Proteste gegen die Muslimbrüder in Ägypten

Die Offensive der bärtigen Bosse

In Ägypten wächst die Unzufriedenheit mit der Politik der regierenden Muslimbrüder.

Ein »Freitag der Rechenschaft« sollte es auf dem Tahrir-Platz in Kairo werden. Säkulare Gruppen hatten den Protest gegen Präsident Mohammed Morsi vorbereitet, der nunmehr seit etwa 100 Tagen im Amt ist. Die Protestierenden forderten unter anderem die Auflösung der von Islamisten dominierten verfassungsgebenden Versammlung sowie einen Mindest- und einen Maximallohn. Islamistische Demonstranten schlossen sich im letzten Moment der Kundgebung an, sie wollten allein gegen den Freispruch am Tag zuvor für alle 24 Angeklagten im Prozess wegen der »Kamelschlacht« protestieren, bei der Anhänger Hosni Mubaraks am 2. Februar 2011 Demonstranten auf dem Tahrir-Platz angegriffen hatten.
Meinungsverschiedenheiten dieser Art sind bei den Freitagskundgebungen auf dem Tahrir-Platz nicht ungewöhnlich, aber bislang begnügte man sich mit einer Lautsprecherschlacht. Jede Fraktion sammelte sich um ihre Bühne, ohne die anderen zu behelligen. Doch am Freitag voriger Woche wurde eine Bühne von Popular Current, einem Bündnis säkularer Guppen, angegriffen. Stundenlange Straßenkämpfe folgten, etwa 200 Menschen wurden verletzt.

Die Muslimbruderschaft wies jede Verantwortung von sich. Sie hatte jedoch ihre Anhänger zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen und auch für Transportmöglichkeiten gesorgt, zwei am Rand des Tahrir-Platzes abgestellte Busse der Islamisten wurden angezündet. In ihrer Erklärung zu den Vorfällen ist von bezahlten Schlägern die Rede, die T-Shirts der von den Muslimbrüdern gegründeten »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« getragen hätten. Glaubwürdig ist das nicht, unklar bleibt jedoch, ob der Angriff auf die Säkularisten das Werk übereifriger Sympathisanten oder ein gezielter Einschüchterungsversuch war.
Die Probe, ob die Muslimbruderschaft sich wie versprochen an demokratische Regeln halten wird, könnte früher kommen als erwartet. Die Personalpolitik der Islamisten wird mit Misstrauen betrachtet, denn sie konzentieren sich auf die Machtübernahme in den Institutionen. Zahlreiche Gefolgsleute wurden auf einflussreichen Posten in der Bürokratie und in den staatlichen Medien platziert. Doch hielten sich die Muslimbrüder an die Gesetze.
So gelang es Morsi in der vorigen Woche nicht, den Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmoud, dessen mangelnder Ermittlungseifer für die Freisprüche der wegen der »Kamelschlacht« Angeklagten verantwortlich gemacht wird, als Botschafter in den Vatikan abzuschieben. Mahmoud weigerte sich, seine Entlassung zu akzeptieren, und der Oberste Rat der Justiz gab ihm recht, da der Präsident nicht die Befugnis habe, den Generalstaatsanwalt zu entlassen.
Die Grenzen im Umgang mit dem Personal des alten Regimes setzt letztlich das Militär. Die Muslimbruderschaft regiert, ruft aber immer wieder zu Protesten gegen staatliche Entscheidungen auf und schiebt zumeist ausländischen Verschwörern die Schuld für alle Probleme zu. Diese Strategie scheint an Glaubwürdigkeit zu verlieren, die Unzufriedenheit wächst, vor allem wegen der desolaten Wirtschaftslage und der Ignoranz der Islamisten im Hinblick auf soziale Fragen.

