Eine Pilgerreise nach Fátima

I want to believe

Fátima gehört zu den beliebtesten katholischen Wallfahrtsorten. Hier soll die Jungfrau Maria im Jahr 1917 drei Hirtenkindern ­erschienen sein. Die Pilger hoffen, dass ihre Gebete an diesem Ort erhört werden. Manche wollen von einer Krankheit geheilt werden, andere brauchen einfach nur einen Job.

Nono, ein Biker aus Lissabon, der in Lederkluft und mit einem Helm in der Hand über den Platz vor der Kapelle schlendert, ist etwas wortkarg. Einem Freund wolle er helfen, antwortet er auf die Frage, warum er an diesem Ort zur Jungfau Maria betet. Mehr ist ihm nicht zu entlocken, Biker schwatzen eben nicht viel. Doch Nono betet und zündet eine Kerze an, wie fast alle, die nach Fátima kommen.
Der Papst mag Probleme haben, eine ausreichende Zahl von Männern für das Priesteramt zu begeistern. Doch über einen Mangel an Pilgern kann er nicht klagen, und es sind keineswegs nur Alte und Kranke, die diesen Ort aufsuchen. Vor der Basilica Antiga erstreckt sich der größte Kirchenvorplatz der Welt, und die an seinem Ende gelegene, im Jahr 2007 fertiggestellte Igreja da Santissima Trindade (Kirche der allerheiligsten Dreifaltigkeit) kann fast 9 000 Gläubige aufnehmen. Exakte Statistiken gibt es nicht, doch wird geschätzt, dass jährlich vier Millionen Menschen nach Fátima pilgern. Das noch beliebtere Lourdes empfängt pro Jahr sogar sechs Millionen Besucher. Da kann Mekka mit seinen 2,5 Millionen Pilgern nicht mithalten.
Ohne das Pilgergeschäft wäre Fátima wohl ein Dorf geblieben. Eine kleine Marienstatuette bekommt man schon für einen Euro, aber die meisten Pilger lassen wohl mehr Geld in den zahlreichen Andenkenläden, Restaurants und Cafés der Kleinstadt. An einem gewöhnlichen Donnerstag im September stehen dutzende Busse auf den weiträumigen Parkplätzen. Manche Pilger wollen offenbar länger bleiben und reisen mit Wohnmobilen an. Der Betrieb beginnt am frühen Morgen und endet erst kurz vor Mitternacht. Mehrere Messen werden gelesen, zwischendurch halten Nonnen Andachten ab. Man kann hier beichten, heiraten oder sein Kind taufen lassen. Doch die meisten Menschen kommen, um zur Jungfrau Maria zu beten. Das kann man zwar in jeder Kirche und auch zuhause tun, für die meisten gläubigen Katholiken ist dieser Ort jedoch etwas Besonderes.
Am 13. Mai 1917 soll Maria hier drei Hirtenkindern erschienen sein. Lúcia dos Santos, Jacinta Marto und ihr Bruder Francisco vernahmen die Anweisung, künftig an jedem 13. Monatstag wieder an diesem Ort auf sie zu warten. Die Erzählung von der Marienerscheinung verbreitete sich in der Gegend, von Monat zu Monat vergrößerte sich die Zahl der Schaulustigen. Am 13. Oktober waren es bereits Zehntausende, an diesem Tag soll ein »Sonnenwunder« zu sehen gewesen sein. Die Sonne habe »getanzt« und schien auf die Erde zu fallen, berichteten Augenzeugen.
Wo damals ein Feld war, befindet sich heute die Capelinha das Aparições (Kapelle der Erscheinung), angeblich an genau dem Ort, an dem die Kinder Maria gesehen haben wollen. Doch die meisten Pilger beginnen ihren Rundgang mit einem Besuch der Basilica Antiga. Vor dem Eingang liegt eine Art Gästebuch aus, in das jeder Besucher seine Wünsche eintragen kann. Mehr als ein dutzend Seiten wurden seit dem Morgen vollgeschrieben. »Bitte mach, dass mein Krebs weggeht«, ist da zu lesen. Andere äußern Bitten, die ihnen nahestehende Menschen betreffen. Nicht immer geht es um die Heilung von Krankheiten, auch Jobs sind gefragt, und sogar beim Erhalt der Liebe eines Paares soll Maria helfen.
Viele junge Pilger besuchen diesen Ort. Ein leicht bekleidetes Pärchen, das die Kirche betritt, wirkt eher touristisch interessiert. Doch der junge Mann in kurzen Hosen beugt schon am Eingang die Knie, dann gehen beide schnurstracks zur nächsten Kirchenbank und beten. In der Basilica Antiga befinden sich die Gräber der drei Hirtenkinder. Jacinta starb bereits 1919, Francisco im folgenden Jahr. Nur Lúcia dos Santos erreichte ein hohes Alter. Sie starb im Februar 2005, wenige Wochen vor ihrem 98. Geburtstag.
Insbesondere Jacinta scheint große Verehrung zu genießen. Wie ihr Bruder Francisco wurde sie im Jahr 2000 selig gesprochen, die Heiligsprechung könnte folgen. Eine Ausstellung in den Räumen unterhalb der Igreja da Santissima Trindade ist Jacinta gewidmet. Wie Reliquien werden allerlei Gegenstände präsentiert, die sie benutzte oder die sich in ihrer Umgebung befanden, unter anderem ihr Besteck, das inzwischen rostig geworden ist, ihr Rosenkranz, ihr Korb, Fetzen ihrer Kleidung und ein geflickter Regenschirm, den man über sie hielt, als es während einer der Marienerscheinungen regnete. Auch ein Stück ihres Zopfes hat sich angeblich erhalten.

