Doppelte Abiturjahrgänge und überfüllte Hörsäle

Bitte nicht drängeln!

Doppelte Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht sorgen in den kommenden Semestern dafür, dass es in den Hörsälen und Mensen noch enger wird. Die Wissenschaftsminister halten ihre Hochschulen für gut vorbereitet. ­Studierendenvertreter sind jedoch anderer Meinung.

In diesem Jahr stellen Niedersachsen und Bayern die Schulzeit bis zum Abitur endgültig auf zwölf Jahre um – zwei bevölkerungsreiche Bundesländer also. Somit erhalten gleich zwei Jahrgänge eine Studienberechtigung, das bedeutet für Niedersachsen etwa 50 000 Abiturienten, fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Hinzu kommt die ab sofort bundesweit geltende Aussetzung der Wehrpflicht. Das stellt die Hochschulen vor mehrere Probleme. Eines ist, überhaupt abzuschätzen, wie viele zusätzliche Studienbewerber sich einschreiben wollen.
Den großen Andrang erwarten die Hochschulverwaltungen für den Beginn des kommenden Wintersemesters. Um ihn zu bewältigen, versprechen die Kultusminister von allem etwas mehr: Es wird derzeit auffällig häufig an- und ausgebaut, neue Studienplätze sollen geschaffen und auch neues Personal soll eingestellt werden. Es wird aber auch mit allerlei Tricks der Verwaltungspolitik gearbeitet. So ist es in Bayern in diesem Jahr möglich, sich für die Hälfte der angebotenen Fächer schon im Sommersemester einzuschreiben. In Niedersachsen dürfen die Studenten die Bedeutung des Wortes »Vollzeitstudium« kennenlernen: Dort werden sie künftig eine Sechs-Tage-Woche absolvieren und Vorlesungen bis 22 Uhr besuchen müssen. Verbesserte Lehrangebote können also trotz zahlreicher Investitionen genauso wenig gewährleistet werden wie genügend Seminarräume und Hörsäle. Wie bei derart ausgedehnten Stundenplänen das Studium durch einen Job finanziert werden soll, bleibt wohl den Studenten überlassen.
Nina Knöchelmann vom Allgemeinen Studierendenausschuss (Asta) der Technischen Universität Braunschweig kritisiert solche Maßnahmen als zusätzliche Härte. Ihrer Ansicht nach »muss seitens des Studentenwerkes und der Universität viel höherer Aufwand betrieben werden, damit die neuen Studierenden zum Beispiel günstigen Wohnraum zu Verfügung gestellt bekommen und flexible Arbeitsmöglichkeiten haben. Das Geld von Bund und Ländern wird nicht reichen, um die Kosten zu decken.«
Dieses Geld kommt hauptsächlich aus dem 2009 beschlossenen Hochschulpakt II, der zwischen Bund, Ländern und Hochschulen vereinbart wurde. Für die 275 000 zusätzlichen Studienplätze, die von 2011 bis 2015 eingerichtet werden sollen, wurde eigens ein neuer Etat geschaffen. Dieser wird aber schon in diesem Jahr überproportional beansprucht, nicht zuletzt, weil Tausende junge Männer früher ein Studium aufnehmen können. Um den Etat nicht vor dem Ende der Laufzeit vollständig zu verbrauchen, üben sich manche Universitäten in Bescheidenheit und versuchen, so lange wie möglich mit den vorhandenen Mitteln zurecht zu kommen. Neue Professuren gehen mit der Einrichtung neuer Studienplätze in den seltensten Fällen einher, Vorlesungen werden oft von wissenschaftlichen Mitarbeitern gehalten. An der TU Braunschweig müssen Professoren unter anderem neun statt acht Semesterwochenstunden für Lehrangebote aufwenden. »Durch die Erhöhung des Lehrdeputats wird der Anschein erweckt, dass die Studierenden besser betreut würden. Hinter dem Schein von mehr Lehre verbirgt sich aber nur, dass mehr Studierende zugelassen werden, anstatt für die erhöhte Zahl von Studienanfängerinnen und -anfängern weitere Professorinnen und Professoren einzustellen, um den Betreuungsschlüssel aufrecht erhalten zu können«, sagt Knöchelmann.

