Die deutsche Integrationsdebatte

Die Diktatur der Anpassung

Seit einigen Jahren sprechen Bundesregierungen nicht mehr von Ausländerpolitik, sondern von Integration. An den Implikationen hat sich aber nichts geändert, es geht weiterhin um Anpassung.

Der Thilo Sarrazin der achtziger Jahre war ein nicht minder elitärer Schnösel, aber immerhin einer vom Fach: Ausgestattet mit Erkenntnissen, die er aus dem Studium von Echsen auf Galápagos und Naturvölkern in Neuguinea gewonnen haben wollte, konstatierte der österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt eine genetisch bedingte Xenophobie. Unermüdlich rechnete er in Büchern und Aufsätzen, etwa in der Bunten oder der Süddeutschen Zeitung, den Ertrag gebärfauler deutscher Frauen gegen den Ertrag kinderreicher türkischer Frauen auf und schlussfolgerte daraus die Gefahr einer »kulturellen und genetischen Verdrängung der angestammten Bevölkerung«, die einer »Landnahme« gleichkomme.
In seiner Hybris dem gelernten Volkswirt Sarrazin ähnlich, hatte auch Eibl-Eibesfeldt einen Hang zum Interdisziplinären – mal lobte er den Kapitalismus ob dessen Vereinbarkeit mit den »darwinistischen Evolutionsprinzipien«, mal kritisierte er die zeitgenössische Kunst, weil diese den angeborenen ästhetischen Präferenzen des Menschen zum Wahren und Schönen zuwiderlaufe, und stets versuchte er, seine Thesen mit Befunden aus der Biologie zu belegen.

Zu einem waschechten, auf Titelseiten und in Talkshows verhandelten Skandal reichte es bei Eibl-Eibesfeldt, der immer jeden Verdacht des Rechtsextremismus von sich wies, dennoch nie. Dafür wurde er in allen Ehren von der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität emeritiert und mit dem Bundesverdienstkreuz und allerlei weiteren Titeln ausgezeichnet. Und wenn man den inzwischen 82jährigen fragt, erzählt er einem heute noch unbekümmert vom »unausweichlichen Kampf der Wiegen«.
Dass es nie analog zur Causa Sarrazin zu einer Causa Eibl-Eibesfeldt kam, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen folgt heute die mediale Inszenierung von Skandalen anderen Gesetzmäßigkeiten als noch vor 20 oder 30 Jahren. Zum anderen hat sich der Diskurs um die Einwanderung verändert. Das Mantra, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ohne das jahrzehntelang keine Regierungserklärung zum Thema Ausländer auskam, ist verschwunden, und »Integration« wurde längst parteiübergreifend zu einem der dringlichsten gesellschaftlichen Ziele schlechthin erklärt. Zugleich hat sich in der Einwanderergesellschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Aufenthalt in Deutschland von dauerhafter Natur ist. Zudem hat sich die klassenmäßig ehedem homogene Einwanderergesellschaft ausdifferenziert und Figuren des öffentlichen Lebens wie Özdemir, Özkan und Özil hervorgebracht.
Es ist leicht, derlei Wandlungen festzustellen, doch ist es falsch, von einer klaren einwanderungspolitischen Zäsur zu reden und diese vielleicht auf den Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung zu datieren. Nie konnten sich bereits hier lebende Ausländer leichter einbürgern lassen als in den Jahren zwischen 1991 und 2000. Also in der Zeit, als unter der Regierung Kohl erstmals ein Anspruch auf Einbürgerung eingeräumt wurde und bevor unter der Regierung Schröder die Einbürgerung an Sprachtests gekoppelt und die Hintertür zur doppelten Staatsbürgerschaft (aus der alten Staatsbürgerschaft austreten, die deutsche annehmen und dann erneut die alte annehmen) geschlossen wurde. Auch die erste Koalitionsvereinbarung der liberal-konservativen Bundesregierung von 1982 nannte drei ausländerpolitische Ziele: die hier lebenden Ausländer integrieren, die Rückkehrbereitschaft fördern und weitere Einwanderung verhindern.
Zwar sprach man von Ausländer- statt von Integrationspolitik, »integrieren« aber wollte man schon damals, irgendwie jedenfalls. Das Problem: Man wusste nicht genau, was das eigentlich heißt. Und man weiß es bis heute nicht.

