Christian Enzensberger: »Eins nach dem andern. Gedichte in Prosa«

In der Mangel

Ein Jakob Böhme, der Marx gelesen hat: Christian Enzensbergers philosophisches Prosagedicht »Eins nach dem andern«.

Ein starkes Gedicht braucht nicht viele Wörter. Es kommt mit einer Handvoll aus. Christian Enzensbergers Prosagedicht »Eins nach dem andern« wird von einem einzigen Wörtchen angetrieben: »dann«. »Dann« kann verwickelte, ja verzweifelte Gedanken sarkastisch abschneiden, etwa mit der knappen Meldung: »Ich fuhr dann nach Köln.« »Dann« kann ganz lässig ans andere Ende der Stadt katapultieren, nach dem Muster des Superhelden-Comics: »Meanwhile on the top of the Empire State Building«; gerade noch neben »gebadeten« Premierengästen in der Oper, dann am leeren Krokodilsbecken des Tierparks.
Enzensbergers »dann« ist ein unermüdlich tuckernder Motor: »Ich las dann ein Gedicht und das Gedicht fing mit O an, ich stockte dann bei diesem O, ich dachte O, wieso O«. Tempo, Tempo, Tempo. Man rast durch diese Prosa, ist nach einer Stunde durch und fängt gleich wieder von vorn an. Der Anfang wirkt noch kontemplativ.
Man sieht den Autor sich tagelang tatenlos aus dem Fenster lehnen und sich fragen, ob er, da er nun schon die ganze Zeit die Natur beschaut, nicht einmal ein Naturgedicht schreiben sollte. Und so schreibt er ein Gedicht über die verspottete Kartoffel, die närrische Bohne und den unseligen Pilz. »Viele Augen hat die arme amorphe Kartoffel und aus allen keimt sie zugleich.« Ein bizarres Schauspiel aus dem Nutzgarten, das an Francis Ponge erinnert.
Doch es hätte schon Ponge, der Miniaturist, mit Ponge, dem Ästhetiker, zusammenarbeiten müssen. Denn Enzensberger schaltet nach jeder Skizze eine scharfe Selbstkritik ein. Er prüft, ob er alle »Tatsachen« angemessen dargestellt und ob er zu unstatthaften Methoden gegriffen hat, etwa zur Einfühlungsmethode. »Ich sagte mir, mit der Einfühlung ist es vorbei, sie ist erstens unappetitlich, und zweitens wie soll sie noch stattfinden auf der im entwickelten Kapitalismus erreichten Isolationsstufe.« Vor dieser Kritik kann der Satz »H. ist darüber froh« nicht bestehen.
Über »H.« heißt es unter anderem: »Hinter dem Zwischenraum erfaßt H’s Auge ein Eßding, und zwar ein unbewegliches Eßding.« Mit H. ist nicht Edmund Husserl gemeint, sondern ein Haushuhn. »Das Eßding geht in H. hinein und verschwindet. H. macht gock.«
Nachdem er dem Huhn seiner Ansicht nach viel zu nahe gekommen ist, handelt der Autor »dann« von einer Wäschemangel und hofft, dabei jegliche »Zweideutigkeit« zu vermeiden. Das geht selbstverständlich nicht. Denn wenn von einem Kampf mit der Mangel berichtet wird, ist der Gedanke an einen Kampf mit dem Mangel kaum zu verdrängen.
Von einem Mangel ist aber später häufig die Rede, von einem antizipierten Mangel oder auch von einem Mangel an Mangel, einem negativen Mangel. Denn nach einem Vergleich von Bienen mit Männern und der Erzählung haarsträubender Unfälle und Aufstände kommt der Autor auf drängende Lebensfragen, unter anderem eben auf den Mangel, der dadurch entsteht, dass es an Zwang, der einen in die Mangel nimmt, nie mangelt. Der Mangel hängt also mit einem Nicht-Mangel zusammen. Wer der einen Mangel entronnen ist, gerät in die andere hinein und »die Nichtabwicklung« eines Tageslaufs würde »keinen Nichttageslauf zur Folge haben, sondern eine unvorhersehbare Art von anderem Abwicklungstageslauf«. Wir stehen vor der Denkarbeit eines Mannes, der entschlossen ist, sein Leben vom Zwang zu befreien, was ihn nur in immer neue Zwänge führt.
Um die eine »Nachdenkausschließlichkeit« loszuwerden, nimmt er »dann« eine andere an, und diese steht beispielsweise im Zeichen der Wurst. Es hat wohl noch niemand versucht, der Wurst philosophisch zu kommen, Ponge war sie vermutlich zu deutsch. Enzensberger wagt den Gedanken, dass sich bei einer Wurst »das zerkleinerte Tier innerhalb eines Teiles seiner selbst befindet, also gleichsam in der Wurst das Tier in der von sich selbst gegessenen Form vorliegt. In dieser Hinsicht also eine gewisse Menschenähnlichkeit von Würsten, und in anderer Hinsicht eine gewisse Menschenähnlichkeit von Spinnen, von Knöpfen, von Nudeln.«
Sein Verleger teilt im Nachwort mit, Christian Enzensberger, der im letzten Jahr verstorben ist, habe umfangreiche, teils naturphilosophische Schriften hinterlassen, für die hoffentlich irgendwann einmal einer »Geduld aufbringt«. Man darf bezweifeln, dass, falls einer diese Arbeit unternähme, das Ergebnis veröffentlicht würde, denn im deutschen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wird das Unwichtige prompt, das Wichtige 50 Jahre zu spät erledigt. Dafür, dass Enzensbergers naturphilosophische Meditationen gehaltvoll und schön wie das Wunder sind, ist mit »Eins nach dem andern« nicht der erste Beweis erbracht.
»Es is ois ä denggä, ä denggäds und ä dengds«, haben in der Geschichte »Die Steine die Gewächse der Leib« fränkisch philosophierende Kiesel angemerkt; es ist alles ein Denken und ein Gedachtes, das freilich an Stoff und Stein geschärft und gewitzt ist. Als die Zeitschrift Akzente 2001 Auszüge aus dieser wunderlichen Schrift veröffentlichte, glaubte ich, einen modernen Jakob Böhme vor mir zu haben, einen Böhme, der Marx gelesen hat.
Christian Enzensberger war ein gelehrter Mann, er hat Lewis Carroll übersetzt und lehrte Anglistik. Eine Satire über die Universität findet sich im vorliegenden Band, »Die Verbesserung« heißt sie. Sie beginnt mit der sehr komischen Schilderung einer bewusstseinsverändernden Gremienarbeit und langt in der für ihn typischen Gedankenflucht bei der »Exportrückvergütung« und beim Zustand des Weltkapitalismus an. »Eins nach dem andern!« mag sich der Autor ermahnt haben, wenn ihm die Pferde durchzugehen drohten, aber gottlob ohne Erfolg, es geht im Galopp querfeldein, und es gibt nichts Schöneres, als ihn auf diesen wilden Ausritten zu begleiten.

Christian Enzensberger: Eins nach dem andern. Gedichte in Prosa. Die Verbesserung. Essay. Hanser, München 2010, 80 Seiten, 12,90 Euro