Machtkampf in der chinesischen KP

Aneignen und enteignen

Den Machtkampf innerhalb der chinesischen Regierung scheint der wirtschaftsliberale Flügel zu gewinnen. Eine politische Liberalisierung ist in China nicht geplant, die Strafrechtsreform erlaubt sogar härtere Maßnahmen gegen Regimekritiker.

Manch einer hätte gerne die Sorgen der Chinesen. Die Wirtschaft wächst nach Ansicht der Regierung zu schnell. Weil das Wachstum zu unkoordiniert ablaufe und mehr auf dessen »Qualität« geachtet werden müsse, soll es keine zweistelligen Steigerungsraten geben, sagte Premierminister Wen Jiabao. Wie üblich waren die Delegierten des Volkskongresses einsichtig und legten ein Wachstumsziel von 7,5 Prozent fest.
Kritische Debatten und Kampfabstimmungen sind nicht gefragt, wenn alle Jahre wieder im März knapp 3 000 Delegierte in der großen Halle des Volkes in Peking zusammenkommen. Es wird viel gegähnt, denn zu einer Überraschung wie der Ablehnung eines Gesetzesvorschlags kam es noch nie. Die Themen geben jedoch Auskunft darüber, was der Partei- und Staatsführung Sorgen bereitet. Beim diesjährigen Volkskongress, der in der vergangenen Woche endete, wurden vor allem Maßnahmen zur Lenkung der Wirtschaft und zum Umgang mit sozialen Protesten beschlossen.
Im Februar war das Handelsdefizit so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr, weil die Importe deutlich schneller wachsen als die Exporte. Zudem ist das Wirtschaftswachstum stark von der weltweiten Überakkumulation abhängig, so dass auch die »Fabrik der Welt« unter der Finanzkrise leidet. Dennoch verbucht die Volksrepublik elf Prozent der globalen Exporte und hat die USA und Deutschland wohl auf Dauer abgehängt. Innerhalb der Partei verschärfen sich aber die Konflikte, insbesondere im Hinblick auf den zukünftigen Kurs der Wirtschaftspolitik.
Ein Opfer dieses Konflikts wurde Bo Xilai, bis zum 15. März Parteichef der Metropolregion Chong­qing. Wang Lijun, der Polizeichef Chongqings, soll nach Korruptionsvorwürfen in das US-Konsulat in Chengdu geflüchtet sein und dort Asyl beantragt haben. Xilai musste dafür die Verantwortung übernehmen und zurücktreten. Die Absetzung erfolgte einen Tag nach dem Ende des Kongresses, weil die Veranstaltung dadurch nicht überschattet werden sollte.
In der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), in der Patronagebeziehungen, Klientelismus und Korruption zum Alltag gehören, geht es indes nicht um den Vorfall an sich. Vielmehr bot er einen Vorwand, um sich Bos zu entledigen. Dieser ist ein einflussreicher Vertreter des sogenannten linken Flügels, er setzte sich für einen starken, in die Wirtschaft eingreifenden Staat ein, propagierte aber auch eine neomaoistische Kulturpolitik und ließ die Bevölkerung gerne patriotische Lieder singen. Die Finanzkrise hat auch in China den Glauben an den Markt erschüttert, wodurch der »linke« Flügel an Einfluss gewinnen konnte.

