Deutsche Kritiker über die »Thesen zur Literaturkritik« von Walter Benjamin

Unter Kannibalen

Die Literaturzeitschrift Neue Rundschau hat deutsche Kritiker nach ihrer Meinung zu Walter Benjamins dreizehn Thesen zur Literaturkritik von 1928 gefragt.

I.Wenn sich angesehene Kulturjournalisten in der Neuen Rundschau zu Walter Benjamins »Technik des Kritikers in dreizehn Thesen« (1928) äußern, dann verspricht das für den passionierten Feuilleton-Leser eine anregende Lektüre zu werden. Denn immerhin wartet Benjamin in seinen Notizen mit so martialischen Maximen wie dieser auf: »Der Kritiker«, so heißt es in der ersten These, »ist Stratege im Literaturkampf«. Die fünfte Regel klingt nicht weniger dogmatisch: »Immer muss ›Sachlichkeit‹ dem Parteigeist geopfert werden, wenn es die Sache wert ist, um welche der Kampf geht.« Sowieso schwer erträglich für den Mainstream dürfte auch Benjamins berüchtigte zehnte These sein: »Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«

II.Es verwundert also kaum, dass manche der Beiträger gleich lospoltern. Walter Benjamins historische Gedanken aus dem Fragment »Einbahnstraße« seien heutzutage nur noch als »Platitüde« oder »leninistisches Geschwätz« klassifizierbar, schreibt Gustav Seibt, Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Andere Kritiker äußern die Einschätzung, Benjamins Thesen seien bestenfalls noch als Satire zu lesen oder ganz und gar unhaltbar geworden, so etwa auch Ulrich Greiner (Zeit): »Man merkt, dass die Einbahnstraße rund 80 Jahre alt ist. Sie ist eine interessante Sackgasse, der Verkehr geht heute an ihr vorbei.«

III.Bemerkenswert sind aber auch einzelne Aktualisierungen der Benjaminschen Thesen, die hier geboten werden: So kommt es schlicht einer kompletten Verkehrung der Standpunkte Benjamins gleich, wenn Ina Hartwig, früher Redakteurin der Taz und der Frankfurter Rundschau, mittlerweile unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und den Freitag tätig sowie Trägerin des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik 2011, das erste Gebot des Philosophen wie folgt ergänzt: »Die erfolgreichsten Strategen im Literaturkampf sind heute die Schwärmer.« Ist das nun als – gewiss zutreffende – Polemik gegen das aktuelle Betriebsnudeltum gemeint? Oder gibt die Bemerkung eine persönliche Faustregel der Kritikerin wieder? Ihre zweite These lautet: »Partei zu ergreifen, ist durch das Internet die banalste Sache der Welt geworden. Der professionelle Kritiker lässt sich das nicht anmerken.«

IV.Tatsächlich scheint vielen Kritkikern das Bewusstsein einer politischen Verantwortung ihres publizistischen Tuns abhanden gekommen zu sein. Als ein Vertreter dieser Gruppe sei Uwe Wittstock zitiert, früher FAZ-Mitarbeiter von Marcel Reich-Ranicki, dann Redakteur der Welt, nun »Literaturchef« beim Focus: »Benjamins Forderung, Kritiker sollten Strategen im Literaturkampf sein, ist entweder banal oder lächerlich. Meint ›Literaturkampf‹, der Kritiker habe lesenswerte Literatur zu empfehlen und weniger lesenswerte Literatur zu verdammen, ist der Satz banal. Meint ›Literaturkampf‹, der Kritiker nehme mit literarischen Urteilen nennenswerten Einfluss auf politische Konflikte, dann war der Satz schon zu Benjamins Zeiten lächerlich. Heute wäre er grotesk. Wer Einfluss auf politische Fragen nehmen will, sollte Umwege meiden und Politik machen.«
Zumindest eine Rückfrage mag da erlaubt sein: Ob die partiell berechtige Warnung vor einer illusionären Überschätzung des politischen Einflusses der Literaturkritik wirklich nahtlos in ein Plädoyer für eine unpolitische Kritik münden muss, die es sicher ebenso wenig geben kann?