Es gibt Bilder und Statuetten des Hirtenmädchens mit einem Lamm auf dem Arm in verschiedenen Variationen. Oft wird sie als fröhliches Kind dargestellt. Die historischen Fotografien zeigen jedoch ein ernstes Mädchen. Allerdings war es damals nicht üblich, in die Kamera zu grinsen. Überdies wurden die Kinder regelrecht verhört und wohl auch misshandelt. Sie sollten gestehen, dass sie sich die Geschichte nur ausgedacht hatten. Doch alle drei bestanden darauf, Maria gesehen zu haben.
Jacinta soll es gewesen sein, die das zunächst unter den Kindern vereinbarte Stillschweigen brach und von der Marienerscheinung erzählte. Die Überlieferung der Offenbarungen aber stammt von Lúcia dos Santos. Mit der Marienerscheinung waren drei Visionen verbunden, die als »die Geheimnisse von Fátima« bezeichnet werden. Dass sie nicht eben kindgerecht waren, rechtfertigt die katholische Kirche mit ihrem Zweck. »Die Kinder haben einen schrecklichen Augenblick lang eine Vision der Hölle erlebt«, schrieb Joseph Ratzinger, damals Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, im Jahr 2000 in einer theologischen Erläuterung solcher »Privatoffenbarungen«. Die Hirtenkinder »haben den Fall der ›Seelen der armen Sünder‹ gesehen. Und nun wird ihnen gesagt, warum sie diesem Augenblick ausgesetzt wurden: ›per salvarle‹ – um einen Weg der Rettung zu zeigen.«
Über dieses erste Geheimis wird unter Katholiken nicht debattiert. Auch das zweite Geheimnis gilt als gelüftet. Diese Vision wird als Ankündigung des Zweiten Weltkriegs und der Bekehrung Russlands, also des Zusammenbruchs der atheistischen Sowjetunion, interpretiert.

