Über singende Mäuse

Liebeslieder in Ultraschall

Ihre Gesänge sind für Menschenohren unhörbar, doch Mäuse singen individuell, lernen aber auch von ihren Rivalen.

Das Volk der Mäuse hat eigentlich keine Zeit zum Singen. In ihrem beschwerlichen, ständige Wachsamkeit erfordernden Leben gibt es keinen Platz für Musik, selbst wenn die Mäuse einmal das Verlangen nach dem Glück, das von der Musik ausgeht, verspüren sollten. Die Mäuse können nur pfeifen. Pfeifen können sie allerdings alle. »Alle pfeifen wir, aber freilich denkt niemand daran, das als eine Kunst auszugeben, wir pfeifen, ohne darauf zu achten, ja ohne es zu merken, und es gibt sogar viele unter uns, die gar nicht wissen, dass das Pfeifen zu unseren Eigentümlichkeiten gehört«, schreibt der Erzähler von Franz Kafkas Geschichte »Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse«.
Und weil die Mäuse nur das Pfeifen kennen, fällt Josefine, die Sängerin unter den Mäusen, so auf und verstört und betört das Volk. Das ist die Ausgangssituation in Kafkas Erzählung. Kafka schrieb die Geschichte um die Sängerin Josefine im pfeifenden Mäusevolk 1924, im Jahr seines Todes. Es war eine seiner letzten Arbeiten, und auch ohne die Erzählung zu seinem Vermächtnis zu stilisieren, kann man sie als einen Schlüssel zu den wissenschafltichen Dimensionen seiner Tiererzählungen. Dass Mäuse tatsächlich nicht nur pfeifen, sondern auch singen können, ist erst in den vergangenen Jahren in den Blick der Wissenschaft geraten.
Die erste systematische Arbeit zu dem Thema erschien 2005 unter dem Titel »Ultrasonic Songs of Male Mice« (Ultraschallgesänge männlicher Mäuse). Der Titel deutet schon auf die Schwierigkeiten menschlicher Beobachter mit dem Mäusegesang hin. Mäuse produzieren ihre Gesänge nur im für bloße menschliche Ohren unhörbaren Ultraschallbereich, während ihre Warn-, Schreck- und Kontaktpfiffe auch für Menschen wahrnehmbar sind.

Kafka hat also, indem er den Gesang der Mäuse in seiner Erzählung thematisierte, lange vor den wissenschaftlich dafür zuständigen Verhaltensforschern und Bioakustikern eine Wahrheit ausgesprochen und damit eine der bedeutendsten Funktionen von Literatur veranschaulicht: nämlich Wahrheiten in die Welt zu setzen. Kafka entsprach damit der generellen Forderung an die Kunst, etwas zu sehen, zu hören oder zu empfinden, was bisher noch nicht gesehen, gehört oder empfunden wurde, und es in Sprache, Bilder oder Töne zu übersetzen. Genießen kann man Kafkas Qualitäten als Realist der tierischen Kommunikation gerade jetzt mit dem Erscheinen einer Studie im Fachjournal Plos One. »Of Mice, Birds, and Men: The Mouse Ultrasonic Song System Has Some Features Similar to Humans and Song-Learning Birds« lautet ihr Titel. Durchgeführt wurde die Studie von Gustavo Arriaga, Eric P. Zhou und Erich D. Jarvis, Wissenschaftlern des Department of Neurobiology der Duke Universität in Durham, North Carolina.
Die Arbeit leistet nichts Geringeres als die Einführung der Mäuse in den bisher recht exklusiven Club der gesanglernenden Tiere. Zu dem Club gehörten bisher drei Gruppen der Vögel – Papageien, Kolibris und Singvögel – sowie verschiedene Säugetiere wie Delphine, Wale, Fledermäuse, Elefanten, Seelöwen und Seehunde.
Arriago und seine Mitarbeiter untersuchen den Gesang der Mäuse auf drei verschiedenen Ebenen: dem tatsächlich geäußerten Gesang, der neuronalen Aktivitäten und den begleitenden Genexpressionen. Wissenschaftlich lässt die Studie kaum Wünsche offen. Sie erzählt die Geschichte des wissenschaftlichen Diskurses, liefert empirische Daten für die im Titel aufgestellte Hypothese über den Zusammenhang von Mäuse- und Vogelgesängen mit der menschlichen Sprachproduktion und korrigiert nicht zuletzt einige von Kafkas Pionierfehlern.
Wobei Kafka mit seinem entscheidenden Fehler, nämlich den Gesang einer weiblichen Maus zuzuschreiben, in einer ehrenwerten Reihe der Spekulationen über die tierischen Gesänge steht. Auch Aristoteles, der, wie Kafka zu den Mäusen, zum Nachtigallengesang bis heute gültige Beobachtungen gemacht hat, schrieb das Singen fälschlicherweise den Nachtigallweibchen zu.
Das Singen im Tierreich den weiblichen Wesen zuzuschreiben, hat sich aber längst als unzutreffend erwiesen. In der Überzahl der Fälle singen im Tierreich die Männchen, und das hat auch mit der Hauptfunktion der Gesänge zu tun. Gesungen wird in der Regel, um Reviere zu markieren, also männliche Rivalen fernzuhalten und Weibchen anzulocken bzw. von den Qualitäten des Sängers zu überzeugen.
Das gilt auch für Mäuse, gerade auch dann, wenn sie in größeren Gruppen leben und sich nicht als Einzelgänger in Revieren von ihren Rivalen absondern. Für die Forscher war die zumindest zeitweilige Geselligkeit der Mäuse ein Vorteil, weil sich leichter zeigen ließ, dass sie tatsächlich auf den Gesang der Rivalen reagieren. Die Reaktionsformen der singenden Mäuse umfassten dabei das ganze Repertoire, das man zum Beispiel auch von Nachtigallhähnen kennt. Die Sänger passten sich dem Niveau ihrer Konkurrenten teilweise bis in die Frequenzebenen an. Sie nahmen Teile der Klangfolgen anderer Mäuse in ihren Gesang auf und synchronisierten sich so. Die Sänger achteten trotzdem immer auch darauf, unverwechselbar zu bleiben. Das taten sie manchmal, indem sie die Silben neu und eigenwillig anordneten oder einfach nur länger sangen.
Entscheidend für den Nachweis, dass bei den Mäuseliedern ein Lerneffekt erkannbar ist, blieb immer die individuelle Verschiedenheit auf der Basis der Traditionen der Gruppe, die in allen Gesängen zu finden war. Die Diskussionen, die geführt wurden, nachdem man die Ultraschalllaute entdeckt hatte, drehten sich zuerst um die Frage, ob die Töne angeboren oder erlernt seien. Nach der bis dahin herrschenden Lehre hatte man dem Mäusehirn schlicht die Fähigkeit des »Lautelernens« nicht zugetraut.

