Über den 1. Mai von Berlin bis zum Nordpol

Ein Kampftag mit Krabbencocktails

Was war am 1. Mai in Berlin, Hamburg oder Büsum los? Und was am Nordpol? Unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten waren vor Ort.

Die Bude anzünden
Sind das noch Unruhen? Oder ist das schon der blanke Terror? Was die Kapelle auf der Bühne treibt, kann man in all seinem Grauen mit dem Begriff »Stimmungsmusik« nur annähernd beschreiben. Andererseits passt die Karnevalslaune zum Eintreffen des kleinen »klassenkämpferischen Blocks« am Ziel der DGB-Demonstration vor dem Brandenburger Tor: Den Block überragen Bilder von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao, auf kleinen Schildern wird zum »Klassenkampf« aufgerufen.
Auf der Bühne hält dann ein Mitarbeiter eines Berliner Fleischwerks, dessen Produktion nach Sachsen-Anhalt verlegt werden soll, eine Rede: »Wir fordern: Qualitätsware aus Berlin für die Berliner!« Ein Vertreter der IG Bau fühlt sich anscheinend von den Aussagen des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer über die »sozialen Unruhen« inspiriert und redet sich in Rage: »Faire Löhne auch für Azubis! Dafür gehen wir bis zum Letzten. Wir zünden denen die Bude an, wenn es sein muss!« Wessen vier Wände in Brand gesteckt werden sollen, führt er nicht aus. Wer dem Hauptredner Dieter Scholz, dem Vorsitzenden des DGB-Bezirks Berlin-Brandenburg, zuhört, erfährt aber zumindest, dass man beim DGB keine »Finanzjongleure« mag. Diese habe es in den guten, alten Zeiten unter Willy Brandt nicht gegeben. Es sei Zeit zu handeln: »Das Finanzsystem ist asozial und muss beendet und gebrochen werden!« Statt »Spekulation« und »Shareholder Value« solle die »sinnvolle Arbeit« in der Wirtschaft wieder etwas gelten.
Nach Scholz dürfen zwei Frauen über die Lage von illegalisierten Arbeiterinnen und Arbeitern in Deutschland sprechen. Der Platz vor der Bühne leert sich schnell. Statt mit der Situation von Migranten beschäftigen sich die Gewerkschafter lieber mit anderen Dingen: Auf dem »1. Mai Kinder- und Familienfest« des DGB, das ebenfalls vor dem Brandenburger Tor stattfindet, wird bereits Bier ausgeschenkt, die Bratwürste sind auch schon heiß.
Markus Ströhlein

Sick of it all
Das Sauf- und Volksfest, das von Menschen, die glauben, abgeschmackte Wortspiele dieser Art seien »lustig«, mit dem hochgradig albernen Namen »Myfest« bedacht wurde und das alljährlich in Kreuzberg veranstaltet wird, hat auch dieses Mal wieder bewiesen, dass in Berlin am so genannten Kampftag der Arbeiterklasse vor allen Dingen mit einer Sache gekämpft wird: mit dem Alkohol. Bereits um die Mittagszeit wälzen sich angetrunkene, rotgesichtige und Unsinn redende Menschenmassen durch die Oranienstraße, die ihre zwei Ziele, die sie sich für den Tag vorgenommen haben, klar vor Augen zu haben scheinen: noch mehr zu saufen und noch lauter zu sein.
Wer gerade nicht säuft, herumgrölt oder von der Menschenmenge herumgeschubst wird, vergeht sich auf der Bühne: Männer, die im szeneüblichen, martialischen Look (Glatze, eingefrorene Bulldoggenmiene, böser Blick, trainierte Oberarme) ihre Instrumente traktieren und das trostlose, immergleiche Sick-of-it-all-Hardcore-Gekeife und -Geboller von sich geben. Das vorherrschende politische Bewusstsein lässt sich wohl am besten an folgendem Beispiel illustrieren: Ein Mensch in Szene-Outfit blickt verzückt auf ein Reklameplakat der Bild-Zeitung, auf dem Johannes B. Kerner abgebildet ist, der sagt: »Also mir wäre ein bisschen mehr Bildung und ein bisschen weniger Meinung lieber!« »Ja, der Kerner, der ist ein echt kritischer Kopf«, sagt dieser unfassbar dumme Mensch doch tatsächlich zu seinem neben ihm stehenden Kumpel, während er ehrfurchtsvoll vor dem Plakat steht.
Doch auch ein paar Straßen weiter findet man keine Ruhe: Denn am schlimmsten von allen sind die sich am 1. Mai auf der Admiralsbrücke versammelnden Trommeldeppen, zumeist erwachsene Menschen, die es aus Ermangelung einer vernünftigen Beschäftigung als ihre Mission betrachten, auf sich aufmerksam zu machen, indem sie sich gemeinsam mit Gleichgesinnten in Gruppen zusammenfinden, über Stunden hinweg in der Öffentlichkeit fanatisch auf Trommeln einschlagen und mit dem dergestalt produzierten Lärm offenbar zeigen wollen: Ich bin hier, mich gibt es auch noch, ich fühle mich einsam und unausgefüllt, beachtet mich!
Nachdem man länger als 30 Sekunden wehrlos diesem Schauspiel beigewohnt hat, möchte man am liebsten die Polizei holen, um diese Leute fortschaffen zu lassen, egal wohin, nur möglichst weit weg von hier, damit Ruhe einkehrt. Doch dann besinnt man sich: Die Polizei hat heute ja anderes zu tun, muss sich am anderen Ende Kreuz­bergs um Pubertierende kümmern, die glauben, eine Revolution sei ausgerechnet in Deutschland eine wünschenswerte Sache. Eine Menge aus Gaffern umringt die Trommelgruppe und sieht ihr apathisch bei ihrem stumpfsinnigen Tun zu. Einige Frauen vom Typ »grün wählende, evangelische Religionslehrerin« bewegen sich unbeholfen zum gleichförmigen Bummbumm. Vermutlich halten sie das Deppengetrommel für das Aufregendste, was ihnen seit Monaten in ihrem Leben widerfahren ist. Manchmal wünscht man sich, in einer ganz normalen Stadt zu leben.
Thomas Blum

