung setzt aber nicht nur auf Verbote und Strafverfolgung, sondern will der Bevölkerung mit der Parole vom »chinesischen Traum« auch eine positive Vision anbieten. Im Jahr 2021, 100 Jahre nach Gründung der KPCh, soll eine Gesellschaft des »allseitigen bescheidenen Wohlstands« erreicht werden. Bis 2049, wenn 100 Jahre seit der Gründung der Volksrepublik vergangen sein werden, soll der »große Wiederaufstieg der chinesischen Nation« verwirklicht sein, indem China als wirtschaftlich und kulturell voll entwickeltes Land ein zentrales Mitglied einer friedlichen Weltgemeinschaft wird. Die Partei wird wohl auch weiterhin auf ihren Repressionsapparat zurückgreifen müssen, damit Bürger keine anderen Träume von Chinas Zukunft haben.