V.Allerdings ist es wahr, dass klare politische Linien im Feuilleton der großen Tageszeitungen heute nur noch selten auszumachen sind. Dazu sei hier nur eine exemplarische Gegenüberstellung vorgenommen. Richard Kämmerlings, früher FAZ, heute bei der Welt, stellt gleich zu Beginn seiner Thesen klar: »Der Verkaufsstratege ist kein Literaturkritiker.«
Dagegen meint Dirk Knipphals von der Taz: »Was schließlich den Markt betrifft, so finde ich ihn nicht so schlimm wie eine ganze Reihe Kritikerkollegen.« Im Gegenteil: »Bei der Sichtung von deutschsprachigen Neuerscheinungen gewinne ich gelegentlich den Eindruck, dass so ein Wettbewerb unserer Literaturlandschaft ganz gut tun würde – auf jeden Fall besser als die bei uns übliche pauschale Verteidigung der Literatur als Teil der Bildung.«
Man kann diesen verblüffenden Vergleich sogar noch weiter treiben. So findet Kämmerlings: »Lob ohne Verständnis ist ebenso unmoralisch wie Tadel wider besseres Wissen.« Und er greift sogar Benjamins drastisches Votum für eine »vernichtende« Polemik zustimmend auf: »Der Kritiker muss den Leser vor schlechten Büchern schützen – und den Autor vor der falschen Selbsteinschätzung. Eine Vernichtung dient auch dem Vernichteten. Er kann davor bewahrt werden, sein Leben an sein nicht ausreichendes Talent zu verschwenden.«
Dagegen nehmen sich die Gedanken von Knipphals, dem Redakteur einer linken Tageszeitung, doch einmal mehr weit liberaler aus: »In pathetischen Momenten finde ich vielmehr, Kritiker sollten im Grunde die Hüter der Geschichten sein, die wir uns und anderen über uns selbst erzählen, und zugleich die Hüter der verschiedenen Möglichkeiten, sie zu erzählen. (…) Es ist schon okay, wenn jemand sagt, dass der Begriff Hüter ein bisschen altertümlich klingt und sogar ein wenig paternalistisch. (…) Aber ohne die Vorstellung des Hüters – irgendwo zwischen dem Hüten eines Feuers, eines Sacks Flöhe und einer Herde Schafe, mit Beimengungen davon, einen Tiger zu reiten – komme ich nicht aus.«

VI.Eine weitere »Partei« der Kritiker bilden diejenigen, die mehr oder weniger explizit einräumen, Benjamins Thesen hätten im Grunde nach wie vor Gültigkeit, so etwa Helmut Böttiger (Süddeutsche Zeitung): »Benjamins erste These ist lange nicht so veraltet und auf lustige Weise ferngerückt, wie es zunächst scheint. Denn das war einfach der Sound der Zeit, und der hört sich heute nur anders an.« Auch Wieland Freund (Welt) bekundet salomonisch: »Walter Benjamin hat immer recht. Wo er nicht recht hat, ist viel Zeit vergangen.«
Tilman Krause (ebenfalls Welt) zum Beispiel hätte man im Kreise der Benjamin-Fans auch nicht unbedingt vermutet. Allerdings kommt seine Verbeugung bei genauerem Hinsehen doch nur einer Geste der Vereinnahmung gleich: »Diese dreizehn Thesen waren für mich immer ziemlich einleuchtend, auch wenn ich mit dem politischen Telos, das Benjamin vorschwebte, keineswegs sympathisiere. Wenn man aber das Politische abzieht (und das geht sehr gut), kann man eigentlich nichts anderes tun, als diese Thesen Punkt für Punkt zu bestätigen.«
Woher kommt es bloß, dass alle diese belesenen Leute meinen, das »Politische« sei ohne Weiteres »abzuziehen« oder heute für Literaturkritiker gleich gar nicht mehr relevant? Hat ihnen wirklich noch niemand verraten, dass diejenigen, die das »Ende der Ideologien« beschwören, damit lediglich die Aufklärung ihrer eigenen, stillschweigend als hegemonial und »alternativlos« eingestuften Orientierung zu verhindern suchen?

VII.Andreas Isenschmid (Neue Zürcher Zeitung, Zeit) kennt sich am besten aus und »dekonstruiert« Benjamin mit Benjamin. In der Tat steht es »namhaften« Kritikern gut an, mehr von diesem dialektisch denkenden Autor gelesen zu haben als nur seine dreizehn Thesen zur Literaturkritik.