Krieg oder so
»Das ist für die Arbeiter!« Der Rapper Sinan weiß, worum es geht. Er und einige andere Redner machen den Auftakt für die »Revolutionäre 1. Mai-Demonstration« um 18 Uhr in Kreuzberg. Bevor sich die Demonstration in Gang setzt, müssen die Teilnehmer allerdings noch einige unerträglich lange Redebeiträge über sich ergehen lassen. Diese Geduldsprobe überstehen nicht alle, mit manchen geht das Temperament durch: Schon in der Reichenberger Straße, also am Ausgangspunkt der Demonstration, werden die ersten Polizisten mit Flaschen und Steinen begrüßt. Die Route soll eigentlich durch den Stadtteil Neukölln führen, muss wegen der Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten aber verkürzt werden. Der neue Weg führt durch die Wiener Straße, worauf die Polizei wohl nicht wirklich vorbereitet ist: Mitten auf der Straße stehen zwei Polizeiwagen, die in kürzester Zeit zunächst mit Aufklebern und einem Graffito verziert, dann mit Steinwürfen bearbeitet werden. Den Beamten gelingt nur mit Mühe die Flucht. Eine kleine Gruppe von Polizisten wird eingekesselt und muss sich in eine Feuerwache zurückziehen. Dass etwa zehn Polizisten vor einigen tausend Linken fliehen müssen, sorgt bei etlichen selbsternannten Revolutionären für allergrößte Erbauung. Kaum ist die Demonstration am Kottbusser Tor angekommen, rennen Polizisten in die Menge, Demonstran­ten antworten mit Flaschenwürfen und einem Steinhagel. Das Spiel wiederholt sich immer wieder, denn den Steinewerfern gelingt es meist, in der Menge Schaulustiger zu verschwinden und sich so vor einer Festnahme zu schützen. Ein junger Mann neben mir behauptet: »Ey, der Kotti sieht aus wie nach einem Krieg oder so.« Wohl eher »oder so«: Einige Ampeln und Schilder sind beschädigt worden, ein kleines Feuer brennt, in einer Seitenstraße stehen die Krankenwagen für die Verletzten. Weder ein Krieg noch eine Revolution dürfte so aussehen. Aber zumindest haben CDU und SPD ein Thema, über das sie streiten können. Und auch die Bild-Zeitung bekommt ihre Schlagzeile.
Lisa Thiele

