Auch Migranten sollen wählen, aber nicht zu auffällig

Willkommen im Integrationsland

Für die Bundestagswahl umwirbt die Politik die stetig größer werdende Zahl der Wähler mit Migrationshintergrund – allerdings nicht allzu laut. Die Stammwählerschaft soll schließlich nicht verprellt werden.

Es gibt durchaus Gründe, derzeit von einem Umbruch zu sprechen. Trotz der geringen Einbürgerungsquote bei Migranten von gerade einmal zwei Prozent pro Jahr besitzen deutschlandweit mittlerweile rund zehn Prozent der Wahlberechtigten einen sogenannten Migrationshintergrund. Und die Zahl dürfte weiter steigen: Etwa 31 Prozent der minderjährigen Wohnbevölkerung haben derzeit ausländische Wurzeln, in den großen Städten mit über 500 000 Einwohnern sind es sogar 46 Prozent. Vor allem für die bürgerlichen Parteien ist diese Entwicklung alles andere als leicht zu verkraften, sind für sie Migranten traditionell doch in erster Linie Adressaten einer »Law-and-Order«-Politik zur Mobilisierung fremdenfeindlicher und von Abstiegsängsten beeinflusster Wählermilieus. Paradoxerweise gilt es nun, genau diese wachsende und bislang kaum erforschte Gruppe als potentielle Wähler zu gewinnen.
Auf diese nicht ganz neue Entwicklung versuchen die Parteien seit einiger Zeit zu reagieren. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Ernennung der türkischstämmigen CDU-Politikerin Aygül Özkan zur Landesministerin – der ersten mit Migrationshintergrund – im Jahr 2010 in Niedersachsen. Die Ernennung kam ausgerechnet von einer Partei, die unter anderem unter Roland Koch in Hessen mit ausländerfeindlichen Parolen Wahlkämpfe bestritten hat. Außerdem besitzt nun jede der im Bundestag vertretenen Parteien – mit Ausnahme der FDP – Arbeitsgruppen, die sich ausschließlich um migrantische Themenbereiche kümmern. Das jüngste Beispiel ist die Anfang Juni gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft »Migration und Vielfalt« der SPD, die der ethnischen Diversität der Partei gerecht werden soll, wie die Vorsitzende der AG, Aydan Özoğuz, die seit Dezember 2011 stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD ist, betonte. Auch in den Wahlprogrammen zur kommenden Bundestagswahl schlägt sich diese Entwicklung nieder. Orkan Kösemen, Politikwissenschaftler bei der Bertelsmann-Stiftung und Autor der Studie »Wenn aus Ausländern Wähler werden«, weist im Gespräch mit der Jungle World darauf hin, dass migrationspolitische Themen in den Wahlprogrammen heute wesentlich stärker gesellschaftspolitisch verstanden werden, statt ausschließlich unter der Rubrik der inneren Sicherheit als »Ausländerpolitik« abgehandelt zu werden. Zentral sind hierbei die beiden Begriffe »Vielfalt« und »Willkommenskultur«, die sich in den Programmen aller im Bundestag vertretenen Parteien finden lassen.

