Boots and Legs

Berlin Beatet Bestes. Folge 165. Reibach: Ostküste/Westküste (2012).

An dieser Single ist vieles seltsam. Sicher ist – das fällt zuerst auf –, dass es sich um ein Bootleg handelt. Der kartoffeldruckartige Coverentwurf und das selbstgeklebte Cover sind in liebevoller, purer DIY- Ästhetik gehalten. Handgefertigter geht es gar nicht mehr. Aber sind das neue Songs oder alte? Und klingen beide Songs nicht viel zu gut, als dass sie irgendjemand im WG-Zimmer zusammengebastelt haben könnte? Wer zum Teufel bringt so eine Platte heraus?
Ich muss ein wenig suchen und rätseln, bevor ich die Lösung habe. Die A-Seite, »Ostküste«, ist ein lupenreiner Jazz-HipHop-Mix, wie er Anfang der neunziger Jahre in Mode war, bevor Gangster Rap solch feinsinnige Jazzexperimente beendete. Die Gesangspur stammt von der Maxi »Accross The 110« des Harlemer Rappers 2 Black 2 Strong aus dem Jahr 1991. Die Instrumentalspur ist leicht zu identifizieren und stammt von Dave Brubecks »Take Five«. Dass die Wahl auf diesen Titel fiel, ist vielleicht etwas profan, schließlich ist »Take Five« einer der bekanntesten Pop-Jazz-Songs überhaupt. Die B-Seite mischt das Gedicht »Birds and Bees« des jamaikanischen Dub-Poeten Mutabaruka mit »Memphis Underground« des Jazzflötisten Herbie Mann. Manns gleichnamiges Album von 1969 verbindet Jazz und Rhythm & Blues für den Pop-Markt. Natürlich steht nichts davon auf dem Cover, nur die Worte »Reibach«, »Ostküste« und »Westküste«. Es ist, wie gesagt, ein Bootleg. Auf meine Nachfrage, woher diese Platte denn stamme, meinte der Verkäufer: »Ja, da kam so’n Typ mit rein und hat die verkauft. Da hat der sicher nicht mehr als hundert von gemacht … «
Auch der Titel »Reibach« könnte also nicht falscher sein. Viel Geld wird mit dieser Schallplatte sicher niemand verdienen. Die Tatsache, dass sie überhaupt existiert, ist ein Indiz für …  ja, wofür überhaupt?
Ich würde mal sagen, dafür, dass sich in der Debatte »Tonträger versus Digital« einiges verändert hat. Während noch vor wenigen Jahren viele kreative Musikfans ins Internet und zu den Blogs strömten, überlässt man in Zukunft vielleicht doch der Industrie das leidige Feld der kommerziellen Nutzung digitaler Musikdateien. Mp3 erübrigen sich sowieso bald, weil viele Leute nur noch streamen, und richtige Musikfans können auf MP3 eigentlich auch verzichten. Wer cool ist, riskiert also lieber wieder was, finanziell und rechtlich, und stellt gleich einen Tonträger her. Wie sollten diese zwei hervorragenden Titel sonst auch anders veröffentlicht werden? Die Rechte auf legalem Wege zusammenzuklauben, um sie nachher nur digital zu vertreiben, wäre viel zu umständlich. Warum also nicht gleich eine richtige Platte machen? Seltsam ist dabei, dass die Musik, die auf dieser limitierten Single zu hören ist, eigentlich reiner Mainstream ist. Wenn die Majorlabels und Verwertungsgesellschaften nicht so blöde und gierig wären, könnte diese Platte ein richtiger Hit sein.