»Stuttgart 21« und andere Bürgerproteste

Die Bahnhofversteher

Auch Linke mischen bei den Protesten gegen den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs mit. Linke Inhalte sucht man bei den ­Demonstrationen und Protesten allerdings vergebens.

Es wird eng in der S-Bahn: Junge Leute in Dirndl und Lederhosen, die in den entfernten Kleinstädten als erste eingestiegen sind, belagern die Sitzbänke. An den Stationen der Innenstadtbezirke drängen nun Seniorinnen, Familien mit geländetauglichen Kinderwagen und Studentengruppen nach. Die Zugestiegenen tragen ins Knopfloch geknotete oder ums Handgelenk gebundene grüne Bändchen. Jacken und Umhängetaschen sind mit bunten Buttons geschmückt. Die Stuttgarter Volksfestwochen locken die einen ins Bierzelt auf den Cannstatter Wasen, die anderen in den Schlossgarten zur Demonstration gegen das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21«.
Während die Veranstalter des Vergnügungsfests steigende »ausländische Besucherzahlen« verbuchen können, ist der Protest im Park auffallend deutsch. »Wir sind das Volk!« Die Parole ist keine ironische Distanzierung von den Einheitsfeierlichkeiten. Der Bezug auf die »friedliche Revolution« ist bierernst gemeint. Bereits seit Herbst vorigen Jahres treffen sich die S21-Gegner wöchentlich zur »Montagsdemonstration« im Hauptbahnhof. Die Proteste wurden lange nur von einer überschaubaren Gruppe des Alternativprojekts »Kopfbahnhof 21« (K21) getragen, die für den Erhalt und eine Erneuerung des alten Kopfbahnhofs eintritt. Zu den K21-Unterstützern zählen auch viele Stuttgarter Linke, alte Antiimperialisten und ehemalige Antifas, die schon vor 15 Jahren Infoveranstaltungen gegen »Stuttgart 21« organisierten. Dass der Protest inzwischen hauptsächlich unter deutschnationalem Label organisiert wird, scheint sie ebenso wenig zu stören wie die Verherrlichung des »schönen Bahnhofs« und seines Erbauers Paul Bonatz.

Für die Grünen-Stadträtin Clarissa Seitz kommt der Abbruch der beiden Seitenflügel des Bonatzbaus der Zerstörung der Buddha-Statuen in Afghanistan gleich. Sie verstieg sich zu der Behauptung, durch den Abriss werde ein potentielles Weltkulturerbe verstümmelt. Dabei bleiben Halle und Turm des Monumentalbaus erhalten, der Daimlerstern auf dem Bahnhofsdach wird weiterhin über der Stadt leuchten. Trotzdem werden auf den Demonstrationen Bonatz-Porträts hochgehalten. Die S21-Gegner huldigen damit einem Hauptvertreter der »Stuttgarter Schule«, die sich als Gegenpol zur avantgardistischen Moderne verstand. Die in den zwanziger Jahren zeitgleich zum Bahnhof von Bauhaus-Architekten errichtete Weißenhofsiedlung galt Bonatz als »Schandfleck«. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme diffamierte er die Wohnanlage als »Vorstadt Jerusalems«. Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt nennt Bonatz’ Haltung zum Nationalsozialismus »ambivalent«, in der Ankündigung zu einer Werkschau des Architekten in der Tübinger Kunsthalle heißt es dagegen triumphierend: »Seine an Bautradition und Landschaftsbezug orientierte Architektur gewann im Kontext der Revision der Moderne neue Aktualität.«
Zur klassisch-konservativen Bauweise Bonatz’ passt der klassisch-konservative Naturschutz der »Parkschützer«. Sie bilden nach dem brutalen Polizeieinsatz und der Rodung der ersten Bäume die populärste Gruppierung des Aktionsbündnisses gegen »Stuttgart 21«. »Achtung – Sie verlassen den demokratischen Sektor« steht am neu errichteten Bauzaun im Schlossgarten geschrieben. Diesseits der Absperrung betritt man urdeutschen Boden: »Auch dieses Land ist Heimat. Lassen wir sie uns nicht wegnehmen.« Nachdem die Wasserwerfer die Parkwiese umgepflügt hatten, wurde der nasse Ackerboden mit Stroh trockengelegt. Die altarartigen Konstruktionen aus Grabkerzen und Blumenkränzen blieben unversehrt. Zu den beliebtesten Votivgaben gehören Kuscheltiere. Andere Spielzeugfiguren, vom zeitlosen Obelix über ausgestorbene Monchhichi-Äffchen bis zum zeitgenössischen Spiderman, dokumentieren die generationenübergreifende Anteilnahme.

