Kubanische Profisportler auf der Flucht

Der Traum vom großen Fang

Immer mehr Profisportler flüchten aus Kuba in die USA. Nun wird über eine Reform des kubanischen Sportsystems diskutiert.

Nach einer regelrechten Odyssee ist der junge kubanische Baseballspieler Yasiel Balaguer dieser Tage in Miami, Florida, aufgetaucht. Sein Ziel ist es, als Free Agent in die US-amerikanische Profiliga MLB zu wechseln. Zuvor hatte er sich knapp einen Monat in Mexiko versteckt, immer von der Angst begleitet, von den kubanischen Behörden aufgespürt und irgendwie auf die Insel zurückgebracht zu werden. Nach und nach durchquerte er schließlich Mexiko, bis zur US-Grenze, wo kubanische Flüchtlinge im Gegensatz zu mexikanischen oder zentralamerikanischen Migranten aus politischen Gründen mit offenen Armen – sprich einer automatischen Aufenthaltsgenehmigung – empfangen werden.
Der 17jährige Outfielder zählte zu den größten Hoffnungen des kubanischen Baseballs. Nun reiht er sich jedoch ein in die lange Liste kubanischer Sportgrößen und Talente, die ihrem Land den Rücken gekehrt haben, um ihr Glück im Ausland zu suchen. »Seine Familie zu verlassen …  ist leicht gesagt, aber den Moment des Abschieds wünsche ich niemandem. Aber weißt du was, es war es wert. Ich habe nun eine ganz neue Welt vor mir«, sagte der Junge dem Miami Herald. Balaguer, der die kubanischen Jugendnationalmannschaften durchlaufen hat, gilt als ausgezeichneter Verteidiger mit präzisem Wurfarm, ist gut am Schlag und verfügt über einen explo­siven Antritt. »Mir ist bewusst, dass ich nichts in meinen Händen habe außer meinem Talent und dass es großer Anstrengung bedarf, um sich in der besten Baseballliga der Welt durchzusetzen. Aber in Kuba wäre ich mit derselben Ernüchterung wie so viele Baseballer geendet.«
Carlos Pérez, Präsident von Miami Sports Consulting, einer Agentur, die schon eine Reihe anderer kubanischer Baseballspieler vertritt, hat sich Balaguers bereits angenommen und ist dabei, den Wechsel ins Profilager zu organisieren. Doch das Leben in der neuen Welt ist auch nicht ohne Hindernisse. Es gibt genügend Beispiele für Spieler, die es nie bis ganz nach oben geschafft haben und in den Farmteams der großen Clubs ihr Sportlerdasein fristen. Balaguer wird versuchen, es zwei Spielern nachzumachen, die ebenfalls bereits in Jugendjahren Kuba verlassen haben: Joel Iglesias und Noel Argüelles. Beide waren 2008 während eines Juniorenturniers in Kanada untergetaucht und haben mittlerweile millionenschwere Profiverträge unterschrieben. »Es lässt sich die Tendenz beobachten, dass sich mit jedem Mal mehr junge Baseballspieler entscheiden herzukommen, um ihren Traum vom großen Fang zu verwirklichen«, erklärt Pérez. »Sie stellen fest, dass der Faktor Alter von größter Bedeutung ist.«
Nicht zuletzt diese Tendenz, dass immer jüngere gut ausgebildete Sportler Kuba verlassen, dürfte Spieler- und Trainerlegende Victor Mesa zu dem Vorschlag veranlasst haben, über die rigide Vertragspolitik für kubanische Sportler nachzudenken. Die Regierung solle ihren Spielern erlauben, Verträge bei ausländischen Clubs zu unterschreiben. Nur so seien die »Deserta­tionen« zu stoppen, sagte Mesa, Olympiasieger 1992 in Barcelona und mehrmaliger Weltmeister mit der kubanischen Auswahl, in einem Interview mit der kubanischen Wochenzeitung Trabajadores Mitte November. »Andere Länder machen das, warum nicht wir auch? Letztlich rauben sie uns die Sportler bis hinunter in den Jugendbereich«. Mesa selbst hatte nach einer äußerst erfolgreichen Trainerkarriere in Villa Clara 2007/08 in Mexiko als Trainer gearbeitet. »Ich denke, dass es Verträge mit ausländischen Mannschaften geben könnte, zum Beispiel wenn die Spieler acht Jahre lang in der Nationalen Liga aktiv waren; mit unserer Einmischung und nicht völlig frei.«
Dem Miami Herald zufolge hat der Vizepräsident der Federación Cubana de Béisbol, Antonio Castro, während des Interkontinentalcups Ende Oktober in Taiwan vor Mitgliedern der kubanischen Delegation einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet. Danach soll kubanischen Spielern erlaubt werden, in den Profiligen anderer Länder zu spielen. Der Spieler würde 60 Prozent seines Gehalts behalten; 40 Prozent gingen an die kubanische Regierung. Länder, in die gewechselt werden dürfte, wären Taiwan, Japan, Südkorea, Mexiko, Venezuela, Nicaragua und Italien; die USA würden, aufgrund diverser juristischer Hindernisse wegen des Embargos, noch außen vor bleiben. Der Quelle zufolge, die als der Föderation nahestehend angegeben wird, wurde Antonio Castros Vorschlag auch seinem Vater Fidel und dem gegenwärtigen Regierungschef, Raúl Castro, unterbreitet und genießt die Unterstützung der Baseball-Föderation.
