Das Buch »Kapitalismus Forever« von Wolfgang Pohrt

Wie in der Steinzeit

Wolfgang Pohrt kapituliert vor dem Kapitalismus.

Wolfgang Pohrt ist zurück. Nach zehnjähriger Abstinenz holt er mit einem Essay zum Rundumschlag aus. »Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam« will Pohrt auf gut 100 Seiten erklären und dabei das Versagen einer immer noch verblendeten und in ihrer Marginalität verzweifelten Linken vorführen. Am Pohrtschen Ansinnen und Auftreten hat sich damit erwartungsgemäß wenig verändert.
Wie der Versuch eines Comebacks liest sich das Bändchen aber nicht, eher wie das Testament eines Kritikers, dem sich mit Erreichen des Rentenalters endlich die Sinnlosigkeit des eigenen Unterfangens offenbart hat: »Wir« hätten verloren, sinniert Pohrt, alles sei eitel und man sei schon immer die »Mumie« gewesen, die einem nun im Spiegelbild entgegentrete. Die von Adorno zehrende Einsicht in »das ungelebte Leben«, das nichts Richtiges im Falschen kenne, lässt sich dafür noch ein letztes Mal bemühen. Doch gibt sie nur noch die Vorlage für ein Lamento ab. Gespickt ist das mit der Häme über die unbelehrbaren Weggefährten einschließlich des eigenen Verlegers, deren spießbürgerliches »Durchhaltvermögen« recht eigentlich von der »Preisgabe aller revolutionären Hoffnung« zeuge. Weit gefehlt, wer dahinter einen Defätisten vermutet: Das sei »nicht Resignation, sondern Realismus«.
Wie sieht sie nun aus, diese Realität, in der wir eher überleben als leben? Vor allem wird sie von einem für Pohrt in seiner Unverwüstlichkeit bewundernswerten, einem »wunderbaren« Kapital beherrscht. All die Krisen und revolutionären Umsturzversuche könnten ihm nichts anhaben, im Gegenteil, steige das Kapital doch aus einer jeden wie Phönix aus der Asche empor. Vor dem Hintergrund der erfolgreichen Integration der eigenen, einst revoltierenden Studentengeneration beschreibt Pohrt die schier grenzenlosen Absorptionskräfte des Kapitalismus. Wer könnte ihm hierin widersprechen? Doch vor der stahlharten Objektivität der Verhältnisse erscheinen bei Pohrt nun auch alle Versuche, noch die Aussichtslosigkeit der Gegenwart kritisch zu durchdringen, als lächerliche Anachronismen. So macht er sich über die marxistischen »Untergangsprognostiker« lustig, die weiterhin auf den kathartischen Zusammenbruch des Kapitalismus warten würden. Man fragt sich unwillkürlich, wo es sie denn noch gibt.
Und selbst für die von ihm einmal geforderte Hinwendung zur Theorie hat Pohrt nur noch Spott übrig. Im Gegensatz zu den unbelehrbaren Linken reklamiert er für sich, aus seiner Gegenwartsdiagnose endlich die zwingende Konsequenz gezogen zu haben: Kritik am Kapitalismus ist passé. Man kann ihn hassen oder bewundern (oder wie Pohrt auch beides zugleich), hat man aber einmal eingesehen, warum der Kapitalismus so hartnäckig und effektiv ist, dann wird man sich fragen müssen: Ist das Kapitalverhältnis nicht doch die »artgerechte Bestimmung« der Gattung Mensch? Pohrt weiß zwar immer noch genau, dass der Kapitalismus ein gesellschaftliches Verhältnis und gerade deshalb so wirkungsvoll ist. Doch weil niemand ernsthaft darum bemüht ist, dieses Verhältnis umzustürzen, befriedigt ihn diese Einsicht nicht mehr. Gepaart mit seiner sarkastisch-zynisch akzentuierten Bewunderung ergibt das nun auch bei Pohrt die altbekannte Anthropologisierung des Kapitals, seine Erklärung aus einer »Naturkonstante« im Wesen des Menschen. Der – beileibe nicht zu Unrecht – desillusionierte Kritiker vermeint den großen Tabubruch zu inszenieren, beweist aber nur, dass ihm dafür nichts Originelles mehr einfallen will. Warum sonst erzählt er ausgerechnet das abgegriffenste urbürgerliche Märchen?