Der Rücktritt Bos ist ein Sieg der »liberalen« Fraktion um Premierminister Wen Jiabao, die sich für eine konsequente Fortführung der wirtschaftlichen Öffnung einsetzt. Wichtige Posten sollen im kommenden Oktober neu besetzt werden, auch Wen wird seinen Posten räumen. Die Absetzung Bos schwächt die Verhandlungsposition des »linken« Flügels.
Zwar scheint ein prognostiziertes Wachstum von acht Prozent eine sehr angenehme Grundlage für die Partei zu sein, doch das Regime legitimiert sich fast ausschließlich mit dem wirtschaftlichen Erfolg, keineswegs durch die Stärkung der »sozialistischen Demokratie«, die Wen stets propagiert. Ein Rückgang des Wirtschaftswachstums birgt die Gefahr, dass Proteste zunehmen. Bereits in den vergangenen Jahren kam es häufiger zu Demonstrationen, bzw. »Massenzwischenfällen«, wie die Parteiführung sie nennt. Im Ausland erregten vor allem die Inhaftierungen des Künstlers Ai Weiwei und des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, aber auch die Selbstverbrennungen tibetischer Mönche Aufmerksamkeit. Die meisten Proteste haben jedoch soziale Ursachen.
Zu diesen zählen die steigenden Lebenshaltungskosten in den Städten, der Unmut über eine ex­trem ungleiche Verteilung des Reichtums, die so gar nicht in die kommunistische Ideologie passt, und steigende Mieten. Die bäuerliche Bevölkerung protestiert meist gegen Landenteignungen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, Klagen gegen Maßnahmen, die auch nach chinesischem Recht als illegal gelten, sind aussichtslos. Die ökonomische Öffnung Chinas ging nicht mit einer Demokratisierung oder nennenswerten Stärkung von Bürgerrechten einher. Das repressive Einparteienregime lässt sich immer schwerer rechtfertigen.
Insofern ist es wenig verwunderlich, dass die chinesische Führung die Befugnisse der Repressionsorgane erweitert. So sieht eine Änderung des Strafrechtsverfahrens vor, dass mutmaßliche Regimegegner nun schon bei vagen Verdächtigungen sechs Monate an einem unbekannten Ort inhaftiert werden dürfen. Jedes Gespräch mit einem Anwalt kann den Verdächtigen verweigert werden. Menschenrechtsgruppen kritisieren dies als eine Einladung zum Foltern. »Häusliche Überwachung« nennt man dieses Vorgehen, das in der Vergangenheit bereits Anwendung fand, doch erst jetzt zweifelsfrei zulässig ist.

Ein solches Vorgehen legitimieren sollen Straftaten wie »Untergrabung der Staatsgewalt«. Dieser Vorwurf kann gegen intellektuelle Dissidenten, Streikende oder auch Protestierende in den Provinzen Tibet und Xinjiang erhoben werden. Immerhin sieht die Reform vor, dass Angehörige binnen 24 Stunden über eine Festnahme informiert werden müssen, überdies soll die Verurteilung von Jugendlichen sowie von Menschen mit Behinderung zu Strafen in Umerziehungslagern und Gefängnissen erschwert werden.
Die Änderung des Strafrechtsverfahrens traf bei den Delegierten auf überraschend wenig Zustimmung. Von den knapp 3 000 Delegierten stimmten 160 gegen den Reformvorschlag, 57 enthielten sich. Angesichts der ansonsten üblichen Einmütigkeit ist das bereits eine herbe Kritik an der Politik des Premierministers Wen Jiabao.
Die Konflikte in den Provinzen Tibet und Xianjing wurden auf dem Kongress kaum thematisiert. Lediglich Kritik am Dalai Lama und der Hinweis Jiabaos, dass wirtschaftliches Wachstum auf Dauer nur durch die Einbeziehung nationaler Minderheiten möglich sei, darf als Zeichen gedeutet werden, das bezüglich der Politik gegenüber Tibet und Xianjing keine Änderungen zu erwarten sind.

Verbesserungen wurden hingegen den Bauern versprochen. Bei 60 Prozent der 180 000 im vergangenen Jahr offiziell registrierten »Massenzwischenfälle« ging es um die Aneignung von Land durch Unternehmen und Parteifunktionäre. Wen versicherte den Bauern, dass ihre Landnutzungsrechte nicht in Frage stünden und die illegale Landnahme unterbunden werde. Proteste sind im ländlichen Raum häufiger als in den Metropolregionen. Gerade bei den Bauern, die verhältnismäßig wenig vom Wirtschaftswachstum profitieren, machte sich in der jüngeren Vergangenheit Unmut breit. In den vergangenen Jahren hat sich das Bildungsniveau auch auf dem Land verbessert und viele Bauern kennen nun ihre Rechte. Die meisten Enteignungen sind nämlich illegal.
Fraglich ist, ob sich die Bauern mit dem Versprechen Wens zufrieden geben werden. »Vor zehn und sogar fünf Jahren haben sich die Menschen vor allem für materielle Vorteile interessiert«, meint der Politiologe Liu Yu. Der Aufstand in Wukan, wo Bauern Kommunalwahlen erzwingen konnten, habe jedoch bewiesen, dass nun »sogar die Bauern denken, dass sie ihre eigenen Organisationen haben müssen«.