Der Dioxin-Skandal und der Kapitalismus

Reste essen

Der Dioxinskandal zeigt: Die »Exkremente der Produktion« zu verwerten, ist in der Herstellung von Nahrungsmitteln unter kapitalistischen Bedingungen keine Ausnahme.

Einmal mehr ist krebserregendes Dioxin in Lebensmitteln entdeckt worden, in Eiern, Suppenhühnern und Schweinefleisch. Der Umsatz bricht ein, die Kundschaft drängt in die Bioläden. Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) und der Bauernverband verlangen wie immer schärfere Kontrollen und harte Strafen für die Übeltäter, Renate Künast (Grüne) fordert den Rücktritt der Ministerin, der sie Untätigkeit vorwirft. Behörden und Lobby-Vertreter versichern hingegen, es bestehe keine akute Gefahr.
Als Künast im Jahr 2001 während des BSE-Skandals das Verbraucherministerium übernahm, kündigte sie eine »Agrarwende« an. Drei Jahre später rechnete Greenpeace den Grünen vor, dass die Belastung von Lebensmitteln mit Pestiziden gestiegen sei, und bemängelte, dass die Grenzwerte für Rückstände sogar noch erhöht worden waren. Aigner kann derzeit öffentlichkeitswirksam Kontrollen fordern, zuständig sind jedoch die Bundesländer, und an Ort und Stelle mangelt es an Kontrolleuren.

Man kennt solche Skandale: Glykol-Wein, BSE-Rinder, Nitrofen-Getreide, Schweinepest, Gammelfleisch und -käse, Dioxin-Eier. Zwar sind dank moderner Technik und Hygiene die Zeiten vorbei, als es gesünder war, Schnaps zu trinken statt Wasser, oder als Milch tödlich sein konnte, weil die Rindviecher ein giftiges Kraut gefressen hatten. Dennoch werden immer wieder verfälschte, gestreckte, vergiftete und verdorbene Nahrungsmittel entdeckt. »Was können wir noch essen?« fragen dann Anne Will und ihre Kollegen mit schöner Regelmäßigkeit, stellen »schwarze Schafe« an »den Pranger« oder schieben den Verbrauchern die Schuld zu. »Wir sind zu rücksichtslosen Essern geworden, deren Motto lautet: lieber billig als Bio, Masse statt Qualität«, schreibt ein Sven Stockrahm auf Zeit online. Der Präsident des Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner, beklagt einen Mangel an Esskultur in Deutschland. »Italiener oder Franzosen verbinden Essen viel mehr mit Genuss und Geselligkeit und zahlen bessere Preise.«
Richtig ist, dass auch Schnäppchen ihren Preis haben: Tierquälerei und Umweltzerstörung, geringe Verdienste für Bauern und niedrige Löhne für Arbeiter und Verkäufer in den Geschäften. Bloß ist der Umkehrschluss falsch: Teure Nahrungsmittel und Bio-Etiketten garantieren weder Qualität noch Umweltfreundlichkeit. Dioxin wurde im Mai vergangenen Jahres auch in Bio-Eiern gefunden, weil die Hühner kontaminierten Bio-Mais aus der Ukraine gefressen hatten. Der Nitrofen-Skandal 2002 ging darauf zurück, dass Bio-Futtergetreide in einer Halle gelagert wurde, die mit dem Pflanzenschutzmittel verseucht war. Die Produktion von Bio-Obst und -Gemüse trägt dazu bei, den Süden Spaniens zu verwüsten, weil Bauern große Mengen an Wasser verbrauchen in einer Region, die für diese Art des Anbaus zu trocken ist. Zudem beuten sie die Arbeitskraft von Migranten aus, die sie wie Sklaven behandeln können, weil diese Menschen ohne Aufenthaltsrecht in der EU leben.

