Ein Protestcamp im italienischen Val di Susa

High Speed, Slow Food

Seit Jahren regt sich im italienischen Val di Susa Widerstand gegen eine Hochgeschwindigkeitsstrecke der Bahn. Die Motive sind vielfältig und zum Teil recht verschroben, wie ein Besuch im Protestcamp zeigt.

Der Zug in das Susa-Tal hält ständig, wie eine S-Bahn, Ort drängt sich an Ort hier im westlichen Umland von Turin. An den Gleisen immer wieder leere Hallen, kleine Fabriken, die meisten stillgelegt. Die Strecke führt mitten durch Wohngebiete, vorbei an Gärten und Hinterhöfen. Im Hintergrund die Alpen, die immer näher kommen und deren Felsen sich immer mehr verengen auf der Fahrt ins Tal. »TAV = Mafia«. Weiße Steine bilden diesen Schriftzug auf einem vorstehenden dunklen Felsen, vom Zug aus ist er klar zu lesen, sicher auch von der Autobahn, die hier parallel zur Bahnstrecke verläuft. Slogans und Graffiti finden sich auch an den Schallschutzwänden und Unterständen der Provinzbahnhöfe. Einige Häuser sind mit Bannern und Fahnen bestückt. »No TAV« ist darauf geschrieben.
Das Susa-Tal ist im Aufstand, und das seit 20 Jahren. Damals beschlossen die französische und die italienische Regierung, eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke (TAV steht für Treno ad Alta Velocità) zu bauen, die die beiden Länder verbinden soll: eine Schnellbahn zwischen Nord­italien und Frankreich, von Turin nach Lyon und Paris. Auch die EU gab ihr Plazet und sagte Gelder zu, denn nicht nur Frankreich und Italien würden verbunden, sondern das ganze neue Europa, von Lissabon bis Kiew. Bisher allerdings ist aus den Plänen nicht viel geworden.
Viele europäische Staaten, auch Frankreich und Italien, haben ihre Hochgeschwindigkeitsnetze in den vergangenen Jahrzehnten stark ausgebaut. In Italien kommt man von Rom nach Turin heute in viereinhalb Stunden, drei Stunden schneller als mit den alten Zügen, in Frankreich gibt es wegen des TGV kaum mehr Bedarf an Inlandsflügen. Widerstand gegen Streckenausbau hat sich europaweit in Grenzen gehalten, er konnte leicht als sogenannter Nimby-Protest (»Not in my back­yard«), also lediglich egoistisch und lokal motiviert, abgetan werden. Heute ist das an vielen Orten anders. Widerstand gegen Stuttgart 21 oder die britischen Pläne für High Speed 2 von London in den Norden sind nationale Kontroversen. Mit der No-TAV-Bewegung im Susa-Tal hat dieser Trend begonnen.
Als die italienische Regierung das erste Mal so weit war, Bohrungen anzustellen, hatte sie den Widerstand völlig unterschätzt. 2005 sollte es nach vielen Verzögerungen endlich losgehen. Doch Gegner besetzten die Baustelle und errichteten ein Protestcamp. Die Freie Republik Venaus, benannt nach dem benachbarten kleinen Dorf, wurde konstituiert. Nachdem das Camp gewaltsam geräumt worden war, konnten die Protestler 30 000 Menschen mobilisieren, und in ihrer schieren Masse überrannten sie die Polizei und holten sich ihre Freie Republik zurück.
Die italienische Regierung stoppte die existierenden Pläne und begann eine Konsultationsphase. Man wolle den Menschen zuhören, hieß es. Doch wie so oft war mit Konsultation eher gemeint, den Widerstand durch nette Worte zu brechen. Im Ergebnis wurden die Pläne geändert, ein neuer Streckenverlauf entworfen, eine leicht abgespeckte Lösung, doch an den grundsätzlichen Plänen für die Strecke wurde festgehalten. Seit 2011 gibt es neue Versuche, Probebohrungen durchzusetzen, in Chiomonte, einem anderen kleinen Dorf im Tal von Susa.