Gegen die Überschätzung von Technik, Fortschritt und Zivilisation bringt Pohrt einen Vulgärdarwinismus in Stellung: Das Leben sei nach wie vor »Selbsterhaltung, Kampf ums Dasein«. »An den Spielregeln hat sich nichts geändert. Überhaupt ist alles wie immer. Die gleichen Sorgen wie in der Steinzeit.« Das lässt sich als Vulgarisierung einer These der »Dialektik der Aufklärung« lesen. Im Anschluss an Marx hatten Adorno und Horkheimer das Kapitalverhältnis als eine gesellschaftlich produzierte »zweite ­Natur« verstanden. Der eigentlich längst gesicherten menschlichen Selbsterhaltung komme damit, z. B. in Form der Konkurrenz, weiter zentrale Bedeutung zu. Pohrt lässt die dialektische Wendung einfach weg, die besagt, dass zugleich nichts mehr ist »wie in der Steinzeit«, weil mit dem kapitalistisch akkumulierten Reichtum auch erstmalig die Möglichkeit zur Überwindung dieses Anachronismus gegeben ist.
Der Blick auf Pohrts Metaphern lässt ahnen, dass er die Naturalisierung des Kapitalismus noch über eine solche Annahme gesellschaftlich produzierter naturhafter Verhältnisse hinaustreiben will: Gleich ein ganzer Zoo findet sich verteilt über die Seiten des Buchs zusammen: Vom Dinosaurier über das Krokodil mit dem winzigen Hirn, Ratten, Mäusen und Elefanten, bis hin zu den unvermeidlichen Heuschrecken darf in bester Tradition der Mandevilleschen Bienenfabel allerlei Getier zu Bebilderung der kapitalistischen Alltagspraxis herhalten. Ergo: Der Mensch ist halt einfach »ein grausames Tier«. Was als liberale Provokation des linken Geschichtsbewusstseins daherkommt, reproduziert schlicht die Sprache des Ressentiments (z. B. wenn Pohrt »die Proleten« sich »wie die Karnickel« vermehren lässt). Zur Stammtischdiktion hat Pohrt dann auch die passende These auf Lager: Vielleicht sei der Kapitalismus einfach ein »Derivat von übermächtigen Bevölkerungsgesetzen«, zwangsläufiger Effekt einer bestimmten Bevölkerungsdichte. Wieder einmal lässt die Bevölkerungstheorie von Thomas Robert Malthus grüßen und man fragt sich, ob Pohrt nicht merkt, welcher Denkfiguren er sich hier bedient. Ist doch die Demographie der Fetisch des reaktionären Zeitgeists geworden. Doch Pohrt gibt vor, nur konsequent zu sein, wobei er der »Logik« folgt: Ich denke den Gedanken, also ist er plausibel. Abgesehen von der Absurdität einer solchen »Begründung«, wundert man sich spätestens hier, was aus dem schlagfertigen Ideologiekritiker geworden ist, der über viele Jahre hinweg der Linken immer wieder vor Augen geführ hat, wie es in ihren Köpfen denkt.
Pohrt übersieht, dass er mit seiner ambivalenten Bewunderung der kapitalistischen »Naturkräfte« dem gesellschaftlichen Konsens vom Ende der Utopie das Wort redet. Dass man »Kapitalismus forever!« schreien will, wenn es auch im medialen Geschwätz plötzlich zum guten Ton gehört, den Kapitalismus irgendwie problematisch zu finden, sagt vor allem etwas über das eigene Distinktionsbedürfnis aus. Zudem rückt das Changieren zwischen dem an »die Marxisten« adressierten Vorwurf der Tatenlosigkeit und der Feststellung, dass sowieso nichts getan werden könne, den vormaligen Metakritiker der deutschen Bewegungslinken in ein neues Licht: Pohrt erscheint selbst als der Geist des enttäuschten Aktionisten und Revolutionärs.
Durchweg kann Pohrt an alte, oft treffende Einsichten anknüpfen – wie an die von ihm mit publizistischer Meisterschaft bekriegte wachsende Liebe der deutschen Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre zu Heimat, Volk und Vaterland. Es ist kein Zufall, dass zwei retrospektiv und mit nostalgischem Unterton zitierte Passagen aus diesen Jahren trotz aller Patina die lesenswertesten Seiten des Buches sind. Nähert sich Pohrt Phänomenen der Gegenwart, so scheint es jedoch um die alte, seziermesserschafte Urteilskraft geschehen zu sein. Zwar verkennt er den erbosten Öko-Bürger-Mob der »Stuttgart 21«-Proteste nicht. Doch während er früher genussvoll über dessen verdruckstes Deutschtum hergefallen wäre, zeigt er heute bei aller zugestandenen Lächerlichkeit sogar Verständnis für die käferschützenden Baumbesetzer. Der Pohrt! Man traut seinen Augen nicht, wenn er den stupiden Aktionismus als letzten Widerstand vor dem »Abtauchen in die lebenslange Tretmühle« missversteht und plötzlich die Vergeblichkeit des Protests das Problem ist, nicht aber die Ideologie, die sich in ihr materialisiert.
