Thomas Meinecke lehrt Poetik in Frankfurt

Dildo for One

Thomas Meinecke übernimmt an der Frankfurter Goethe-Universität die Gastdozentur für Poetik.

Thomas Meinecke hat das Kunststück fertig gebracht, zu polarisieren, ohne auch nur ein einziges »eigenes« Statement zu formulieren. Wie geht das? Eigentlich recht einfach: Meinecke, der in diesem Jahr die Frankfurter Poetikdozentur übernommen hat, hat in seinem Eröffnungsvortrag nichts anderes getan, als ausschließlich Beiträge über sein unablässig als Gender-Roman apostrophiertes 1998 erschienenes Buch »Tomboy« zu zitieren.
Dass in dieser Zitatsammlung immer wieder eine Szene auftaucht, in der zwei Frauen Sex mit einem Umschnalldildo haben, sorgte für pikierte Tuschelei im Hörsaal. Der eigentliche Anlass zur Empörung lag aber woanders. Als sich nach etwa zehn Minuten abzeichnete, dass die gesamte Vorlesung aus montierten Zitaten bestehen würde, verließen die ersten ungehaltenen Zuhörerinnen und Zuhörer den Saal. Narzissmus, Arbeitsverweigerung und Lächerlichmachung der Poetikvorlesungen wurden Meinecke später vorgeworfen.
Es geht schließlich nicht um irgendeinen Vortrag: Die Poetikvorlesungen sind eine feste Institution im deutschen Literaturbetrieb. Nicht selten besuchen über 500 Zuhörerinnen und Zuhörer die Vorlesung. Es kommen Professoren, Professorinnen, Verlagsleute, Studierende und nahezu das gesamte Frankfurter Bildungsbürgertum. Sie alle versprechen sich nicht nur einen Einblick in das schriftstellerische Schaffen einer wichtigen zeitgenössischen Autorin bzw. eines Autors, sondern auch so etwas wie eine moralisch-ästhetische Zeitdiagnose. Wer die Poetikdozentur innehat, darf sich in einer Reihe mit Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Günter Grass und Christa Wolf sehen. Meinecke, dessen neuer Roman »Lookalikes« gerade erschienen ist, gehört nun dazu – zu den großen deutschen Autorinnen und Autoren nach 1945. Und das völlig zu Recht: Seine Texte stehen innerhalb der Postmoderne für eine avancierte politische und literarische Ästhetik, die formal wie inhaltlich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einzigartig ist.
Angesichts der prominenten Ahnenlinie liegt es auf der Hand, dass es sich bei der Poetikvor­lesung mitunter um eine ziemlich narzisstische Veranstaltung handelt. Das bringen die nicht unbescheiden gewählten Titel zum Ausdruck, unter die etwa Andreas Meier 2006 und Sibylle Lewitscharoff 2011 ihre Vorträge stellten: »Ich« bzw. »Vom Guten, Wahren, Schönen«. Dass sie sich vor lauter Verliebtheit in ihr Spiegelbild in selbiges stürzen, ist aber nur eine der Gefahren, in die die Autorinnen und Autoren sich begeben. Sie geben zugleich auch noch die Projektionsfläche für ein Publikum ab, das zuweilen von einem heftigen Begehren angetrieben wird: dem nach einem Autorensubjekt zum Anfassen, das den Schlüssel zum Verständnis seines Werkes preisgibt. Wird diese Erwartung enttäuscht, fallen die Reaktionen schon einmal heftig aus. Das Publikum ist also immer schon fester Bestandteil des Textes, den der Autor vorträgt – ob er will oder nicht.