Susa selbst ist eine pittoreske Kleinstadt, bereits die alten Römer hatten sich hier niedergelassen. Ein kleiner, regelmäßiger Strom von Touristen schiebt sich durch die autofreien Gassen der Innenstadt. In einem lokalen Café spricht der Wirt zwar kein Englisch, aber dafür Französisch, denn so sprechen hier die Touristen. »Der TAV hat eine Menge Ärger ins Tal gebracht«, erzählt er. Wegen der Proteste sind viele Polizisten in der Stadt untergebracht, doch die Gastwirte, die die Polizisten einquartieren, müssen sich vor anderen Nachbarn rechtfertigen, die sich den Polizisten an der Baustelle entgegenstellen.
Nicht wenige wollen den Schnellzug, weil er mehr Touristen bringen soll. Unweit von Susa, das Tal entlang Richtung Frankreich, liegen die Skigebiete von Oulx und Sestriere, wo 2006 Wettbewerbe der Olympischen Winterspiele ausgetragen wurden. Direkte TGV-Verbindungen nach Paris und Mailand gibt es zwar schon, doch nur drei am Tage, und bisher sind sie recht langsam. Die meisten Menschen seien aber gegen den Schnellzug, meint der Wirt.

Derzeit gibt es im Tal zwei größere Camps, eines in Chimonte neben der neuen Tunnelbaustelle und eines in Venaus, wo der erste Anlauf zum Bau der Strecke 2005 zum Erliegen kam. Auf dem damals besetzen Gelände steht heute noch das Widerstandscamp der Freien Republik Venaus. Von Susa sind es circa vier Kilometer, und in der Touristeninformation erklärt die freundliche Mitarbeiterin, dass man dorthin sehr einfach wandern könne, eine schöne Strecke, entlang einer alten Pilgerroute, das Camp sei dann gleich am Dorf­eingang.
Das Camp besteht aus einigen Hütten, einem Garten, wo Gemüse angebaut wird, und zwei großen Wiesen für Zelte. Vor der großen Hütte steht eine kleinere, wo Bier verkauft wird, etwa 40 Menschen sind da, rauchen, quatschen. Germania zeigt mir das Camp, die Freie Republik Venaus. Die Tür der großen Hütte ist mit Aufklebern und Solidaritätsnoten bestückt, darunter auch vom Widerstand gegen Stuttgart 21. In der Hütte zeugen Zeitungen, Karten und anderes Material von 20 Jahren Widerstand. Es gibt Strom, W-Lan, Heizung und Schlafplätze für die, die nicht campen wollen oder können. Germania erzählt, dass es einige gebe, die hier dauerhaft wohnen. Im Sommer bleiben viele für Wochen hier. In diesem Jahr waren das teilweise Hunderte, aus Italien und dem ganzen Rest der Welt. Germania zeigt mir auch das Küchenzelt, in dem die Vorbereitungen für das Abendbrot laufen. Hier herrscht der vertraute Charme der Volksküche.
In dieser Woche findet im Camp ein Treffen von studentischen Kollektiven aus ganz Italien statt. Das Programm ist gemischt, viele Diskussionen finden statt, doch auch eine Aktion an der Baustelle sowie eine Party sind geplant. Rund 100 Leute sind da, campen um die Hütten herum, viele sind tagsüber unterwegs, finden sich zum Abend hin langsam wieder im Camp ein. Hier werden heute Menschen von den Protesten in Brasilien und der Türkei berichten.
Gianluca Pittavino, der gerade das Buch »A Sara Dura« (Das wird hart) über die Proteste im Tal mit herausgegeben hat, holt zwei Bier von dem kleinen Bierstand vor der Hütte. »Seit 2011 ist das hier ein nationaler Protest«, sagt er. »Es geht längst nicht mehr nur um die Eisenbahn. Im Frühjahr 2011 kamen 200 000 ins Tal und protestierten, aus ganz Italien. 2 000 Kanister Tränengas wurden allein zwischen Mai und Juli 2011 verschossen.« Im Herbst 2011 wurde Silvio Berlusconi gezwungen zurückzutreten, durch die EU, nicht durch den Widerstand im Val di Susa. Doch viele hofften, das Projekt, das der Cavaliere stark befürwortete, würde nun abgesagt. Dem war nicht so; zwar wurde das TAV-Projekt durch die neue Technokraten-Regierung noch mal zusammengekürzt, doch zwei neue Tunnel soll es weiterhin geben. Auch die gegenwärtige Regierung unter Ministerpräsident Enrico Letta hält an dem Projekt fest.
