Psychotests für Hartz-IV-Empfänger

Clear the Stats

Um für positive Statistiken bei der Jobvermittlung zu sorgen, scheuen die Arbeitsagenturen nicht davor zurück, Hartz-IV-Empfänger sogenannten Psychotests zu unterziehen. Wer dabei schlecht abschneidet, dem kann es passieren, fortan als »Behinderter« zu gelten.

Das Nachrichtenmagazin »Monitor« berichtete im Jahr 2009 über den Fall von Doris Kruse aus Mecklenburg-Vorpommern. Frau Kruse, zweifache Mutter und Hartz-IV-Empfängerin, wurde von der zuständigen Arbeitsagentur zu einem sogenannten Psychotest aufgefordert. Weil Frau Kruse eine Arbeit antreten wollte und ihr suggeriert wurde, der Test sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin, absolvierte sie ihn. Der Bescheid, den sie wenig später per Post zugestellt bekam, offerierte ihr keine neue Anstellung, sondern attestierte ihr – von diplomierten Psychologen bestätigt –, dass sie geistig behindert sei. Durch diese Klassifikation konnte das mecklenburgsiche Jobcenter sich von der Aufgabe entbinden, Doris Kruse in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu vermitteln, in eines, dass ihrer beruflichen Laufbahn – sie hatte zuvor jahrelang in einem städtischen Kindergarten gearbeitet – vielleicht ein wenig besser entsprochen hätte. Stattdessen wurde sie nun an die Behindertenwerkstätte der Rheinischen Landespflege überstellt, um dort in der »Landschaftspflege« zu arbeiten.

Landschaftspflege ist im Vokabular der arbeitspolitischen Zwangsverordnungen bekanntlich das euphemistische Wort für niedere, monotone Tätigkeiten, vom Laubsammeln bis zum Unkrautjäten. Als »Behinderter« bekommt der Arbeitnehmer dafür noch weniger Lohn als sonst, einen Lohn, der eher Taschengeldcharakter hat. Frau Kruse war also nicht in einen Ein-Euro-Job gesteckt worden, in dem unzähligen Menschen dieselben stumpfsinnigen Tätigkeiten verordnet werden, dessen angebliches Ziel aber darin besteht, dass die Arbeitslosen in ein vermeintlich festes Arbeitsverhältnis »reintegriert« werden. Nein, sie war wie mit Zauberhand und ganz ohne »Rehabilitationsmaßnahmen« plötzlich in einem »festen Beschäftigungsverhältnis« gelandet und raus aus der Statistik. Wahrscheinlich wurde ihr Jobvermittler dafür von seiner Arbeitsagentur mit einem Schulterklopfen oder sogar mit einer Vertragsverlängerung belohnt. Bei der Rheinischen Landespflege beruhigte man die aufgebrachte Doris Kruse derweil mit menschenverachtender, entmündigender Anerkennungsrhetorik: Man werde schon dazu beitragen, dass sie lerne, sich als Behinderte »anzunehmen«.
Seit dem Jahr 2006 ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger, denen ein »Psychotest« – eigentlich handelt es sich um eine sehr reduzierte Form von Intelligenztest – empfohlen wird, bundesweit von 33 490 auf 63 877 gestiegen. In Berlin-Brandenburg hat sie sich in dieser Zeit fast verdoppelt. Im April dieses Jahres antwortete die Bundesregierung auf eine »kleine Anfrage« der Abgeordneten Katja Kipping und Diana Golze (Linke). Sie wollten unter anderem wissen, wie viele Erwerbslose aufgrund des Testverfahrens an Schwerbehindertenwerkstätten überstellt oder in Psychiatrien überwiesen worden seien. Eine präzise Antwort darauf konnte die Bundesregierung nicht geben.
Das Ziel der Selektion durch »Psychotests« ist die Verbesserung der Statistiken der Arbeitsagenturen, die Produktion einer Erfolgsquote der Arbeitsvermittler. Was mit dem Zahlenmaterial der »Erwerbslosen« anschließend passiert, lässt sich den Statistiken nicht entnehmen. Es gibt darüber keine verwertbaren Angaben. Auch die Kriterien, nach denen die Testmaterialien ausgewählt und zusammengestellt werden, sind nicht leicht zu rekonstruieren.

