max hoppenstedt hat sich »Retro 2038« von CoH angehört

Schlaf macht nichts als Arbeit

Als CoH erinnert Iwan Pawlow an Giorgio Moroder, den Pop-Visionär und Fixstern elektronischer Musik. Nebenbei versucht er, die historische russische Avantgarde einer Aktualisierung zu unterziehen.

Was hätte Karlheinz Stockhausen zu dieser Musik gesagt? Hätte ihn der Sound von CoH begeistert, ihn gar zum Tanzen gebracht? Oder wäre ihm für CoH, trotz der eigenen, durchorganisierten Klangwelt, wieder nur der gleiche liebenswürdige Rat über die Lippen gekommen, den er Aphex Twin und Plastikman, diesen beiden Masterminds elektronischer Musik, Anfang der neunziger Jahre gegeben hatte – aufzuhören mit diesem repetitiven Zeug?
Der Sprachgebrauch macht deutlich, in welchem Rahmen sich CoH bewegt. Iwan Pawlows Musik erscheint bei Plattenlabels wie Raster Noton und Editions Mego, die nicht einfach Alben veröffentlichen, so wie herkömmliche an Markt, Musik und gängigen Arten ihrer Verwertung orientierte Firmen. Bei diesen Labels wird stattdessen gewöhnlich davon gesprochen, dass sie ihr Programm »kuratieren«. Seit 1998 sind mehr als ein Dutzend CoH-Alben erschienen, die sich zwischen Post-Techno, verspieltem Minimalismus und experimenteller Elektronik bewegen. Kunstbeflissene Musik also, die eher im Zusammenhang mit Ausstellungen oder Festivals zu experimenteller Musik ihren Platz findet, als im herkömmlichen Clubformat.
Dabei hatte sich Pawlow in den achtziger Jahren in der Heavy-Metal-Szene des sowjetischen Underground bewegt. Eine Erfahrung, die er auf seinen Alben »Iron« und »Iiron«, die er der internationalen Metal-Szene widmete, ironisch kommentierte, indem er die vorgeblich handgemachte, authentische Musik durch Computer erzeugen ließ. Die Songs benannte er nach berühmten, aber in der Sowjetunion verbotenen Hits des Genres, die seine Musik in einen größeren Bedeutungszusammenhang stellten.
Eine Vorgehensweise, die auch auf seinem neuen Album zu finden ist. »Retro-2038« verweigert sich schon durch seinen Titel Fragen nach Zukunftsbezügen, Zitaten, Stilanleihen und nach Genre-Progressivität, mit denen elektronische Musik heute unvermeidlich konfrontiert wird. Mit Humor und synthetischer Verspieltheit eröffnet die »Retrotech Overture« das Album, das sich mit einem größenwahnsinnigen, verschmitzten Grinsen in Abgrenzung zu gängigen Deutungsmustern von Retromanie oder Zukunftszwang entfaltet.
Dementsprechend gebrochen und elaboriert ist CoHs Rückbezug auf Giorgio Moroder, der in den siebziger Jahren als Pop- und Synthesizer-Pionier und Vorreiter eines europäischen Disco-Sounds von sich reden machte. Moroder, ein unvermeidlicher Fixstern eingängiger elektronischer Musik, kommt auch auf dem jüngst erschienen Daft-Punk-Album »Random Access Memories« durch eine Hommage inklusive höchstpersönlich eingesprochener Erfahrungsbeichte aus den Anfängen seiner Karriere zu Ehren. Während das französische Elektro-Pop-Duo Moroders Charakteristika bombastisch-stampfend neuinszeniert, widmet sich Pawlow spezifischen Aspekten in Moroders Werk. Sein Update konzentriert sich unter anderem auf Moroders Experimente mit den Pulsen analoger Synthesizer, deren perkussives Potential Moroder auf eindrucksvolle Weise in seinem Nebenprojekt Einzelgänger herausstellte. CoH ist maschineller Funk aus pulsierenden Passagen rhythmischer Tieffrequenzen, kleinen Arpeggios mit klaren Synthesizer-Impulsen, elektronischen Melodiefetzen und subtilen Verzerrungen und Filterungen, die ihre eigene Dramaturgie entwickeln. Ein experimenteller Entwurf, eigenständig und sehr genau, der erkundet, wie eine Transformation von indus­triell-synthetischer Beschwingtheit heute klingen könnte.
CoHs Rave ohne Bassdrum ist paradoxerweise mit äußerer Ruhe verbunden. Nicht nur heißt CoH auf Russisch »Schlaf«, die Umdeutung des nicht Wachseins könnte zudem der Schlüssel zu Pawlows Schaffen sein. Auch wenn er seinen Künstlernamen damit kommentiert, dass er auf Russisch genauso »Nase« rückwärts heißen könnte, deutet er Schlaf nicht als Stadium unbewusster, vom Verstand losgelöster psychischer Prozesse, sondern als Teil eines künstlerisch produktiven Modus, der Unterscheidungen zwischen Schlafen und Wachen hinter sich lassen will. Pawlows Retrobezüge sind präzise, sie sind glasklar und werden nicht als Tiefenpsychologie oder verträumte Jugend­emotionen mitgeschleppt. Deshalb kommt diese Moroder-Studie ohne »Traumreisen« aus, wie Moroder sie beispielsweise für Filme wie »Scarface« und »Flashdance« komponierte. Dieser Sound wartet nicht auf fachkundige Erläuterung oder Analyse des künstlerischen Unbewussten.
Eine Position, die der des Künstlers Alexei Penzin nahesteht. Der Philosoph ist Mitglied des russischen Künstlerkollektivs Chto Delat/What is to be done? und beschäftigt sich mit der Beziehung von Schlaf, Wachen, Subjektivierung und kapitalistischer Rationalisierung des Alltagslebens. Ihm geht es weniger um einen medizinischen oder psychoanalytischen Zugriff, als um eine gesellschaftspolitische Einordnung des Schlafes und seiner Repräsentationen. Weil die Grenze zwischen Arbeit und Nichtarbeit immer weiter verschwimmt, kann, nach Penzin, auch der Schlaf nicht länger als Zufluchtsort vor den Anrufungen ständigen Wachens gelten. Schlaf sei nicht als Expedition ins Reich der Träume und auch nicht als sehnsüchtiger Rückzug in eine der Alltagswelt entrückte Oase zu gebrauchen. Vielmehr sei er durch den Kapitalismus kolonialisiert und nicht zu trennen von Strategien biopolitischer Regulierung und Kontrolle.
Auch wenn Pawlow betont, dass seine Inspirationquelle nicht ausschließlich auf die russische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts reduziert werden dürfe, könnte CoH, wie Chto Delat/ What is to be done? ebenso, als Versuch verstanden werden, die russische Avantgarde zu aktualisieren. Mit CoH arbeitet Pawlow im besten futuristischen Sinne an der Verschmelzung von Kunst und Leben und zeigt, wie die Eigenschaften maschineller Musik als Anregung für gesellschaftliche Radikalität dienen können.
»Retro-2038« liefert eine Mischung aus beschwingten Sinus-Pattern, sezierender Kargheit, gelegentlichem atmosphärischem Brummen und den fröhlichsten Versionen, die Clicks und Glitches derzeit bieten können. Wenn er schon nicht dazu getanzt hätte, wäre Karlheinz Stockhausen bei diesem Sound hoffentlich eingeschlafen.

CoH: Retro-2038. Editions Mego/Boomkat