Die Enthüllungen von Wikileaks über den Nahen Osten

Keine Bombe für die Schlange

Wikileaks hat enthüllt, was die arabischen Herrscher ihrer Bevölkerung nicht verraten wollten: Nicht über Israel, sondern über das iranische Atomprogramm machen sie sich Sorgen.

Klaus Kinkel, der Erfinder des »kritischen Dialogs« mit dem Iran und deshalb wohl ein Fachmann auf diesem Gebiet, wusste es sofort. Die Wikileaks-Dokumente seien »vor allem peinlich für die Amerikaner« und überdies »gefährlich«, sagte er in einem Interview mit der Welt. Denn in islamischen Ländern habe man »eine ganz andere Kultur«, so dass die Veröffentlichung »eine viel größere Empörung und eventuelle Reaktionen« auslösen könne.
Allerdings zeigte sich nach den ersten Veröffentlichungen US-amerikanischer Diplomatenpost recht schnell, dass alles ganz anders als erwartet kommen würde. Peinlich sind die Dokumente vor allem für den Iran, die Türkei und die Scheichs am Golf. Die Bemühungen der Amerikaner, den Überblick zu behalten und für etwas Stabilität zu sorgen, könnten eher Mitgefühl erregen, und zumindest die diplomatische »Kultur« der Staaten im Nahen Osten kann mit den Veröffentlichungen durchaus leben.
Das Grundprinzip der Diplomatie im Nahen Osten ist denkbar einfach. Hamad ibn Jasim ibn Jabir al-Thani, der Premierminister von Katar, hat es mit Bezug auf den Iran seinem amerikanischen Gesprächspartner erklärt: »Sie lügen uns an und wir lügen sie an.« Wer den Nahen Osten nämlich nicht als fremde Kulturregion exotisiert, sondern ihn unvoreingenommen betrachtet, weiß, dass dort mehr noch als anderswo auf der Welt keiner dem anderen vertraut, jeder jeden mehr oder weniger offen hasst und seine Abneigung hinter verschlossenen Türen auch gerne äußert. Gäbe es eine US-Botschaft in Teheran, hätten die dortigen Politiker wohl recht offen darüber geplaudert, was sie über ihre türkischen und arabischen Nachbarn denken.
Beispiele für die Praxis nahöstlicher Höflichkeit bieten die bisher veröffentlichten Dokumente aber auch so zuhauf. Wie die Herrscher der anderen arabischen Golfanrainerstaaten forderte etwa Hamad ibn Isa al-Khalifa, der König von Bahrain, den amerikanischen Oberkommandierenden David Petraeus offen auf, das iranische Atomprogramm mit allen Mitteln zu stoppen. Offenbar geht man in den arabischen Ländern fest davon aus, dass der Iran Nuklearwaffen entwickelt. Man kennt schließlich seine Nachbarn. Den Iran gewähren zu lassen, so der Potentat Bahrains, sei gefährlicher, als es die Folgen eines gewaltsamen Eingriffs sein könnten. Deutlicher wurde nur der saudische König Abdullah, der die Amerikaner aufforderte, der iranischen »Schlange den Kopf abzuschlagen«. Selbstredend hat den bislang zugänglichen Dokumenten zufolge niemand den Amerikanern tätige Mithilfe angeboten. Ebensowenig hält die Furcht vor dem Iran das saudische Königshaus davon ab, weltweit jihadistische Terroristen zu finanzieren, so jedenfalls die regelmäßigen Klagen der US-Botschaft in Riad.

Doch plötzlich lieben sich alle wieder. Ein paar Tage nach dem Beginn der Veröffentlichungen bei Wikileaks durften iranische Nachrichtenagenturen melden, der bahrainische Kronprinz Salman ibn Hamad ibn Isa al-Khalifa habe betont, man wolle die Beziehungen zum Iran weiter ausbauen. Mangelhafte Beziehungen würden auch nur den Interessen »der Feinde« dienen, entgegnete der iranische Außenminister Manouchehr Mottaki. Präsident Mahmoud Ahmedinejad hat in einer ersten Reaktion auf Wikileaks kurz und bündig formuliert: »Die Staaten der Region sind wie Freunde und Brüder, und diese niederträchtigen Unternehmungen werden die gegenseitigen Beziehungen nicht beeinträchtigen.«
Der Iran tut sich allerdings doch etwas schwer mit den veröffentlichten Bekenntnissen der arabischen Potentaten, die über den im Land beliebten persischen Dienst der BBC allgemein bekannt geworden sind. Die iranische Propaganda, die sonst täglich in Freundschaftsbekundungen des Auslands gegenüber der Islamischen Republik schwelgt, forderte schließlich eine Art Gegendarstellung der arabischen Nachbarländer. Natürlich traue man den arabischen Staaten und nicht etwa den westlichen Informationen, sagte ein Mitglied des Ausschusses für Nationale Sicherheit des iranischen Parlaments, aber es sei doch besser, die arabischen Staaten gäben eine deutliche Antwort auf Wikileaks.