Dass es die Verbraucher seien, die in ihrer Gier nach Billigprodukten Bauern und Lebensmittelhersteller zu kriminellen Handlungen drängen, ist Unsinn. Zur Begründung dieser These wird darauf verwiesen, dass in Deutschland der Anteil des Einkommens, der für Nahrung ausgegeben werde, stetig geschrumpft sei. Der Zusammenhang ist aber so konstruiert wie jener zwischen der sinkenden Zahl von Störchen und der abnehmenden Geburtenrate. Denn Millionen von Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika müssen mit einem Euro am Tag auskommen und geben ihr Geld zum allergrößten Teil für Brot, Reis oder Mais aus. Dagegen sinkt in einem führenden kapitalistischen Land wie Deutschland mit einem im historischen und globalen Vergleich hohen Durchschnittseinkommen und unter den Bedingungen industrieller Nahrungsmittelproduktion, übrigens auch von Ökoprodukten, der Anteil des Einkommens, der für Lebensmittel ausgegeben wird. Als Regel gilt: Je ärmer die Menschen sind, desto höher ist der Prozentsatz des Einkommens, der für Essen und Trinken ausgegeben werden muss.
Die Lebensmittelpreise in Deutschland liegen im europäischen Durchschnitt. In einer Untersuchung des EU-Statistikamtes Eurostat und der OECD belegte Deutschland 2007 im Preisvergleich den 15. Platz und lag mit 105 Punkten knapp über dem Mittelwert. Irland kam mit 125 Punkten auf den fünften und Italien mit 115 auf den achten Rang. Im folgenden Jahr erschütterte ein Skandal um dioxinverseuchtes Schweinefleisch die irische Landwirtschaft, in Italien fanden Kontrolleure und Journalisten Gammelkäse, versetzt mit Schimmel, Würmern und Exkrementen von Ratten, sowie Dioxin-Rückstände in Büffel-Mozzarella. Die Finanzpolizei beschlagnahmte hunderttausende Flaschen gepanschten Brunello.
Irreführend sind auch die Entwarnungen, die derzeit ausgegeben werden. Niemand fällt tot um, weil er oder sie ein mit Dioxin belastetes Frühstücksei verspeist hat. Aber das Gift wird im menschlichen Körper nicht abgebaut, sondern sammelt sich an. Die Verbraucherorganisation Foodwatch sagt, dass deutsche Konsumenten täglich in Milch, Eiern und Fleisch enthaltenes Dioxin äßen, das die Tiere am Futtertrog aufgenommen hätten. Die Dosis liege mit zwei Pikogramm pro Kilogramm Körpergewicht nah am oberen Grenzwert. Foodwatch fordert deshalb, dass jeder Futtermittelhersteller jede Charge jeder Zutat selbst auf Dioxin testen und die Ergebnisse den Behörden vorlegen soll.
Die Frage, wie sich kapitalistisches Wirtschaften auf die Nahrungsmittelproduktion auswirkt, wird in der Darstellung von Lebensmittelskandalen in den Medien jedoch ausgeblendet. Selbst die agrarpolitische Sprecherin der Fraktion der »Linken« im Bundestag, Kirsten Tackmann, kann nur mit einer oberflächlichen Analyse aufwarten. Im Stil der Globalisierungskritiker klagt sie darüber, dass »im deregulierten Risiko-Weltagrarmarkt« kaum »soziale oder ökologische Leitplanken« vorhanden seien, und stellt fest: »Wer Angestellte zu Niedrigstlöhnen beschäftigt, global mit Agrarprodukten und -rohstoffen spekuliert und nach halb- oder illegalen Profitquellen sucht, ist ein Sicherheitsrisiko.« Doch sowohl der nationale und der europäische Markt als auch der Weltmarkt sind durch allerlei Gesetze, Vorschriften und Abkommen reguliert. Es geht nicht bloß um halb- und illegal erzielten Profit und böse Spekulanten, sondern um den Fraß, der ganz legal auf den Tisch kommt: Analogkäse, Schinkenimitate, Vanille-Eis ohne Vanille, wegen zweifelhafter Grenzwerte in Nahrungsmitteln enthaltenes Pestizid oder Dioxin.

Entscheidend ist, dass die Landwirtschaft samt ihrem Öko-Zweig wie alle Branchen selbstverständlich den Gesetzen der Profitmaximierung und Akkumulation von Kapital unterliegt. Dies führt zu Konzentrationsprozessen, die sich in der Massentierhaltung und in Monokulturen, im »Höfesterben« und »Bauernlegen« zeigen – wogegen Kleinbauern und ihre Verbände weltweit ­einen Abwehrkampf führen –, sowie in der Ausplünderung der Natur. Die herrschenden Zustände – täglich verhungern in einer Welt des Überflusses 30 000 Kinder – werden derzeit durch die Produktion von sogenannten Bio-Kraftstoffen verschärft, weil die Fläche für die Erzeugung von Nahrung schrumpft, die Preise steigen und die Zahl der Hungernden wächst.
Der Kampf um Anteile auf dem Weltmarkt wird entgegen der Mär von der deregulierten, schrankenlosen Globalisierung mit staatlicher Hilfe geführt. Die Bundesregierung hat die Subventionen, die die EU abgebaut hat, wieder eingeführt, um den Export von Schweinefleisch zu fördern. Andere Staaten nutzen den Dioxin-Skandal als Möglichkeit, Importverbote für deutsches Schweinefleisch zu verhängen. Es ist die Konkurrenz um Marktanteile, die die Ernährungsbranche »bei Strafe des Untergangs« für das einzelne Unternehmen zu Rationalisierung und Kostensenkung zwingt. Zu dieser Logik gehört auch, die »Exkremente der Produktion« (Karl Marx), im derzeitigen Fall die Reste aus der Biodieselherstellung, an Nutztiere zu verfüttern.