Meinecke baute einen Plattenspieler auf und legte zum Auftakt seiner Vorlesungsreihe den Song »False Start« von Bikini Kill auf. Anschließend zitierte er Texte über seinen Roman »Tomboy«. Konsequenter kann man die Erwartungen, die mit der Poetikdozentur verbunden sind, nicht enttäuschen. Ihre Spielregeln hat der Autor zwar mit der Annahme der Dozentur anerkannt. Allerdings steht er in der Tradition der Dekonstruktion: Es gilt, mit den Spielregeln gegen diese zu spielen. Sein Auftritt ist auf den ersten Blick an Selbstverliebtheit kaum zu überbieten. Andererseits ist auch kaum eine Geste denkbar, die deutlicher machen würde, dass die Idee autonomer Autorschaft eine anmaßende Selbstüberhöhung ist: Meinecke macht sich in seiner Vorlesung zugleich zur erzählten Figur. »Ich als Text« lautet der Titel seiner Vorlesungsreihe.
Meinecke hat mit seiner Aneinanderreihung von Zitaten eine brillante, eigentlich aber unspektakuläre Performance zur Dekonstruktion des Autorbegriffs geliefert. Und innerhalb dieser Performance ist er sehr wohl als Autor aufgetreten: Er hat die Texte gesammelt, geordnet, ausgewählt und arrangiert. Nicht anders gehen »klassische« Autorinnen und Autoren vor. Wer, wie man so schön sagt, zwischen den Zeilen lesen kann, wird in den vorgetragenen Zitaten zugleich eine präzise Beschreibung von Meineckes Erzählweise erkannt haben.
Bedeutung und Sinn entstehen in seinen Texten durch permanente Wiederholungen und Zitation. Jede Wiederholung führt aber auch zu einer Verschiebung der Bedeutung. Die Szene mit dem Umschnalldildo kommt im Roman ein einziges Mal vor. In der Vorlesung wurde sie aber viele Male wiederholt – weil sie in Texten über den Roman permanent zitiert wird. Das funktioniert letztlich nicht anders als »Dinner for One«.
Beim ersten Mal zitiert, bleibt das Zitat noch ohne Bedeutung und geht unter in dem Strom der Worte. Wird sie ein zweites Mal zitiert, wird man bereits hellhörig. Die dritte Wiederholung verstärkt den Eindruck der Bedeutsamkeit, die weiteren Zitationen führen aber schon dazu, dass die ganze Sache ins Komische kippt. Man beginnt zu lachen. Warum man lacht, weiß man allerdings gar nicht so genau. Vielleicht, weil man die Funktionsweise unserer Sprache vorgeführt bekommt und mit dem Lachen die Beunruhigung darüber zu bannen versucht?
Ohne Wiederholung und Zitat gibt es keine Bedeutung, keine Sprache, keine Kultur und auch keine Politik. Es ist die politische Dimension von Meineckes Schreiben, dass es dieses Strukturprinzip sichtbar macht. Vor zwei Jahren sprang er der des Plagiats geziehenen Autorin Helene Hegemann zur Seite. »Bei meiner Definition des Autors«, erläuterte Meinecke, »müsste ein Bewusstsein dafür herrschen, woraus er gemacht ist. (…) Am Autonomen, Authentischen, Geschlossenen habe ich kein Interesse. Das ist mir zu maskulin, zu patriarchal, zu unhinterfragbar.« Günter Grass und Sibylle Lewitscharoff spielten sich in der Debatte als Kunstpolizei auf und verteidigten in ihrer »Leipziger Erklärung« einen reaktionären Begriff von Autorenschaft und Kunst: »Kopieren ohne Einwilligung und Nennung des geistigen Schöpfers wird in der jüngeren Generation, auch aufgrund von Unkenntnis über den Wert kreativer Leistungen, gelegentlich als Kavaliersdelikt angesehen. Es ist aber eindeutig sträflich – ebenso wie die Unterstützung eines solchen ›Kunstverständnisses‹.«
Was die Unterzeichner der Leipziger Erklärung nicht verstanden haben, hat Meinecke durchschaut: Die Macht der Sprache entsteht durch permanentes Zitieren. Die Macht des Zitierens hat er mit einem kleinen Kunstgriff in seiner Wirkmacht offengelegt: In dem Moment, in dem er sich als Autor völlig zurückgenommen hat, hat er sich zugleich als machtvoller Autor in Szene gesetzt.