Richtig finster wird es beim Thema Islam. Konstatiert Pohrt zunächst noch treffend, dass sich heute jeder »Idiot« für einen Islamspezialisten halte, hat man schon wenige Zeilen darunter das Gefühl, nun endgültig am linksliberalen Stammtisch gelandet zu sein. Dort lässt Pohrt die »Moslemfresser« der Internetforen zu den neuen SS-Männern mutieren. Damit ist das intellektuelle Subniveau der offiziösen deutschen Antisemitismusforschung der Marke Wolfgang Benz erreicht, die hinter jedem kritischen Wort über den Islam einen Breivik vermutet und in »den Moslems« die neuen Juden entdeckt hat. Ohnehin erledigt der alte Ideologiekritiker das Problem des Islamismus im Handstreich und unter Zuhilfenahme eines Materialismus der dummen Kerle: »Allah ist groß – aber ein Cadillac ist größer.«
Im Anschluss werden dann Pröbchen aus dem Giftschrank der konformistischen Rebellion, des selbsternannten Tabubrechertums und der pubertären Provokation kredenzt: So fordert Pohrt Mitleid für den zwangsverheirateten muslimischen Mann. Die Zwangsheirat unterscheide sich ohnehin gar nicht so sehr von modernen Ehen, in denen sich viele Frauen aus Liebeskummer umbrächten. Weil dann die CDU/CSU als ausgewiesene christliche Parteien noch zu den deutschen Moslembrüdern erklärt werden, ist die alles entscheidende Frage zum Thema Islamismus hinreichend geklärt: »Ist es hier denn anders?« Wo jede Differenz verloren geht, darf auch die 9/11-Relativierung nicht fehlen: Von Ussama ausgeführt, stamme das »Drehbuch« dazu selbstverständlich aus Amerika. Der Islamismus zeuge somit nur von fortgeschrittenster »Verwestlichung« und ohnehin glichen sich »die Fundis in Teheran und Washington«.
Der Essay bestätigt also die Vermutungen, die man nach Pohrts letztem Auftritt im Jahre 2003 hegen musste, auf dem er mit kruden Thesen zur angeblichen gesellschaftlichen Irrelevanz des Antisemitismus und zur Notwendigkeit der größeren »sozialen Kontrolle« von »Ausländern« provoziert hatte. Nur in einzelnen Momenten blitzt noch die alte Brillanz auf, wie in dem rettenswerten Bonmot: »Denunziation ohne Selbstdenunziation ist öde.« Immerhin ist darin eine Einsicht formuliert, die so manchem selbsternannten »Ideologiekritiker« zu wünschen wäre. Beherrschte Pohrt, im Gegensatz zu vielen seiner selbstgerechten Epigonen, die Polemik einmal mit großer Souveränität, gerade weil sie bei ihm nicht bloß ein inhaltsleerer Gestus, ein Schießen um des Schießens willen war, sondern die Schärfe der Form mit der Treffsicherheit des Arguments einherging, so praktiziert er heute eine Verfallsform von Kritik. Die Provokation gerinnt zum Selbstzweck, zur leeren Form, die von keinerlei ernstzunehmender inhaltlicher Auseinandersetzung mehr zeugt. Daher rührt wohl auch ihre Affinität zum Stammtisch und hemdsärmeligen Ressentiment, die an so vielen Stellen auffällt und mit der Pohrt, was den politischen Gehalt angeht, noch weit hinter seine Epigonen zurückfällt. Das subjektive Bescheidwissen, getragen vom Gestus des »Wartet nur, bis Ihr in mein Alter kommt«, das sich auf nichts als die eigene »Lebenserfahrung« beruft, tritt an die Stelle der Ideologiekritik, die sich allein im Ringen mit ihren Gegenständen zu schärfen vermag.
Der große Knall, den die bewusst arrangierte Hybris des Titels verspricht, bleibt letztlich aus. Pohrts Geschosse wollen einfach nicht mehr in ihrem Ziel einschlagen. Das liegt auch daran, dass sie oft auf Pappkameraden statt auf reale Gegner gerichtet sind. Zur Lektüre sei daher die 2010 erschienen Textsammlung »Gewalt und Politik. Ausgewählte Reden & Schriften 1979–1993« empfohlen, die man im Gegensatz zur vorerst letzten Wortmeldung von Wolfgang Pohrt mit ebensoviel Genuss wie Erkenntnisgewinn lesen kann.

Wolfgang Pohrt: Kapitalismus Forever. Über Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam. Edition Tiamat, Berlin 2012. 111 Seiten, 13 Euro