Eine Hommage an die E-Mail

Re: Re: :–(

Ruinieren Computer die Sprache? Wird das Abendland überspamt? Eine kleine Verteidigung der E-Mail.

In den letzten 50 Jahren habe ich die Markteinführung vieler Technologien erlebt: die des Farbfernsehers, der Stereoanlage, der Geschirrspülmaschine, des Walkmans, des Heimcomputers, der Musik-CD, der CD-Rom, des Handys, des Internets, der DVD, der Digitalkamera. Die meisten von ihnen sind nützlich, aber lieben kann ich unter allen Erfindungen nur die E-Mail, denn sie brach die jahrzehntelange Terrorherrschaft des Telefons.
Gesetzt, mein Leben verliefe in idyllischen Bahnen, auf einer abgeschiedenen Insel oder in einem Baumhaus, wäre mir E-Mailing völlig schnurz, und ich kommunizierte, wenn schon, mit Trommel und Rauchzeichen. Aber unter den gegebenen Umständen hat mich diese neue Technik von einer alten Technik erlöst. Hätte man sich vor 15 Jahren vorzustellen gewagt, dass das möglich sein könnte? Dass einem Leben und Zeit nicht länger zerschrillt wird? Dass einer in die Badewanne steigen, sich auf dem Balkon niederlassen oder in Ruhe ein Kapitel zu Ende lesen kann, ohne dass ein Telefon ihn dabei unterbricht und durch die Wohnung scheucht? Das Problem war erkannt, Anrufbeantworter und Faxgerät waren als Dämme vor dem Telefon errichtet, über die nicht so leicht der Wortschwall unzeitiger Anrufer treten konnte. Und Anrufe sind immer unzeitig.
Aber es konnte nicht verhindert werden, dass ein Nichtsahnender den Hörer abhob und mit der Frage, ob er Auskunft über sein Konsumverhalten geben könne, oder mit der Aufforderung konfrontiert wurde, auf der Stelle seine Gefühle oder seine Honorarforderung offen zu legen. Wer nicht schlagfertig ist, versagt vor dem Gerät. Und nicht selten wurde man in stundenlange ­Gespräche verwickelt; daran sind Freundschaften zerbrochen. Heute öffnet man die Mails, wenn die Kinder im Bett und die Kühe im Stall sind.

Es kann also sein, dass eine Technologie die schäd­liche Wirkung einer anderen mildert. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass eine Technologie den Schaden einer andern potenziert. Es versteht sich, dass ich kein Handy besitze. Handy bedeutet, den bislang aufs Haus begrenzten Terror grenzenlos zu machen. Es kommt dem Wunsch entgegen, selbst während das Flugzeug in die Tiefe stürzt, letzte Botschaften abzusetzen. Und Passivhörer wie ich müssen überall den Abfall einatmen. Völlig gegen meinen Willen verfolgte ich vor kurzem im ICE-Großraumwagen, wie eine Dame ihren Hotel-Masseur darüber instruierte, wo genau er sie gleich nach ihrer Ankunft durchwalken soll.
Ist die Mail der Telefonvermeidungsapparat, stellt sich die Frage, ob sie nicht auch das Briefbeseitigungsverfahren ist. Wäre es, klagen manche, nicht schöner, einen handgeschriebenen Brief statt einer hastig getippten Mail zu erhalten? Die Rasanz der Übermittlung kann dabei nicht von vornherein für die Mail entscheiden. Man schaue sich den Mail-Eingang der letzten Woche durch und wird feststellen, dass, gäbe es keine elektronische Kommunikation, weit über die Hälfte der Nachrichten durchaus ein paar Tage Zeit gehabt hätten. Karte oder Brief hätten genügt.
Im Vergleich mit der snail mail spricht für die E-Mail neben den gesparten Portokosten vor ­allem, dass diese weitaus rascher geschrieben und versandt ist als jene. Hier folgt dann gewöhnlich das Argument der Verteidiger des Traditionellen, es sei aber besser, einen schönen Brief als fünf miese Mails zu schreiben. Selbst der gewöhnliche Briefsteller achte auf intakte Sätze und runde Formulierungen, während die E-Mail-Botschaft in aller Regel wie der Boden nach der Schlacht bei Waterloo aussehe, Wortstümpfe und Satzleichen, über die es Ausrufungszeichen geregnet hat. Und wo das Gestammel nicht einmal ein Wort finde, werde ein »Emoticon« (von »emotion« und »icon«) gesetzt, das bekannte Smiley :–), das zwinkernde Smiley ;-) oder, für die schlechte Laune, das Frownie :–( und derlei Kindereien mehr.