Das wöchentliche »Gebet für Stuttgart« an der »Blutbuche« und viele Plakate bezeugen den christlich-religiösen Charakter des Widerstands. »5. Gebot: Du sollst nicht töten« hängt an einem Stamm und nicht weit davon in hellen Pastelltönen die Mahnung: »Der Mensch ist Teil der Natur.« Die »Parkschützer« identifizieren sich mit dem Schicksal der Bäume, sie wollen »kämpfen um euer/unser Überleben«, es geht schließlich um euren/unseren »Lebensraum«. Nicht nur der Baum ist das »Opfer«: »Wo Bäume sterben müssen, stirbt auch die Menschlichkeit.« Und Verbrechen gegen die »Menschlichkeit« gab es in Stuttgart schon einige: »Wir Bäume überlebten das Kaiserreich, Weimar, Hitler und die Bombennächte«, nun stellt sich die bange Frage: »Aber überleben wir Schuster, Mappus und Grube?«
Die rhetorischen Drohgebärden müssen weder den Oberbürgermeister noch den Ministerpräsidenten oder den Bahnchef beunruhigen. Auf jeder Abschlusskundgebung beteuern die Demonstranten, dass sie nicht nur »oben«, sondern auch »friedlich« bleiben wollen. Musikalisch untermalt werden ihre Ansprachen von Blechbläsern, die die Nationalhymne zum Besten geben, und Gesangsvereinen, die umgetextete schwäbische Volks- und protestantische Kirchenlieder vortragen. Auch der berühmteste Dichtersohn der Stadt ist vor neuen Endreimen nicht sicher. Aus Schillers »Ode an die Freude« wurde die Hymne »Freunde schöner Kopfbahnhöfe«. Am Samstag lagen Text und Notenblatt im Park aus, dennoch klang der Vortrag ähnlich kläglich wie auf den einschlägigen Youtube-Videos. Deshalb lädt das Aktionsbündnis nun regelmäßig in der kleinen Schalterhalle zur öffentlichen Chorprobe. Auch linke Musikanten beteiligen sich an dem Schau­singen mit einer Verunglimpfung des Jalava-Lieds der linken Kultband Die Schmetterlinge.