So steht der Name Sarrazin weniger für das Aufkommen eines neuen Rassismus der Mitte oder für einen Rückfall in überwunden geglaubte Denkfiguren. Er steht vor allem dafür, mit welch atemberaubendem Mangel an Geschichtsbewusstsein die Debatte um »Integration« hierzulande geführt wird, wie man stets so tut, als stünde das Land erst am Beginn einer Masseneinwanderung, und wie sich bestimmte Motive mit einer nicht totzukriegenden Beharrlichkeit wiederholen, während das Leben sich längst verändert hat.
Auch Eibl-Eibesfeldt verwies, ebenso wie in der jüngeren Vergangenheit Thilo Sarrazin oder der Historiker Hans-Ulrich Wehler, auf die »gelungene Integration« der Ruhrpolen des 19. Jahrhunderts, um im gleichen Atemzug festzustellen, dass »kulturferne Ausländer« (bei Wehler die »muslimische Diaspora«) prinzipiell anders und »nicht integrierbar« seien. Tatsächlich aber war nur das »Integrationshindernis« Islam eine Erfindung der achtziger Jahre, nicht jedoch der Glaube an unüberwindliche, kulturell bedingte »In­tegrationshindernisse« überhaupt.
Noch das von 15 Hochschulprofessoren unterzeichnete »Heidelberger Manifest« aus dem Jahr 1981, der damals viel beachtete, wissenschaftlich begründete Ausdruck eines Rassismus der Mitte, verzichtete auf feine Unterscheidungen zwischen Einwanderergruppen und sprach generell davon, dass »die Integration großer Massen nichtdeutscher Ausländer bei gleichzeitiger Erhaltung unseres Volkes nicht möglich« sei. In den sechziger Jahren galten Italiener und Jugoslawen als »kulturfremd« und »andersartig«, Ende des 19. Jahrhunderts die Ruhrpolen.

Schon damals konnte man sich »Integration« nur als restlose Anpassung vorstellen: »Scharfe Überwachung der Agitation und Vereinstätigkeit, Fernhaltung nationalpolitischer Geistlicher, Beschränkung des Gebrauchs der polnischen Sprache in öffentlichen Versammlungen, ausschließlich deutsche Schulbildung«, zählte Heinrich Konrad Studt, Oberregierungspräsident von Westfalen, im Jahr 1896 als geeignete Maßnahmen auf, um die Ruhrpolen der erwünschten »Germanisierung« zuzuführen.
Dieser Wunsch, dort, wo eine Einbürgerung nicht mehr rückgängig zu machen ist, wenigstens alle sichtbaren Spuren der Herkunft zu beseitigen, hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Das zeigt etwa ein Blick in den »Nationalen Integra­tionsplan« der Bundesregierung vom Juli 2007, wo auf gut 200 Seiten satte 1 224 Mal das Wort »Integration« auftaucht, ohne dass ein einziges Mal erklärt würde, was zum Teufel damit eigentlich gemeint ist. Stattdessen finden sich darin Formulierungen wie jene, dass die »Grundlage« der Integration neben »unseren Wertvorstellungen und unserem kulturellen Selbstverständnis unsere freiheitlich demokratische Grundordnung« sei.
Dagegen hätte wohl selbst Eibl-Eibesfeldt nichts einzuwenden. »Wer hindert uns, den Immigranten eine Bedingung zu stellen: Ihr kommt hierher, ihr schließt euch voll dieser Solidargemeinschaft an. Ihr assimiliert euch, ihr werdet Deutsche«, fragte er im März 1998 bei einem Spiegel-Streitgespräch den CDU-Politiker Heiner Geißler. Dagegen ließe sich einiges einwenden. Nicht der Einwand des türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, dass Assimilation ein »Verbrechen gegen die Menschheit« sei. Aber sehr wohl, dass in einer kapitalistischen und pluralistischen Gesellschaft dieses »Uns« höchstens während einer Fußballweltmeisterschaft existiert.
Der Rest sind Selbstverständlichkeiten – natürlich gilt geltendes Recht für jeden –, sind soziale und nicht kulturelle Probleme – der rationale Kern des Begriffs Integration ist die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg – und sind politische Probleme – deutsche Jihadisten sind auch nur Deutsche.