Gianluca sagt, die Demokratische Partei sei eng mit einer der wichtigsten Baufirmen verstrickt. Die Cooperativa Muratori & Cementisti (CMC), die früher ein der kommunistischen Partei nahestehendes Arbeiterkollektiv war, aber heute ein globales Unternehmen ist, baut die Tunnel. Die Verbindungen mit der Demokratischen Partei, die die Kommunisten beerbte, seien immer noch da, sagt Gianluca. Das sei aber nicht die Mafia, erklärt Gianluca, nach dem massiven Schriftzug auf dem Felsen befragt. Da gehe es konkret um zwei Betonfirmen im Tal, kleine Firmen, bei denen es einen Mafia-Verdacht gebe.

Die Tunnelbohrungen stellen eine Gesundheitsgefahr dar. Die Tunnel sollen durch natürliche Asbest- und Uranvorkommen getrieben werden, und niemand hier vertraut den Versprechungen der Regierung, dass man den Bohrstaub problemlos filtern könne. Zudem sei der Bau schlicht unnötig, glaubt man den Studien der Gegner. Die bereits zwischen Paris und Mailand verkehrenden TGV seien kaum ausgelastet. Die Regierung hatte aufgrund der sinkenden Passagierzahlen in den vergangenen Jahren verstärkt damit argumentiert, dass Güterverkehr von der Straße auf die Schiene verlegt werden solle. Auch dies wird hier bestritten, mit Studien, die auf den Ausbau von Brenner- und Gotthardtunnel hinweisen und auf ein geringes Verkehrsaufkommen insgesamt.
Die Gesamtkosten des Projektes auf italienischer Seite werden auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Die Kritiker meinen, es seien Kapazitätsgewinne auf der existierenden Strecke für einen Bruchteil dieser Summe zu haben. Um besser argumentieren zu können, seien hier viele zu Experten geworden. Für Gianluca ist es ein wichtiger Erfolg des Protestes, dass die Menschen sich nicht mehr erzählen lassen wollen, sie würden die Komplexität solcher Fragen nicht begreifen und sollten die Entscheidungen lieber der Regierung überlassen.
In der Diskussion über Brasilien und die Türkei geht es dann um die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zwischen den weltweiten Protestbewegungen. Jemand sagt, trotz aller Unterschiede verbinde die Proteste die gegenwärtige ökonomische Krise. In Italien, da sind sie sich hier sicher, hat die Krise den Anti-TAV-Protest verstärkt. Die immer neuen Sparhaushalte, mit denen der italienische Haushalt saniert werden soll, die sinkenden Löhne, die Arbeitslosigkeit. Man müsse den Leuten nur sagen: »Deine Bücherei und dein Schwimmbad werden geschlossen und hier werden 20 Milliarden verbaut, obwohl keiner die Strecke braucht.« Auch diesen Sommer haben im Tal Tausende protestiert.

Der Widerstand speist sich aus verschiedenen Quellen, und es gibt durchaus Konflikte. Claudio, der aus Rom mit seinen Genossen vom Hochschulkollektiv angereist ist, macht sich über die sogenannten Primitivisten lustig. In der Schlange vor der Essensausgabe erzählt er von deren eigenem Camp, mitten im Wald, ohne Strom. »Die essen, was sie im Wald finden«, sagt er. Es sind zwar nicht viele, aber sie werfen ein problematisches Licht auf die Bewegung. Sie täten so, meint Claudio, als sei das Tal hier ein Paradies. Um die Idealisierung von angeblich unberührter Natur kann es in der Tat im Val di Susa nicht gehen. Dies ist ein Jahrtausende alter Verkehrsweg, mit existierender Autobahn und Eisenbahnstrecke. Direkt über dem Camp in Venaus liegt eine Autobahnbrücke, gebaut in den achtziger Jahren.