Wie an anderen Hochschulen wird auch in Kiel versucht, Geld flexibel zu verteilen, um in überfüllten Fächern kurzfristig Lehrangebote zu gewährleisten. Solche Ausgaben sind aber zeitlich begrenzt, oft nur auf ein Semester. Auf den ersten Blick ungewöhnlich ist dagegen der Schritt der Kieler Universität, für den sogenannten 2-Fach-Master keine Mindestanforderungen mehr zu stellen. Zumindest in diesem Fall kam die Hochschule also der Kritik an der Schranke zwischen Bachelor und Master entgegen, was von den Studierenden auch begrüßt wurde. Die Schaffung neuer Studienplätze sorgt aber nicht für einen leichteren Zugang zur Universität. Im Gegenteil, die nächste Studentengeneration wird einem noch höheren Auswahldruck ausgesetzt. Das Geld fließt nämlich vor allem in die klassischen zulassungsbeschränkten Fächer wie Medizin, die mit zusätzlichen Studienplätzen ausgestattet werden. Die Kriterien für eine Zulassung werden dort auch nicht gemildert, so ist beispielsweise für ein Medizinstudium in Nordrhein-Westfalen ein Abiturdurchschnitt von 1,0 nach wie vor die Grundbedingung.
Zudem werden in den meisten bisher zulassungsfreien Studiengängen immer mehr Zulassungsbeschränkungen eingeführt. Wie Sebas­tian Ankenbrand vom AStA der TU Darmstadt berichtet, werden die Bewerber dabei immer häufiger anhand außerschulischer Leistungen ausgewählt, wie etwa der Teilnahme am Wettbewerb »Jugend forscht«. Für mangelnde Kapazitäten an seiner Universität macht er die Bundes- und Landespolitiker verantwortlich, die seit Jahren nicht für eine ausreichende Finanzierung sorgten. Als Folge davon würden zwar Drittmittel in Rekordhöhe eingeworben, diese kämen aber kaum der Lehre zu Gute. »So werden viele Menschen daran gehindert, zeitnah ein Studium ­anzufangen, viele müssen Wartesemester in Kauf nehmen, oder sie bewerben sich auf nicht akademische Ausbildungen, was vielerorts einen Verdrängungseffekt nach unten mit sich bringt«, sagt Ankenbrand.
Auch das Deutsche Studentenwerk (DSW) betrachtet die Entwicklung mit Sorge. Die steigende Zahl der Studienberechtigten lasse befürchten, dass der Druck auf das gesamte Hochschulsystem steige. Nach Ansicht des DSW-Generalsekretärs Achim Meyer auf der Heyde sind die Mittel des Hochschulpakts II bei weitem nicht ausreichend. Er fordert zudem Investitionen in soziale Angebote für Studierende. »Wir brauchen nicht nur mehr Studienplätze, wir brauchen auch mehr Kapazitäten in den Wohnheimen und Mensen der Studentenwerke, und wir brauchen mehr Kapazitäten für die studienbegleitende Beratung«, sagt er.

Die Ansprüche und Erwartungen der verschiedenen Hochschulangehörigen gehen einmal mehr weit auseinander. Wer eine akademische Ausbildung will, wird sich jedoch auf jeden Fall gegen seine Mitbewerber durchsetzen müssen und im Studium überfüllte Hörsäle und einen noch höheren Leistungsdruck kennenlernen. Wenn der erste Anlauf nicht klappt, werden viele Interessenten eine sogenannte Warteschleife in Kauf nehmen. Eine Stelle als Au-Pair bietet sich dafür ­genauso an, wie ein Jahr lang zu trampen. Eine weitere Möglichkeit der Überbrückung besteht nach wie vor in den freiwilligen sozialen, ökologischen und kulturellen Diensten. Wie freiwillig diese tatsächlich sind, ist eine andere Frage.