Selbst die CDU, deren Programmatik sich kaum geändert hat – bekämpft sie doch weiterhin vehement die doppelte Staatsbürgerschaft, ein kommunales Wahlrecht für Ausländer und betont wie kaum eine andere Partei die zu erbringende Anpassungsleistung von Migranten –, wirft mit diesen Begriffen um sich. Das Wort »Einwanderungsland« wird allerdings tunlichst vermieden, Deutschland sei ein »erfolgreiches Integrationsland«. Kösemen konstatiert im Fall der CDU denn auch in erster Linie eine »veränderte Tonlage«, mit der »kaum geänderte Inhalte einer neuen Zielgruppe schmackhaft gemacht werden sollen«. Die Partei vermutet nicht ohne Grund bisher kaum ausgeschöpfte Anknüpfungspunkte an den Konservatismus bei vielen Migranten, speziell den Muslimen.
Die Verwendung eines eher wohlwollenden Vokabulars und die Beförderung einzelner Politiker mit Migrationshintergrund in Spitzenpositionen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier vielfach um Symbolpolitik handelt. Eine kürzlich veröffentlichte Recherche des Mediendienstes Integration geht davon aus, dass lediglich vier Prozent aller Bundestagskandidaten einen Migrationshintergrund haben. Die Anzahl der aufgestellten Politiker mit Migrationshintergrund ist von Partei zu Partei dabei sehr unterschiedlich.
Weit abgeschlagen ist die CDU, bei der mittlerweile zwar vier Personen mit migrantischer Herkunft im Bundesvorstand sitzen, mit gerade einmal sechs Kandidaten. SPD und die Linkspartei haben beide jeweils 18 Kandidaten und Kandidatinnen mit Migrationshintergrund aufgestellt, die Piratenpartei sieben und die FDP immerhin neun. Vorne stehen die Grünen mit 23 Bewerbern. Einzig in Bayern scheint die Welt noch in Ordnung: Bundestagskandidaten mit nichtdeutschen Wurzeln sucht man in der CSU vergebens.
Kösemen sieht die mit Ausnahme von Linkspartei und Grünen schwache politische Repräsentation der migrantischen Bevölkerung hauptsächlich in der insgesamt geringen Anzahl von Parteimitgliedern mit Migrationshintergrund begründet. Dementsprechend schafften es auch wenige bis nach oben.
Von rassistischer Ausgrenzung möchte er nicht sprechen, auch wenn er anmerkt, dass in einigen Wahlkreisen zuweilen der Mut fehle, Migranten als Kandidaten aufzustellen. Vereinzelt gebe es daher Berichte von Politikern, die sich bei der Listenaufstellung übergangen fühlten. Der Grund sei die Befürchtung, dass man mit Kandidaten ausländischer Herkunft die deutsche Stammwählerschaft verschrecke. Diese Angst ist durchaus berechtigt, stimmen doch rund 37 Prozent der Deutschen zumindest »überwiegend« der Aussage zu, dass das Land »durch die vielen Ausländer in gefährlichem Maße überfremdet« sei.

Zumindest bei SPD und CDU lässt sich daher eine Doppelstrategie feststellen, bei der die neue migrantische Wählerschaft, aber parallel weiterhin auch die fremdenfeindliche Stammklientel umworben werden. Im Wahlprogramm der SPD finden sich etwa mit dem Befürworten der doppelten Staatsbürgerschaft und der Forderung eines kommunalen Wahlrechts auch für Nicht-EU-Bürger durchaus Inhalte, die auf Menschen aus Einwandererfamilien zielen. Dennoch ist ein Vertreter biologistischer Thesen wie der ehemalige Vorstand der Bundesbank, Thilo Sarrazin, weiterhin Parteimitglied – was, strategisch gesehen, verständlich ist: Umfragen zufolge teilen rund die Hälfte aller SPD-Wähler seine Thesen. Die CDU versucht trotz modernisierten Vokabulars und neben der Förderung von Politikern mit Migra­tionshintergrund durch ihre inhaltlich kaum geänderte Programmatik ebenfalls ihr rechtes Wählerpotential zu halten – mit tatkräftiger Unterstützung der CSU, die im öffentlichen Diskurs die rechtskonservative Wählerschaft bindet.

Um Stammwähler nicht zu vergraulen, wird um Migranten zudem eher unauffällig geworben. Die neu aufgebauten migrantischen Spitzenpolitiker werden dabei sehr taktisch und punktuell eingesetzt. Der Politikwissenschaftler Kösemen spricht im Fall von SPD und CDU von »Undercover-Wahlwerbung«.
Trotz allem sieht Kösemen eher positive als negative Entwicklungen. Allein durch die zunehmende Zahl migrantischer Wähler werde es für die »Volksparteien« mittelfristig zumindest schwieriger, Wahlkämpfe mit rassistischen Tönen zu führen. Was derzeit geschehe, sei eine »nachholende Entwicklung«, die mit Verspätung auf die ethnische Vielfalt in Deutschland reagiere. »Das könnte allerdings schneller gehen.«