Angeborene Töne oder Rufe lassen sich in der Regel nur wenig variieren und vor allem nicht durch neu aus der Umwelt genommene erweitern. Kafka beschreibt in seinen Passagen zu den Pfiffen der Mäuse die Charakteristika der angeborenen Töne sehr gut. Dazu gehört auch die Tatsache, dass angeborene Laute auch ohne die Kontrolle des eigenen Gehörs fehlerfrei geäußert werden können. Man muss, um angeborene Töne zu äußern, nicht wissen, wie sie klingen. Für erlernte Gesänge ist hingegen die Gehörkontrolle unabdingbar. Nur wenn man seine Äußerungen auch hört, kann man sie in klingende Kompositionen verwandeln.
Die Mäuse von Durham verloren, wenn die Forscher sie ertaubt hatten, denn auch das Gefühl für konstante Frequenzen und ihren Rhythmus. Es handelt sich also bei den singenden Mäusen um solche, die in vielfältiger Weise mit wachem Ohr ihre Umgebung abtasten und das Gehörte in ihren eigenen Gesang einbauen. Das müssen sie allerdings auch, denn ihre Weibchen hören genau hin. Sie können am Gesang nach einer früheren Studie Nahverwandte, Bekannte und Fremde unterscheiden. Und es scheint für männliche Mäuse dabei zu ihrem Vorteil zu sein, wenn sie den Weibchen nicht zu nah oder zu fremd erscheinen.
In die Gruppe neu eingewanderte Mäuse ständen damit vor dem Problem, ihre Fremdheit, die ja ein Alleinstellungsmerkmal sein kann, in einem Maße zu verschleiern, das ihre »neue« Individualität nicht ganz verdeckt. Metaphorisch gesprochen, müssen sie das Neue im teilweise alten Mantel an die Frau bringen. Ein Prozess, der ohne Lernen schlicht nicht zu bewältigen ist und den sie mit Kafka teilen. Auch Kafka musste seine unerhörte Erkenntnis von den singenden Mäusen in eine Geschichte kleiden, die dem germanistischen Seminar immerhin noch die Möglichkeit gibt, irgendeine Allegorie in seiner Geschichte zu finden. Das tat er dann auch, wie die fremde Maus den Ton der neuen Gruppe aufnimmt und sich damit sozusagen einschleicht. Darüber hinaus verweist die Mäusestudie aber auf ein generelles Problem: Man sollte Tieren bzw. Lebewesen allgemein nicht voreilig Fähigkeiten absprechen, bevor man sie genau und angemessen studiert hat.