Spricht mit Katja Kullmann über ihr Buch »Echtleben« und ihr echtes Leben

Wir nennen es nicht Armut

Die Journalistin Katja Kullmann erzählt in ihrem autobiographischen Buch »Echtleben« von ihrer eigenen prekären Existenz als Kulturschaffende.

Das Telefongespräch mit der Journalistin Katja Kullmann verschiebt sich um eine halbe Stunde, weil sie noch mit ihrem Verlag telefonieren muss. Sie schickt eine Mail und entschuldigt sich. Ihr Verlag ist der Eichborn-Verlag, dort ist vor wenigen Wochen ihr drittes Buch, »Echtleben«, erschienen.
Damit ist die Pointe der Geschichte, ihrer Geschichte, vorweggenommen: Der Eichborn-Verlag hat vor ein paar Wochen Insolvenz angemeldet, und es ist noch nicht klar, ob sie ihr ausstehendes Honorar vollständig bekommt. In »Echtleben« berichtet Kullmann davon, wie schwer es heutzutage ist, mit Texten und Inhalten, mit Journalismus, Geld zu verdienen.
Doch von vorne: In ihrem Buch »Echtleben« erzählt die Autorin entlang ihrer eigenen Biographie von einem Jahrzehnt verschärfter Flexibilisierung. 2002 erschien ihr erstes Buch. »Generation Ally. Warum es heute so kompliziert ist, eine Frau zu sein« war so etwas wie die feministische Version von »Generation Golf«. Es wurde ein Bestseller und brachte der damals 30jäh­rigen genug Geld ein, um all die Träume, die sie im Buch beschrieben hatte, verwirklichen zu können. Sie kündigte ihren Job als Redakteurin beim Magazin Prinz in Frankfurt am Main und zog nach Berlin, um dort als freie Autorin zu arbeiten.
Wohin auch sonst? In Berlin eröffneten damals die ersten Cafés, in denen es freies W-Lan gab. An jeder Straßenecke war das Zauberwort »kreativ« zu hören. Dass die Lebenshaltungskosten in Berlin vergleichsweise niedrig und insbesondere die Altbauwohnungen in den Innenstadtbezirken schön billig waren, beförderte den Hype. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit prägte den Satz, Berlin sei »arm, aber sexy«.
2006 erschien mit »Wir nennen es Arbeit« das Manifest der selbsternannten digitalen Boheme. Der Internetexperte mit dem Irokesenschnitt, Sascha Lobo, hat das Buch mit seinem Kollegen, dem Journalisten und Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur, Holm Friebe, verfasst. Lobo und Friebe erzählten in Interviews davon, wie toll es sei, mit den Macbooks in Cafés zu sitzen, die Arbeitszeiten und sogar die Art der Arbeit selbst bestimmen zu können. Prokrastination, auch Erledigungsblockade oder Studentensyndrom genannt, waren die neuen Überstunden.
Katja Kullmann machte andere Erfahrungen: Sie bekam die Probleme dieser Stadt und auch ihrer eigenen beruflichen Situation zu spüren. 2006 sei das Jahr gewesen, in dem es für sie langsam bergab ging, erzählt sie in unserem Telefonat: »Ich las damals schon viel über die neuen Ausbeutungsmechanismen in der sogenannten Kreativwirtschaft und wurschtelte eben auch selber so vor mich hin. Finanziell ging es mir immer schlechter, und ich lernte all diese interessanten, funkelnden Berlin-Menschen kennen, doch niemand schien glücklich, fast alle erzählten von ihrer Therapie. Das war etwas, was ich aus Westdeutschland gar nicht kannte: diese Vielzahl von Psychotherapien in meinem Umkreis – als hätten alle irgendein individuelles Problem.«
An einem Tag im Winter 2007 – im Buch nennt sie ihn den Tag X – musste sie sich der Realität stellen: »Zwei große Aufträge waren geplatzt, und mein finanzielles Polster war aufgebraucht. Es war Anfang des Monats, und es kam kein Geld mehr aus dem Automaten. Ich war 37 Jahre alt, es war kurz vor Weihnachten, ich war pleite und dachte: Kullmann, das hättest du doch sehen müssen.«
Sie beschließt, aufs Amt zu gehen, das mittlerweile einen anderen Namen trägt: Es heißt »Jobcenter«, und der Mensch hinter dem Schreibtisch nennt sich »Berater«. Deprimierend und entwürdigend ist es dort trotzdem. Als Freiberuflerin hat sie kein Anrecht auf Arbeitslosengeld 1 oder irgendeine Fördermaßnahme der Arbeitsagentur, des ehemaligen Arbeitsamts. Diese Möglichkeit wird nur denjenigen, die zuvor eine Festanstellung hatten, für kurze Zeit eröffnet. Alle anderen erhalten Hartz IV. Dass es so wenig Geld gab, war dabei nicht mal das Schlim­mste. »Ich durfte nur 100 Euro im Monat dazuverdienen und die Stadt nicht verlassen.« Fortan wird ihr das Freiberuflerdasein noch schwerer gemacht, als es bisher bereits war. »2008 war ein dunkles Jahr. Ich habe immer weiter gearbeitet, sogar mehr als jemals zuvor. Es gab Momente, da habe ich 58 Euro für einen Kulturaufmacher von einer Tageszeitung bekommen, also habe ich mich immer wieder beim Jobcenter an- und abgemeldet.«