Der Ton ist gereizt, man spürt die Nervosität der iranischen Machthaber. Hat man in der Islamischen Republik frühere Wikileaks-Veröffentlichungen wie das Video, das die Erschießung von Reportern durch eine amerikanische Hubschrauberbesatzung dokumentierte, noch weidlich ausgeschlachtet, war die iranische Führung bereits im Sommer von den Dokumenten zum Irak nicht mehr so begeistert und fand die Veröffentlichungen plötzlich »ungesetzlich«. Schließlich wurde die Unterstützung irakischer Aufständischer durch den Iran publik. Am ersten Tag der neuesten Wikileaks-Offensive vermutete Ahmadinejad bereits, das Material sei »in organisierter Weise« veröffentlicht worden. Wikileaks diene dazu, das Ansehen der USA zu retten, sagte Javad Larijani, offizieller Menschenrechtsschützer des Iran. Julian Assange wird diese Bewertung seiner Absichten wohl überrascht haben.
Bemerkenswert ist zudem, dass der Iran bisher vergleichsweise moderat reagiert. Es blieb der türkischen Regierungspartei AKP vorbehalten, auf die üblichen Verdächtigen zu verweisen. Das Land im Nahen Osten, das in den Dokumenten selten erwähnt werde und von den Enthüllungen am meisten profitiere, scheine doch Israel zu sein, sagte der türkische Innenminister Besir Atalay. Die AKP bemüht sich offenbar, den Iran in Sachen Antizionismus zu übertreffen.
Die AKP-Regierung kommt bei Wikileaks nicht gut weg, also musste ein Schuldiger gefunden werden. So konnte man nachlesen, dass US-Diplomaten Ministerpräsident Tayyip Erdogan für einen beschränkten Menschen halten, der ausschließlich islamistische Zeitungen lese und inkompetente Berater konsultiere, während sein ambitionierter Außenminister Ahmet Davutoglu wirren neo-osmanischen Visionen anhänge. Die AKP betreibe nicht nur die weitere Islamisierung der Türkei, sondern habe wohl auch al-Qaida im Irak unterstützt und Waffen an den Iran geliefert. Außerdem sei Erdogans Regierung korrupt.
Das mochte man zwar als interessierter Zeitungsleser größtenteils längst selbst herausgefunden haben, doch nun gibt es eine quasi amtliche Bestätigung von US-Diplomaten. Ein hartnäckiger amerikanischer Gesprächspartner konnte dem sichtlich »entmutigten« türkischen Staatssekretär des Äußeren im Februar sogar das Geständnis entlocken, selbst in Syrien – dem einzigen offiziellen Verbündeten des Iran – sei man mittlerweile besorgt wegen des Atomprogramms.

Die Vorfreude darüber, dass Wikileaks nun die »dunkle Seite« des amerikanischen Imperialismus enthüllen werde, verwandelte sich in den Hauptstädten der Region binnen Stunden in Panik. Es spricht Bände, dass etwa dem in Katar ansässigen Fernsehsender al-Jazeera untersagt wurde, über den Inhalt der Dokumente zu berichten.
Die israelischen Gesprächspartner nämlich betonten immer wieder ihren Willen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit es zu einer friedlichen Lösung des Nahost-Konflikts komme. Es sind noch nicht einmal israelische Politiker, sondern ihre Kollegen in der arabischen Welt, die offen aussprechen, was eigentlich jeder wissen kann: Nicht der israelisch-palästinensische Konflikt, sondern der Iran wird als das Hauptproblem der Region gesehen. Vor dessen Verbündeten, der Hizbollah, der Hamas und den Anhängern des islamistischen Milizenführers Muqtada al-Sadr im Irak, hat man weit mehr Angst als vor dem jüdischen Staat. Die Palästinenser sind den arabischen Herrschern egal. Aus Jordanien immerhin kann ein amerikanischer Diplomat melden, dass die dortige Regierung Barack Obama vor einer zu rücksichtsvollen Politik gegenüber dem Iran warne, es aber begrüßenswert fände, wenn man den Nahost-Konflikt beilegen könne, um die iranische Propaganda so zu entkräften.
Das wohl Peinlichste, was für die USA bislang zu vermelden ist, ist die Kritik an Obamas Nahost-Politik. Immer wieder mahnen arabische Gesprächspartner, dass nicht der israelisch-palästinensische Konflikt, den der US-Präsident in den Mittelpunkt stellt, von zentraler Bedeutung sei, sondern die Bedrohung durch den Iran. Auch fürchte man einen übereilten Abzug der US-Truppen aus dem Irak. Das gelte nicht nur für die arabischen Nachbarländer, sondern vor allem für die Irakis selbst.