Unverkennbar ist die Mail-Sprache informell, und es hat mich schon oft amüsiert, dass dieselben Anzugtypen, die einem im wirklichen Leben förmlich die Hand schütteln, im Cyberspace mit »Hallo« und Holterdipolter daherschnoddern. Mailing ist ein demokratisches Medium, es gibt keine Mails auf Bütten, keine Header mit Prägedruck und keine parfümierten Attachments. Hier zeigt sich selbst der Vorstandsvorsitzende im Trainingsanzug.
Aber so wenig man (wie es George Steiner gerade getan hat) einen Brief mit einem Gedicht vergleichen sollte, so wenig ist eine Mail ein Brief. Anders als ihr Name sagt, will die Mail nicht den Brief, sondern den Telefonanruf ersetzen. Das zeigt eine genauere Analyse ihrer Sprache. Bereits die üblichen Anrede- und Gruß-Formeln werden oft vernachlässigt, hemdsärmlig ist der Duktus, Zeichen werden unorthodox gesetzt, die Syntax flattert, unvollständige Sätze, Satzabbrüche kommen häufig vor, Anpassungen der Wörter ans Umgangssprachliche (»grad« statt »gerade«, »n« statt »einen« usw.) finden sich ebenso wie Slang und Comicsprache (»freu«). Die Häufigkeit von grammatischen Fehlern ist signifikant höher als bei Briefen und vergleichbar mit der in der mündlichen Unterhaltung (wo sie selten auffallen). Hinzu kommt eine starke Emotionalisierung der Sprache, etwa durch Hervorhebungen und Sonderzeichen (der akademische Scherzbold spricht von »emulierter Prosodie«). Mails sind aggressiver, wilder, direkter, zerrissener als Briefe. Nirgendwo reicht Schrift näher ans Mündliche als bei ihnen.
Die Mündlichkeit der Mail erklärt ihren Wildwuchs, entschuldigt aber noch nicht ihre häufige Unhöflichkeit und Gedankenlosigkeit. Auch die Mail ist Abbild einer Gesellschaft von Gehetzten, die noch beim Mittagstisch rasch etwas in ihren Blackberry tippen, als gälte es, Geschwindigkeitsrekorde zu brechen, aber selbst ihren besten Freunden keinen durchdachten Satz widmen. An der Technik liegt das aber nicht, denn sie erlaubt ja gerade eine zeitliche und räumliche Entkoppelung von Rede und Antwort. Es sollte also möglich sein, auch in der Mail einen Text zu schrei­ben, der alle Merkmale des guten Stils – Genauigkeit, Kürze und Klarheit – besitzt.
Erstaunlicherweise lässt sich die Mail aber nur schwer der traditionellen Briefform anpassen. Das liegt daran, dass ihr dialogisches Moment viel stärker ausgeprägt ist, selbst dann noch, wenn keine rasche Reaktion verlangt ist. Die Schreiber von Mails neigen zum direkten oder indirekten Zitieren (»quoting«). Sie haken alle Punkte des anderen ab, nicht selten, indem sie sie wörtlich wiederholen. Wenn dagegen ein Brief, oft Tage und Wochen nach Erhalt, beantwortet wird, tendiert der Antwortende zu einer größeren Dichte und Kohärenz. Er antwortet nicht en détail, sondern im Großen und Ganzen und bemüht sich auch um das Große und Ganze. Er produziert, was in Mails selten ist, einen Text, aber deshalb noch lange nicht Literatur.
Im Gegenteil, je besser ein Brief ist, umso geringeren literarischen Wert besitzt er. Denn ein guter Brief ist auf den Adressaten maßgeschneidert und passt keinem Dritten, der ja auch gar nichts anfangen kann mit der »Erinnerung an jenen Sommernachmittag, als wir uns zufällig in der Princes-Street trafen und sogleich die Caledonian Bar aufsuchten«. Zwei notwendige Voraussetzungen von Literatur, Allgemeingültigkeit und Abstraktheit, besitzen Briefe gerade nicht. Selbst große Dichter schreiben langweilige Briefe – langweilig für den Dritten, den sie ohnehin nichts angehen.

Also verbindet Briefe mit Mails das, was sie von Gedichten unterscheidet, ihre extreme Gerichtetheit. Auch Briefe sind emotional, aber sie orientieren sich weniger stark an Umgangssprache und Dialog. Sie können beglücken, aber wahrhaft schön kann Sprache nur dann werden, wenn sie ihre Natur verleugnet, Mittel des Austauschs zu sein. Im Übrigen habe ich in meinem Leben mehr unerfreuliche Briefe als erfreuliche Mails erhalten. Die Widrigkeiten des Mailings haben wenig mit dem Medium und viel mit dem Kapitalismus zu tun.
Nur drei Beispiele: Du schickst eine Mail an einen Geschäftspartner, erhältst jedoch keine Antwort, vermutlich, weil er sich inzwischen für einen andern entschieden hat. Oder du triffst auf einer öden Party einen Kleinkünstler, gibst ihm unvorsichtigerweise deine Mailadresse und wirst nun wöchentlich mit seinen Produkten bemustert. Oder dein Internet-Provider gratuliert dir zum Geburtstag, weil er dir eine neue Flatrate verkaufen will.
Ähnliches hat es schon früher gegeben, ist jedoch mit dem Mailing besonders leicht geworden. Kommunikation wird fürs Marketing instrumentalisiert oder abrupt abgebrochen, sobald das Geschäftsinteresse erloschen ist. Eine besonders abstoßende Entwicklung fällt auf: Freischaffende werden zu ihren eigenen Unternehmern und PR-Agenten, sie nutzen persönliche Beziehungen, um berufliche Ziele zu erreichen. Aber das gibt es auch außerhalb der Mailwelt. Es gibt Menschen, die auf Partys systematisch für sie nützliche Kontakte suchen und knüpfen (»social networking«) und an jedem Menschen den Steigbügel suchen. Lange vor der Computer-Epoche kannte ich einen Kulturjournalisten, der eine Kartei mit Adressen von mehreren hundert V.I.P. führte, denen er planmäßig zum Geburtstag gratulierte; ein Verfahren, das sich erkennbar auszahlte.
Wer sich darüber empört, sollte bedenken, dass Kommunikation nur deshalb instrumentalisiert werden kann, weil sie, beginnend mit dem ersten Schrei des Säuglings, ohnehin zweckhaft ist. Man unterhält sich äußerst selten allein deshalb, um sich gegenseitig zu vergnügen, und lediglich die Alten, Armen und Hässlichen dürfen sich begründete Hoffnung darauf machen, dass der Wildfremde, der sie anspricht, nur mit ihnen plaudern will. Daran, dass der Kapitalismus auch die Privatsphäre kommerzialisiert, trägt die Technologie des Mailings keine Schuld, im Gegenteil, sie hilft dabei, die Verkäufer auf Abstand zu halten.