Vielleicht sind Journalisten prädestiniert dafür, nicht zu spüren, wie arm sie wirklich sind, weil sie über ihren Presseausweis Zugang zu Dingen haben, die sie sich von ihrem Gehalt gar nicht leisten könnten. Sie erhalten Bücher, Platten, Gästelistenplätze auf Konzerten, Partys, Empfängen, Akkreditierungen in Theatern, Kinos, Ausstellungen und Zugang zu den verschiedensten Personen, Milieus und Institutionen. Selbstbild und soziale Realität des prekären Journalisten weichen so erheblich voneinander ab.
Katja Kullmann stimmt dem zu: »Ich hatte immer dieses Überfliegergefühl und dachte: ›Ich blicke doch durch.‹ Ich bin schließlich privilegiert und habe eine gute Ausbildung. Aber all das kann den Blick darauf verstellen, wie es wirklich um einen steht.« Mit dieser Problematik ist sie nicht allein: »Ich meinte, in einer Zukunftsbranche zu arbeiten, und dachte: Das sind Übergangsphasen.«
Dabei ging es im Journalismus längst immer weniger ums »Berichten« als vielmehr ums »Verkaufen«. Rückblickend sagt sie: »Letztlich hat mein Idealismus mich damals beinahe ruiniert. Denn ich habe immer strikt getrennt zwischen PR und Journalismus. Das war der Luxus, den ich mir gegönnt habe: Niemals einen Newsletter für einen Turnschuhhersteller verfassen, sondern meinen Beruf ernst nehmen und immer auf der journalistischen Seite bleiben.« Doch für Modestrecken oder gesponserte Fashion-Blogs gibt es deutlich mehr Geld als für ernsthafte Essays über Feminismus.
Die feministischen Ideale, die sie in »Generation Ally« optimistisch formuliert hatte, wollte sie nie aufgeben: »Wir wollten es anders machen als unsere Müttergeneration. Vielleicht wollte ich sogar so was wie ein Vorbild sein. Doch heute sind Frauen das noch flexibilisiertere Geschlecht, fleißiger, strebsamer und trotzdem die ökonomischen Verlierer.«
Hat sie auch deswegen gegenüber Freunden und Kollegen nichts über ihre Finanznöte gesagt? »Bestimmt. Ich kannte ja diesen Gossip, diese Konkurrenz unter den angeblich so fröhlich vernetzten Berliner Kreativen, das böse Gerede. Und gerade Frauen werden gern patholo­gisiert. ›Die ist depressiv‹ oder ›die säuft‹, heißt es ganz schnell. Das erzeugt natürlich Angst davor, wie man selber gesehen wird, wenn man die eigene Armut öffentlich macht.«
Aber nicht nur ihr geht es so: »Über Geld und Finanzen wurde nie konkret geredet. Alle affirmierten den Diskurs über das Medienprekariat und dichteten die tollsten, ironischen Songtexte dazu. Aber die eigene Angst wurde fast nie thematisiert. Viele bekamen wohl auch mit Ende 30 noch Unterstützung von ihren Eltern. Klar, dass man das für sich behält.«
In »Echtleben« beschreibt sie anschaulich, dass in der Kreativbranche tätige Leute zumeist gegenüber Freunden und Kollegen verschweigen, wovon man eigentlich lebt und wie viel man zur Verfügung hat. Geld ist das Tabuthema der Kulturarbeiter.
Pleite darf jeder schon mal sein, arm aber nicht. »Armut« ist ein Tabuwort unter den Jungen, Hippen, Klugen und Gebildeten. Arm sind andere. »Es muss eine neues Solidaritätsverständnis erreicht werden«, meint Katja Kullmann. »Durch meine Bildung bin ich eine Gewinnerin, aber realistisch gesehen habe ich ökonomisch mehr mit der Putzfrau in den Redaktionsräumen gemeinsam als mit dem ­Herausgeber, der mir in seinem Büro einen Auftrag erteilt.«
Eigentlich ist das Buch die Antwort auf »Wir nennen es Arbeit«, das Jubel-Manifest der Berlin-Mitte-Schönredner. Es vermittelt einen Eindruck davon, wie vielfältig die Formen der Armut heute sind und hinter welchen modischen Fassaden sie sich versteckt.
Katja Kullmann veranschaulicht präzise, wie belastend der ständige Zwang zur Selbstvermarktung und Selbstoptimierung ist, und ordnet ihre subjektiven Erfahrungen in einen größeren Zusammenhang ein. »Echtleben« ist ein wichtiges Buch, denn die Autorin beschreibt nüchtern und unverklärt die individuellen Folgen der Medienblase und räumt endgültig mit der Mär vom selbstbestimmten und zufriedenen Leben der Kreativarbeiter auf.

Katja Kullmann: Echtleben. Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben. Eichborn, Frankfurt am Main 2011, 256 Seiten, 17,95 Euro