Die Verbindung eines Teils der Linken mit konservativen Naturschützern ist nicht neu. Auf einem Plakat ist die Genealogie skizziert: »Wackersdorf – Gorleben – Stuttgart 21«. In vielen Gemeinden des Großraums Stuttgart hat eine Mischung aus schwarz-grünen Positionen den sogenannten freien Wählern längst zur kommunalen Mehrheit verholfen. Heiner Geißler, »christdemokra­tischer Querdenker und Attac-Mitglied«, vertritt beide Seiten in Personalunion, deshalb wurde er als Schlichter wohlwollend begrüßt. Allerdings bleibt unklar, welche Aufgabe ihm überhaupt zukommen soll. »Ohne Baustopp keine Gespräche!« – wenn die S21-Gegner ihre eigene Parole ernst meinen, dann gibt es nichts zu verhandeln. Außerdem stellt sich die Frage, wer im Namen des Aktionsbündnisses an einer Gesprächsrunde teilnehmen soll. Zwar waren die »Parkschützer« in den vergangenen Tagen wortführend, doch werden die alten Veteranen der K21-Initia­tive sich nicht so einfach zurückdrängen lassen. Auf parteipolitischer Ebene ist die Rolle der Grünen unumstritten, skeptisch beobachtet die Basis dagegen, dass Bundespolitiker wie Cem Özdemir und Claudia Roth die Lokalmatadore wie die Grünen Werner Wölfle und Winfried Kretschmann in den Hintergrund drängen.
Darüber hinaus zeigt sich im Park inzwischen auch Widerstand gegen den Widerstand: Nicht alle Senioren sind gegen »Stuttgart 21«, es gibt auch Rentner, die sich auf ihrem Spaziergang im Schlosspark über das wilde Kampieren der »Parkschützer« echauffieren. Außerdem treffen sich immer mehr Befürworter zum »Joggen für S21«. Sollte es zu dem von den Gegnern angestrebten Volksentscheid kommen, ist keineswegs ausgemacht, dass eine Mehrheit im Land gegen den Tiefbahnhof stimmt. Auch deshalb setzen die Grünen immer mehr auf Wahlkampfparolen und immer weniger auf Sachkompetenz. Das Aktionsbündnis ahnt, dass die Demonstranten nur zahlreich kommen, solange die Inhalte vage und das Rahmenprogramm attraktiv bleiben. Auf den Kundgebungen werden längere Redebeiträge häufig mit stupiden »Mappus weg!«-Rufen unterbrochen. In weiser Voraussicht hat man für das kommende Wochenende Konstantin Wecker als Stargast eingeladen.
Der anschwellende Protest scheint die Stuttgarter Linken aus ihrer Lethargie gerissen zu haben. Am Bahnhof finden in diesen Wochen die verschiedensten Splittergrüppchen wieder zusammen. Diesem Umstand mag die euphorische Einschätzung geschuldet sein, man erlebe gerade das Erwachen eines neuen politischen Bewusstseins. Doch nicht die komplizierten Fragen nach dem verkehrspolitischen Sinn, den tatsächlichen Kosten des Projekts und der offensichtlich höchst mangelhaften Planung mobilisieren die Menschen, vielmehr handelt es sich vor allem um die Mobilmachung von Ressentiments.

Das Ressentiment speist sich aus dem Gefühl, betrogen worden zu sein und sich gegen diese »Sauerei« wehren zu müssen. Daher die Empörung über die »falschen Zahlen« und die Forderung nach einem sofortigen Baustopp. Den Groll, den »Stuttgarter in Halbhöhenlage« neuerdings gegen »die Oberen« hegen, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem, den sie gewöhnlich gegen die »Unterschichten« empfinden; heute trifft es das »Lügenpack«, morgen schon wieder die »Sozialschmarotzer«. Nur weil sie einmal die Staatsgewalt »in ihrer negativsten Form« am eigenen Leib erlebten, erklären sie sich noch nicht mit denen solidarisch, die diese Gewalt sonst immer zu spüren bekommen. Der Protest ist verbissen und rachsüchtig. »Aufbäumen« und Abstrafen gehören zusammen: »Wir wählen nie wieder CDU!« Die in Rage geratene Volksseele reproduziert die altbekannten Assoziationen von den »Filzläusen« in Politik und Wirtschaft und den Brunnenvergiftern, die »unsere Mineralquellen« gefährden.
Die wahnwitzigen Momente der Bewegung sind nicht zu übersehen. Dass gerade sie die Wirkung und die Anziehungskraft des Protests ausmachen, sollte analysiert werden. Stattdessen weigern sich die meisten Linken an Ort und Stelle, die Ambivalenz des Protests zu thematisieren. Mit den »ganz normalen Bürgern« teilen sie das Ressentiment, das alle trifft, die das Negative ansprechen. Wer sich dem Protesthappening verweigert, wird entweder dem gegnerischen Lager zugeordnet oder als »kritischer Kritiker« beschimpft. Als gelte es nicht, sich gegen jede Vereinnahmung zu wehren und von keiner Seite dumm machen zu lassen. Immerhin hat die Linke Hochschulgruppe den »handzahmen Ringelreigen« der S21-Gegner, der den Protest moralisiert und damit »leider vollkommen entpolitisiert«, in einem Flugblatt erstmals vorsichtig kritisiert. Ansonsten aber geben Trillerpfeifen und Vuvuzelas in Stuttgart den Ton an.