Umstritten ist das dritte Geheimnis. Alle Visionen hat Lúcia dos Santos beschrieben. Die ersten beiden wurden 1942 veröffentlicht, die dritte Vision schrieb sie 1944 nieder, fügte aber die Notiz hinzu, dass diese Offenbarung vor dem Jahr 1960 nicht veröffentlicht werden sollte. Die Aufzeichnungen erhielt zunächst der Bischof von Leiria, seit 1957 lagerten sie im Geheimarchiv des Vatikans. Die Voraussetzungen für das Entstehen einer Verschwörungstheorie waren somit erfüllt, und als Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000, vier Jahrzehnte nach dem Ablauf der Geheimhaltungsfrist, die Aufzeichnungen veröffentlichte, glaubten viele, der Vatikan habe nicht das gesamte Dokument freigegeben.
Das dritte Geheimnis gilt als Hinweis auf das Attentat, das Mehmet Ali Agca im Jahr 1981 auf den Papst verübte. Doch Johannes Paul II. überlebte, anders als der Papst in der Vision, der »von Soldaten getötet« wurde. War das Misslingen des Attentats dem Eingriff Marias zu verdanken? Diese Version wurde diskret von der Kirche verbreitet. Doch Lúcia dos Santos schilderte eine apokalyptische Szene, einen Massenmord an Geistlichen jeden Ranges und weltlichen Personen. Zwei Engel mit Gießkannen aus Kristall »sammelten das Blut der Märtyrer auf und tränkten damit die Seelen, die sich Gott näherten«.
Das klingt etwas unappetitlich, im Rahmen der katholischen Lehre muss die Schlussszene jedoch als Trost verstanden werden. »Kein Leiden ist umsonst, und gerade eine leidende Kirche, eine Kirche der Märtyrer, wird zum Wegzeichen auf der Suche der Menschen nach Gott«, kommentierte Ratzinger. In seiner aus Anlass der Enthüllung des »dritten Geheimnisses« veröffentlichten Auslegung betont er, dass den »Privat­offenbarungen« nur eine untergeordnete Rolle zukomme. Etwas wirklich Neues könnten sie nicht enthalten, denn »in Christus hat Gott alles, nämlich sich selbst gesagt«. Die Visionen seien eine Hilfe zum Glauben, nicht »Futter für unsere Neugierde«.
Ein Mensch, dem eine solche Offenbarung zuteil wird, kann sich als Auserwählter fühlen und der Versuchung erliegen, Ansichten zu vertreten, die mit der offiziellen Lehre nicht übereinstimmen. Lúcia dos Santos entwickelte nie theologische Ambitionen, doch war die Amtskirche vorsichtig. 13 Jahre vergingen, bevor die Marienerscheinungen von Fátima anerkannt wurden. Von Heilungen, die auf Gebete in Fátima zurückzuführen sein sollen, wurde zwar öfter berichtet, doch hat die Kirche noch keines dieser »Wunder« bestätigt. Andererseits ist kaum etwas so beliebt unter den Gläubigen wie eine Pilgerfahrt zu den Orten von Marienerscheinungen. Gänzlich verzichten will Ratzinger auf die Nutzung der »primär aus der Volksfrömmigkeit« stammenden Privat­offenbarungen daher nicht. Nunmehr Papst Benedikt XVI., besuchte er Fátima im Mai dieses Jahres. Hunderttausende füllten den Platz vor der Basilica Antiga.
Benedikt hat derzeit sicherlich größere Sorgen als den Streit mit den Verschwörungstheoretikern, überwiegend ultrarechten Katholiken, die unterstellen, der Vatikan halte etwas geheim, um eine konziliante Politik gegenüber anderen Glaubensrichtungen zu rechtfertigen. Die Pilger scheinen sich für die Auslegung der Geheimnisse nicht zu interessieren. Sie betrachten die Offenbarungen vor allem als Beweis dafür, dass Fátima ein geheiligter Ort ist, an dem Gebete besonders wirksam sind.
»Maria ist hier erschienen. Sie hat uns gesagt, dass wir an diesem Ort zu ihr beten sollen«, sagt Maria Vieira, die sicherlich weit über 80 Jahre alt ist. Sie besucht eine Altentagesstätte in der nahen Kleinstadt Leiria. Die gesamte Gruppe ist heute angereist, die meisten besuchen Fátima zum ersten Mal. Maria Vieira ist gehbehindert, hat aber keinen besonderen Wunsch für sich selbst und wird für die Gesundheit aller in ihrer Gruppe beten. Ihre Begleiterin Juana Ervilha übersetzt lächelnd, sie erweckt nicht den Eindruck, als glaube sie an die Kraft der Gebete.