VIII.Die keineswegs seltene Sorte von Kritikern, die in ihren Blättern gerne auch schon einmal Leute rezensieren, die sie persönlich kennen, schätzen oder hassen, sollte bei Felicitas von Lovenberg (FAZ) nachlesen, deren zehnte These einiges für sich hat (auch wenn diese Regel gerade in der »Zeitung für Deutschland« häufig missachtet worden ist): »Abstand muss gewahrt werden. Wo er aufgehoben wird, ist keine Kritik mehr möglich, nur Anbiederung oder Mord.«

IX.Daraus folgen berufliche Prioritäten, die manchen hoffnungsvollen Nachwuchskritiker ernüchtern mögen. Wer etwa meint, »irgendwas mit Medien« zu machen, sei eine tolle Berufsperspektive, weil man da auf vielen Empfängen mit berühmten Leuten abhängen und Champagner schlürfen könne, der lese ganz einfach einmal Burkhard Müllers (Süddeutsche Zeitung) erste These: »Der Kritiker sei einsam. Während sonst der gesamte literarische Betrieb von einer Vernetzung profitiert und Autoren, Lektoren, Moderatoren, Redakteure, Eventmanager, Buchhändler, Verleger nur in enger Zusammenarbeit leisten können, was sie leisten, sollte der Kritiker ihnen allen aus dem Weg gehen: Denn jeder persönliche Kontakt mit anderen Angehörigen des Betriebs bedeutet für ihn ein Stück Korruption, insofern es nahezu unmöglich ist, jemanden zu verreißen, mit dem man schon einmal Bier getrunken hat.«

X.Das soll nicht heißen, dass man deshalb gleich so böse werden muss, wie Michael Schmitt (ZDF, 3sat) meint: »Wer heute noch als Stratege ›Literaturkämpfe‹ austragen will, schlägt vermutlich auch immer noch gerne Köpfe ab (wahlweise die von Großschriftstellern, Bestsellerautoren, Agenten, Marketingfachleuten, Key Accountern, Google-Managern etc. pp.)« Es reicht vollkommen aus, diesen Leuten persönlich aus dem Weg zu gehen, wenn man vorhat, noch einmal objektiv über sie zu schreiben.

XI.Stichwort »Google«: Immer mehr Profis haben Angst vor den »Laienkritikern« bei »Amazon« und sonstwo, und dies nicht einmal zu Unrecht. Zumindest Lehramtsstudierende, die sich immerhin selbst für die Literaturwissenschaft entschieden haben, halten es mittlerweile in der Tat oft für ausreichend, bei solchen bloßen Verkaufsportalen nach Informationen zu suchen und sich eine »Meinung zu bilden«, anstatt noch so etwas Altertümliches und Umständliches wie Zeitungen zu bemühen.
Dazu lautet der nachvollziehbare Vorschlag von Wolfgang Schneider (unter anderem FAZ): »Wie kann sich die professionelle Kritik gegen das Laienrichtertum behaupten? Nicht durch Kannibalen-Attitüde und Haudrauf-Entschlossenheit. Statt bloß ›Ja, ja!‹ oder ›Nein, nein!‹ zu schreien, sollten sie präzise die Stärken und Schwächen der Werke benennen und zu fundierteren Beurteilungen kommen. Kennerschaft ist der Trumpf des Kritikers.«

XII.Unbedingt bedenkenswert ist Daniela Strigls vierzehnte These (sie schreibt u. a. für den österreichischen Standard): »Der Kritiker kann auch eine Kritikerin sein.«

XIII.Das Schlusswort zum Thema bildet in der Neuen Rundschau der Antrittsvortrag des FAZ-Autors Tilmann Lahme zu seiner Gastprofessur für Literaturkritik an der Universität Göttingen. Lahme hat viele Peinlichkeiten der vergangenen Jahre zusammengetragen, deren Debattierung in den Zeitungen oder auch bei »perlentaucher.de« für Erheiterung sorgte. Der Literaturprofessor Jochen Hörisch etwa oder der Lyriker Durs Grünbein kommen dabei gar nicht gut weg, weil sie sich öffentlich über Verrisse einer eigenen Publikation empörten. Immer noch gilt: Wenn beleidigte Leberwürste im Literaturbetrieb das Zepter schwingen, demontieren sie sich selbst.

Neue Rundschau 2011/1. Thesen zur Literaturkritik. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 248 Seiten, 12 Euro