Noch bedenklicher findet Claudio allerdings die Regionalisten und Separatisten. Im Norden Italiens gibt es viele, die gar nichts mit Rom und dem Rest des Landes zu tun haben wollen. Auch sie finden sich unter den Protestierenden. Die Lega Nord, die die stärkste politische Organisation des norditalienischen Separatismus ist, hat sich hier allerdings keine Freunde gemacht, weil sie in der Regierung unter Berlusconi das Projekt förderte.
Und gibt es einen linken Separatismus? Immerhin heißt das Centro Sociale in Turin, das hier im Camp eine wichtige organisatorische Rolle spielt, »Akatesuna«. Das heißt »Freiheit« auf Baskisch. Und Gianluca spricht von einer kolonialen Situation im Tal, mit Polizei und Armeeeinheiten, die die Baustelle schützen. Doch ihm gehe es nicht um Isolation, sondern um Verbindung und Mobilität, die Internationalisierung des Kampfes in Susa-Tal, aber auch seine Verbindung zu anderen sozialen Kämpfen.
Für die radikale italienische Linke nimmt der No-TAV-Kampf inzwischen eine zentrale Stelle ein. Einflussreiche Intellektuelle des »Autonomous Marxism« wie Silvia Federici und George Caffentzis unterstützen die Bewegung. Für sie geht es im Widerstand nicht nur um eine Eisenbahn, sondern um die Ausweitung von Commons, also Gemeingütern, gegen die Einschließung von Werten durch das Kapital. Viele radikale Linke in Italien sehen das heutzutage so und tragen die Bewegung mit.
Auch auf die Rolle der rechtspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung im No-TAV-Protest weist Gianluca hin. Sie ist die einzige große Partei Italiens, die den TAV ablehnt. Im Tal genießt sie breite Unterstützung, rund 40 Prozent haben im Januar für den Komiker Beppe Grillo und seine Gruppe gestimmt. Grillo hat sich regelmäßig bei Protesten im Tal blicken lassen.
Gianluca findet, dass die Vielfalt des Widerstandes eine große Stärke sei. Insbesondere in diesem Jahr sieht sich die Bewegung umfassender Kriminalisierung ausgesetzt. Immer wieder werden die Gegner als Terroristen bezeichnet. In den großen Tageszeitungen des Landes wird behauptet, dass das Tal von Anarchisten in Geiselhaft genommen sei. Damit werde dann die Repression der Digos, der politischen Polizei, legitimiert, sagt Gianluca. Im Sommer wurden mehrere Häuser und Cafés, die in Zusammenhang mit der Bewegung standen, von der Digos durchsucht. Auch dies fand wieder unter dem Vorwand von Terrorismus statt, leere Bierflaschen wurden als Beweise dafür präsentiert, dass Molotowcocktails gebaut würden. Für Gianluca geht es schlicht darum, die Bewegung zu spalten.
Doch Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Interessengruppen im Widerstand ist stark. Im comitato popolare, in dem der Widerstand zusammenkommt, treffen sich regelmäßig 80 bis 100 Leute; dort koche man zusammen, diskutiere, streite. Für Gianluca liegt der Erfolg in den Prozessen der kollektiven Subjektivierung. Ein Beispiel ist eine kauzige Geschichte vom katholischen Widerstand. Eine Gruppe Katholiken geht fast jeden Tag an die Baustelle und fordert die Polizisten und Bauarbeiter auf, ihre Arbeit zu beenden, weil diese Sünde sei. Gianluca erzählt: »Eines Tages stellten die Katholiken eine Heiligenfigur am Bauzaun auf, die dann von antireligiösen Linken in der Bewegung zerstört wurde«, erzählt Gianluca. »Die politische Polizei kam zu den Katholiken und sagte, sie habe das nicht gemacht, das seien die Anarchisten vom schwarzen Block gewesen, und die politische Polizei habe das auf Video. Eine alte Frau in der Gruppe antwortete den Staatsschützern: ›Prima, nun wissen wir, dass ihr hier heimlich filmt‹, und fügte hinzu: ›Ich bin die Großmutter des schwarzen Blocks.‹«