Zu den Zweiflern gehört wohl auch Carlos Miguel Carvalho. »Eine Art Pilger« sei er schon, er habe auch davon gehört, dass manche der Wünsche, die Maria vorgetragen werden, in Erfüllung gehen. »Entweder man glaubt daran oder nicht.« Ganz sicher scheint er sich selbst nicht zu sein, für ihn ist Fátima »ein symbolischer Ort«. Vielleicht ist er nur dem Wunsch seiner Begleiterin Raquel Sale Conqueiras gefolgt, die hierhergekommen ist, weil sie ein Gelöbnis abgelegt hat. Das Gelöbnis will sie nicht näher erläutern, aber sie bekennt sich zu einem sehr konkreten Wunsch. »Ich brauche einen Job.« Sie schiebt einen Kinderwagen, im Korb sind sechs Kerzen deponiert. Für die Gesundheit der Familie, die offenbar nicht ganz den Vorstellungen der Amtskirche entspricht, wird sie in der Kapelle der Erscheinung auch beten.
Diese Kapelle zu besuchen, versäumt kein Pilger. Fast jeder zündet danach wenigstens eine Kerze an. Der Pilgerbetrieb ist auch eine logistische Herausforderung. Manche Pilger sind in Eile. Wer mit einer Reisegruppe hier ist, das gesamte Programm absolvieren, die Ausstellungen besuchen und in einem der unzähligen Devotionalienläden in der Umgebung ein paar Andenken kaufen will, hat wenig Zeit für Kontemplation. Die kirchlichen Organisatoren müssen für einen schnellen und reibungslosen Ablauf sorgen. Selbst an diesem ruhigen Donnerstag darf den Kerzen nicht die Chance gegeben werden, langsam herunterzubrennen. Flammen unter den Kerzen sorgen dafür, dass sie schnell schmelzen, damit Platz für die der folgenden Pilger frei wird.
An der Rückseite der Kapelle wurden Briefschlitze angebracht. Hier können die Gläubigen ihre Spenden und Gelöbnisse abgeben. Wer etwas von Maria erwartet, will meist auch etwas für sie tun und verspricht, künftig mehr zu beten, sein Leben zu ändern oder gute Werke zu tun.
Maria ist aber auch zuständig für die Vergebung der Sünden. Wer sehr fromm ist oder glaubt, eine Buße besonders nötig zu haben, legt den mehrere hundert Meter langen Weg von der Igreja da Santissima Trindade zur Kapelle auf den Knien zurück. Auch die Kapelle kann man auf Knien rutschend umrunden. Für diesen Zweck wurden ­eigens Marmorwege angelegt. Über der Tafel am Startpunkt vor der Igreja da Santissima Trindade hängen aber auch Knieschützer.

Schließlich verzeiht Maria fast alles. Ihre Popularität verdankt die katholische Kirche nicht zuletzt der Tatsache, dass sie weit mehr als der Protestantismus und der diesem recht ähnliche orthodoxe Islam eine »Religion des Herzens« ist: besonders irrational, aber zauberhaft. Im Katholizismus ist mehr von den antiken Traditionen erhalten geblieben als in anderen Konfessionen, ansonsten gesteht nur noch die orthodoxe Kirche, die den Marienkult ebenfalls kennt, einer Frau eine so bedeutende Funktion zu. Marias wichtigste Aufgabe ist es, einen unnahbar erscheinenden Gott davon zu überzeugen, dass die Sünderinnen und Sünder, die sich an sie wenden, im Grunde gute Jungen und brave Mädchen sind, denen vergeben werden sollte.
Veronica Chang, die mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter aus Malaysia angereist ist, gibt auf die Frage, warum sie zur Jungfrau Maria statt zu Gott betet, eine pragmatische Antwort: »It’s effective.« Sie hat kein spezifisches Anliegen. »Die Gesundheit der Familie« liegt ihr am Herzen, krank ist derzeit aber niemand in ihrer Verwandtschaft. Auch für den Frieden in der Welt hat sie gebetet. Beseelt von einem freundlichen Missionsdrang, nimmt sie mich am Arm und will gleich mit mir in die Kapelle gehen. Ihre Tochter versucht sie zu bremsen, aber ganz ernst war der Bekehrungsversuch ohnehin nicht gemeint. »Wer zum ersten Mal die Kapelle besucht, hat drei Wünsche frei«, sagt Veronica Chang zum Abschied. Das wusste ich nicht, ich war bereits in der Kapelle und habe diese Gelegenheit verpasst.