Eifer ist nur bei dem Bestreben zu erkennen, auch die Privatwirtschaft zu »islamisieren«. Das alte Regime hatte seinen Höflingen zahlreiche Privilegien gewährt. Man konnte unter Hosni Mubarak reich werden, ohne der Regierungspartei anzugehören, musste dann aber damit rechnen, aufgrund einer fingierten Anklage im Gefängnis zu landen. Dies widerfuhr in den neunziger Jahren den Geschäftfreunden Hassan Malek und Khairat al-Shater, der, von der Muslimbruderschaft ursprünglich als Präsidentschaftskandidat vorgesehen, wegen seiner Vorstrafe nicht antreten durfte. Nun wollen die beiden islamistischen Oligarchen das Geschäftsleben neu ordnen, Malek wurde zum Vorsitzenden des Business Development Council ernannt.
Dass die Muslimbrüder machtbewusst und geschäftstüchtig sind, ist keine Neuigkeit. Ihren Erfolg verdankt die Organisation, die seit den achtziger Jahren um »islamische Werte« angereicherte wirtschaftsliberale Dogmen progagiert, jedoch nicht zuletzt ihren Sozial- und Bildungseinrichtungen. Auch wenn es sich dabei nur um ein gut organisiertes Almosenwesen handelt, sollte man annehmen, dass wenigstens die Bedeutung der sozialen Frage den Muslimbrüdern bewusst geblieben sei. Doch hat sich Morsi in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit nicht einmal zu symbolischen Zugeständnissen wie Treffen mit Repräsentanten unabhängiger Gewerkschaften durchringen können.
Zwei der am vehementesten geforderten Maßnahmen, die Erhöhung des Mindestlohns und ein Schuldenerlass für die Kleinbauern, kosten Geld. Hier dürfte die Regierung unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) stehen, mit dem über dringend benötigte Kredite verhandelt wird. Es ist bezeichnend, dass Morsi zu den IWF-Krediten nur einfällt, dass diese »keinen Riba darstellen«, also angeblich nicht gegen das koranische Zinsverbot verstoßen.
Überdies propagieren die Islamisten ein korporatistisches Gesellschaftsbild, in dem unabhängige Interessenvertretung nicht vorgesehen ist. Of­fiziell treten die Muslimbrüder für Gewerkschaftsrechte ein, doch verurteilen sie Streiks. Die Gewerkschaften haben weiterhin kaum legale Aktionsmöglichkeiten. Ende September wurden in Alexandria fünf Hafenarbeiter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie an der Organisation eines Streiks beteiligt waren.

Dennoch nimmt die Zahl der Arbeitskämpfe zu. Das Egyptian Center for Economic and Social Rights zählte in der ersten Septemberhälfte mehr als 200 Aktionen diverser Lohnabhängiger, unter ihnen auch nicht für ihre Protest­bereitschaft bekannte Gruppen wie Polizisten und Imame. Brisant für die Muslimbruderschaft ist, dass die Streikbewegung auch ihre soziale Basis erfasst.
Den Kern der Organisation bildeten immer Angehörige der Mittelschicht, vor allem Anwälte, Ingenieure und Ärzte. Viele Ärzte im Staatsdienst sind am 1. Oktober in den Streik getreten, der Arbeitskampf wird nach Angaben des Berufsverbands in der Hälfte der staatlichen Krankenhäuser geführt. Die Ärzte fordern neben einer Erhöhung ihres Mindestlohns auf monatlich 3 000 Pfund (umgerechnet 380 Euro, fast das dreifache des derzeitigen Einstiegsgehalts) auch, dass 15 Prozent statt der vorgesehenen fünf Prozent des Staatshaushalts für die Gesundheitsversorgung ausgegeben werden. Die Ärzte behandeln ihre Patienten nun umsonst, die Einnahmeverluste sollen das Gesundheitsministerium zu Zugeständnissen zwingen. Die Demokratie- und Gewerkschaftsbewegung unterstützt den Streik.
Niemand hat erwartet, dass Morsi die Probleme Ägyptens in 100 Tagen lösen wird. Dass er und seine Minister diesen Problemen aber nicht einmal Aufmerksamkeit schenken, empört auch viele Wählerinnen und Wähler der Muslimbruderschaft, die mehr erwartet haben, als nun von einem bärtigen statt einem rasierten Chef schikaniert zu werden. Religiöse Konflikte zu schüren, könnte der islamistischen Führung als Ausweg gelten. Doch selbst wenn die Muslimbruderschaft ihre Anhänger noch einmal bremsen sollte, dürften extremistische Gruppen nun verstärkt den Konflikt mit den Säkularisten suchen. Noch am Freitag voriger Woche kündigte die Jama’a al-Islamiya, eine ehemalige Terrorgruppe, die Verbindungen zu den Salafisten, aber auch zur Muslimbruderschaft unterhält, weitere Gewalttaten an. Man werde »für die Anwendung des göttlichen Gesetzes kämpfen, auch wenn das Blutvergießen erfordert«, drohte Mohammed Salah, der Führer der Gruppe, bei einer Konferenz in Kairo.