Auf diese Weise bleibt der »Psychotest« das große Geheimnis, das Angst macht – das gehört zum Spiel dazu, ja ist vielleicht dessen wesentlicher Sinn. Wenn die Bevölkerung in diesen Tagen in einer großangelegten Medienkampagne, vor allem der Berliner Boulevardzeitung B.Z., ausführlich über die »Psychotests« und ihre Inhalte informiert wird, verstärkt dies nur die Drohung, dass es jederzeit jeden treffen kann. Gleich einem Superunternehmer wendet der Staat die jedem Sparkassenangestellten bekannten Einstellungstests an, die eine Mischung aus Allgemeinwissen, Psychogrammen und kognitiven Fähigkeiten wie visuelle Wahrnehmung, logisches und begriffliches Denkvermögen abfragen sollen. Doch im Unterschied zum Bewerber bei der Sparkasse wird vom Hartz-IV-Empfänger nicht verlangt, für den Test zu lernen und sich weiterzubilden, um es ein zweites Mal zu versuchen. Im Gegenteil. Der Hartz-IV-Empfänger wird bloß noch als Arbeitskraftressource betrachtet, die abgefragt und notfalls abgeschoben wird. Seine Ausbildung soll er ja schon hinter sich haben. Das Testergebnis ist zugleich ein Urteil über die ganze Person. Was der Test feststellt, ist im wahrsten Sinn des Wortes festgestellt. Am Ergebnis lässt sich kaum mehr etwas ändern, wer es trotzdem versucht, muss befürchten, als verrückt zu gelten.
Seit der Debatte um die Thesen von Thilo Sarrazin ist »Intelligenz« der Kampfbegriff einer aggressiven, »leistungsorientierten« Selektionspolitik. Intelligenz wird verstanden als messbare Größe, die im Wesentlichen erblich sei. Determiniert sei diese Erblichkeit wiederum durch soziale Klassen und »ethnische Zugehörigkeiten«. All das ist bereits 1994 von dem Politikwissenschaftler Richard Herrnstein und dem Psychologen Charles Murray in ihrem Buch »The Bell-Curve« behauptet worden, aus dem Sarrazin wahrscheinlich einige Passagen übernommen hat. Fachkollegen und Kritiker waren schon damals über die pseudowissenschaftliche Argumentation der Autoren schockiert und wollten die Schrift nicht ernstnehmen. Die Ideologie der Messbarkeit von Intelligenz war historisch zunächst kein Instrument privatunternehmerischer Auswahlprozesse, sondern einer rassistischen, »leistungsorientierten« Bevölkerungspolitik des Staates. Henry Herbert Goddard, der erste »Intelligenztester« in den Vereinigten Staaten, behauptete Anfang des 20. Jahrhunderts, mit seinen Tests wissenschaftlich belegen zu können, dass alle Immigranten, mit Ausnahme derer, die aus Nordeuropa stammten, eine verblüffend niedrige Intelligenz aufwiesen.

Jeder Test legt unverrückbare Maßstäbe an, die stark standardisiert sind. Sie sehen von individuellen, sozialen und geschlechterspezifischen Erfahrungshorizonten ab, sie nehmen in Kauf, dass die Testsituation eine Zumutung ist, die jedes Denken im emphatischen Sinn von vornherein unmöglich macht. Es werden stets vor allem die befragt, die bereits verstärkt im Visier der Staatsapparate stehen. Alle anderen sind qua Staatsbürgerschaft und Arbeit von dieser staatlich organisierten Auswahl befreit. Im Jobcenter rückt man den Erwerbslosen indessen jenseits aller gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit mit einer internen »Ökonomie« auf den Leib: Ihnen wird weisgemacht, dass der Test ihre »Vermittelbarkeit« erhöhe, ihnen helfe, eine geeignete Arbeit zu finden, obgleich sie vor allem, und das auf immer repressivere Weise, als Material behandelt werden. Für dieses Material gilt vor allem eine Maxime: Raus aus der Statistik! Trotzdem wird dem Erwerbslosen suggeriert, dass die staatliche Institution als Superunternehmer die fachliche Souveränität besitze, jobspezifische Fähigkeiten abzufragen und schließlich sogar adäquat dem Arbeitsmarkt zuzuführen. Das ist der Staatssozialismus im Kapitalismus.
Durch den Psychotest wird den Einzelnen einmal mehr eingebleut, dass es an ihnen selber liege, wenn sie mittellos sind. Und zwar nicht nur, weil sie sich nicht bemühen, sondern neuerdings auch, weil sie ganz einfach nicht in ausreichendem Maß über die objektiv messbare Größe Intelligenz verfügen. Die Stigmatisierung Behinderter wird damit forciert: Der Behinderte ist zunehmend der, der nicht leistungsfähig ist und sein kann, und damit der Bodensatz einer Welt, in der Leistung und Arbeit die dominierenden Vergesellschaftungsformen sind. Nun könnte man hoffen, dass hier und da ein Hartz-IV-Empfänger dem Zwang zu stupider Arbeit durch Unzuständigkeitserklärungen entkommt. Doch das »Urteil«, ein Behinderter zu sein, stellt nicht frei von stupider Tätigkeit – das ist ein romantisches Märchen. Es ermöglicht im Gegenteil die billige, allumfassende Vernutzung des schon halb entmündigten Subjekts noch zu den anspruchslosesten und menschenunwürdigsten Tätigkeiten. Vom Staat für unzurechnungsfähig erklärt zu werden, ist der Tod als bürgerliches Subjekt. Daher wäre jedem Betroffenen zu empfehlen, sich einen Anwalt zu nehmen. Denn die Rechtshilfe steht auch dem Hartz-IV-Empfänger als bürgerlichem Rechtssubjekt noch zu.