Profisport war in Kuba kurz nach der Revolution 1959 abgeschafft worden. Erfolgreiche Athleten genießen im Land jedoch bis heute diverse Privilegien. Stars wie die Baseballspieler Eduardo Paret oder Yulieski Gourriel oder die Leichtathleten Arnier Gracía oder Yipsi Morena werden in Kuba nach wie vor von der Regierung mit Haus und Auto ausgestattet. Aber die Mangelwirtschaft treibt immer mehr Athleten (und nicht nur die) ins Ausland. Die Zeiten scheinen vorbei, in denen die dreifachen Box-Olympiasieger im Schwergewicht, Teofilio Stevenson und Félix Savón, Millionenofferten aus den USA mit einem müden Lächeln ausschlugen.
Immer wieder werden kubanische Sportler mit lukrativen Verträgen gelockt, Wettkämpfe im Ausland zur Flucht zu nutzen. Die Liste der flüchtigen Sportler ist lang. Seit sich 1991 der Pitcher René Arocha entschloss abzuhauen, hat die Insel einen immensen Verlust an sportlichen Talenten zu verzeichnen. Allein im Jahr 2009 sind mehr als 35 Spieler geflüchtet. Mindestens 20 in Kuba geborene Spieler sind in den großen US-Baseball-Ligen aktiv.
Ähnlich lang und klangvoll ist die Liste bei den Boxern: Guillermo Rigondeaux, Juan Carlos Gomez, Ramon Garbey, Joel Casamayor und Erislandy Lara, allesamt Weltmeister oder Olympiasieger, haben Kämpfe im Ausland als Gelegenheit zur Flucht aus Kuba genutzt. In Italien spielt ein knappes Dutzend Kubaner in der Volleyball-Profiliga, und mindestens vier Fußballer von der Insel versuchen, sich in der Major League Soccer der Vereinigten Staaten durchzusetzen.
Die kubanische Regierung macht die Migrationspolitik der USA und deren »Ley de Ajuste Cubano« für die Flucht ihrer Talente verantwortlich. Dieses 1966 erlassene Gesetz gewährt Kubanern, die egal auf welchem Weg US-amerikanisches Territorium erreichen, automatisch eine Aufenthaltsgenehmigung und erleichtert Arbeitserlaubnisse. Doch die Gründe zur Flucht sind natürlich komplexer und individuell unterschiedlich. Neben der restriktiven Ausreisepolitik sind sie nicht selten der ökonomischen Situation seit 1989 geschuldet. Wie die Wirtschaft mit dem brain drain, der Abwanderung gebildeter Arbeitskräfte, in der Regel aus ärmeren Ländern in die globalen Zentren, hat auch der weltweite Sport mit diesem Phänomen zu kämpfen. Immer wieder werben reichere Nationen Sportler aus ärmeren Staaten ab. Kuba ist davon wegen seines hervorragenden Förderungssystems allerdings besonders betroffen.
Ein strukturelles Dilemma, das kaum zu lösen ist. Einerseits steckt der kubanische Staat viel Geld in das Sportfördersystem und erntet den Erfolg in Form olympischer Medaillen; Millionenverträge für seine Sportler im Ausland widersprächen aber den Gleichheitsansprüchen des sozialistischen Systems. Ende der Neunziger hatte die Regierung allenfalls einigen altgedienten Baseballern wie Omar Linares erlaubt, zum Abschluss ihrer Karriere in Japan zu spielen.
Wie schon bei den vorsichtigen Wirtschaftsreformen gilt auch für eine Reformierung des Sportsystems: Nichts zu tun, wäre am Schlimmsten. Denn sich in einer globalisierten Welt abzuschotten, kann nicht funktionieren. Indem ein Teil des Gehalts an den kubanischen Staat fließt, wie von Antonio Castro vorgeschlagen, könnten Verträge im Ausland durchaus eine lohnende Einnahmequelle für den kubanischen Staat darstellen. Ähnlich haben es die Sowjetunion Ende der Achtziger und China in den Neunzigern mit ihren Tennisspielern praktiziert. Das so eingenommene Geld könnte wieder in die Jugendförderung fließen und helfen, die materielle Basis des kubanischen Sports zu verbessern und somit die hervorragende Sportförderung zu erhalten, eine der beispielhaften Errungenschaften der Revolution. Die Sportler erhielten dafür das Recht zur Rückkehr nach Kuba, zu Familie und Freunden, was den illegal Flüchtenden verweigert wird. Ein nicht zu unterschätzendes Argument. Auch gingen sie dem kubanischen Sport nicht verloren wie bisher, sondern könnten weiterhin olympische und WM-Medaillen für das Land sammeln. Und was wäre das für eine kubanische Baseball-Auswahl mit Spielern wie José Contreras oder Kendry Morales!
Eine (Neu-)Regelung scheint unausweichlich, sonst wird es immer wieder zu Situationen kommen wie im März 2008 beim Olympischen Fußball-Qualifikationsturnier in den USA. Nach einem sensationellen 1:1 im ersten Spiel gegen den haushoch favorisierten Gastgeber und trotz der realistischen Chance, sich erst mal seit 28 Jahren wieder für ein olympisches Fußballturnier zu qualifizieren, waren die halbe kubanische Mannschaft und einige Betreuer geflüchtet. Dem mit 18 Spielern angereisten kubanischen Team standen im zweiten Gruppenspiel gegen Honduras nur noch zehn einsatzbereite Spieler zur Verfügung; später setzte sich auch noch der Assistenztrainer ab. Zwar zog der US-Zweitligist Miami FC nach einem Gespräch mit dem nordamerikanischen Fußballverband Concacaf sein Angebot zurück, fünf der Flüchtlinge zum Probetraining einzuladen. Aber dies wird wohl eher die Ausnahme bleiben. Denn für kubanische Baseballspieler sind es mit den Worten von Pérez »goldene Zeiten« auf dem Weg in die großen Ligen.