Krabben- statt Molotowcocktails
2 000 Fuß über dem Nordpol ertönt die »Internationale«. Das kommt davon, wenn man zwei Linke bzw. Ex-Linke – je nach dem, wen von beiden man fragt – am 1. Mai mit der Bourgeoisie in die Arktis fliegen lässt. Die beiden – nennen wir sie der Einfachheit halber Genossen – stoßen mit einem Piccolo Champagner auf den nördlichsten Punkt der Erde an, fröhlich vereint mit Dieter, dem Notar, Karl-Heinz, dem Industriellen, und Elke, der Reisekauffrau.
Dann versuchen die beiden erneut – über den Lehnen der Glücklichen hängend, die am Fenster sitzen –, ein paar Blicke auf das arktische Eis zu erhaschen. »Schon wieder etwas Gewaltiges!« verkündet Karl-Heinz. Was man sieht, ist vor allem das Weiß. Weiß mit Rissen, Tendenz schrumpfend, in 60 Jahren weg. Das sagt zumindest der Klimaforscher aus Rom, das ökologische Gewissen des »Deutschen Polarflugs«. Über die Monitore in der Kabine berichtet er aus dem Cockpit live vom Klimawandel.
Für Unterhaltung ist gesorgt, während der zwölf Stunden dauernde Rundflug AB 1 111 über die Arbeiter und Fischer von Trondheim, Tromsö, Barentsburg und Reykjavik hinwegdonnert. Unter großem Aufwand wird eine Live-Schaltung zur Polarstation unten in der Eiswüste hergestellt. Der erste Versuch bricht in einer Art Gewehrfeuer ab. Beim zweiten ist etwas zu hören, das klingt wie die norwegische Variante des deutschen Fernsehmoderators Jürgen Domian. Der dritte klappt. So erfahren die etwa 300 »Exkursionsteilnehmer«, dass es unten recht kalt ist, sonst aber ganz in Ordnung. Und dass man als Polarforscher ab und zu mal einen Wetterballon steigen lässt, um Spaß zu haben.
Beim angedeuteten Landeanflug auf Spitzbergen – wir Fachleute nennen das »Flightseeing« – erhält die Kaffeefahrt für Menschen, die schon alles gesehen haben, anarchische Züge. Die revolutionären Massen auf den billigen 666-Euro-Plätzen in der Mitte lösen ihre Sicherheitsgurte und drängen an die Fenster. Es entwickelt sich ein fröhliches Hin und Her, je nach dem, wo gerade ein Eisbär oder ein Eisberg zu sehen ist. Zu Krabbencocktail und Hirschbraten fließt Alkohol in Strömen, bis selbst der Mann auf dem Fensterplatz für 1 799 Euro, der auf Grönland »Felsformationen wie im Rheinland« entdeckt, sympathisch wirkt und unsere Genossen in ein irres Kichern ausbrechen, sobald jemand »Tromsö« sagt. Zumindest was den Alkoholkonsum angeht, unterscheidet sich dieser 1. Mai kaum von den vorangegangenen.
Johanna Doe

Mobil bleiben
Es hat sich schon in den vergangenen Jahren gezeigt: Wer sich am Tag der Arbeit politisch betätigen will, muss flexibel und mobil sein. Hamburg-St. Pauli, 30. April, 17 Uhr: Die auf den Vor­abend verlegte, revolutionäre 1. Mai-Demonstration beginnt. Etwa 800 Menschen demonstrieren friedlich, wie der Polizeibericht meldet. Die Forderungen sind angesichts der Wirtschaftskrise absehbar und berechtigt, bleiben aber folgenlos.
In den Abendstunden wird auf zahlreichen Gruppentreffen dann über das Verbot des Naziaufmarschs in Hannover diskutiert. Es herrscht allgemeine Ratlosigkeit darüber, wie man die Ersatzveranstaltungen der Nazis wirkungsvoll verhindern könnte. Niemand legt gesteigerten Wert darauf, kreuz und quer durch Norddeutschland zu reisen. Hamburger Schanzenviertel, um 23 Uhr: Menschen treffen sich an der Roten Flora. Niemand hat wirklich Lust auf Katz-und-Maus-Spielchen mit der Polizei. Ab 24 Uhr: Etwa 300 Linke und 800 Polizisten veranstalten dennoch Katz-und-Maus-Spielchen rund um die Rote Flora. Die Polizei zeigt zunächst wenig Einsatz und gebietet dem Treiben erst nach einigem Zögern Einhalt.
In den frühen Morgenstunden des 1. Mai: Hunderte Antifaschisten reisen kreuz und quer durch Norddeutschland, um Ersatzveranstaltungen der Nazis zu verhindern. Fußgängerzonen und Bahnhöfe u.a. in Kiel, Neumünster, Verden, Plön und Buchholz werden abgeklappert. Ein Nazitrupp marschiert in Itzehoe auf, unbehelligt von Antifas, die wegen des regen Ausflugsverkehrs auf Autobahnen, in Eisdielen und Imbissbuden festsitzen.
Wer es rechtzeitig schafft, schließt sich mittags dem Hamburger Euro-Mayday an. Dort werden von den 1 500 Demonstranten angesichts der Wirtschaftskrise absehbare, berechtigte, aber folgenlose Forderungen erhoben. Hamburger Schanzenviertel, gegen 21 Uhr: Zahlreiche Menschen treffen sich an der Roten Flora. Viele haben nun Lust auf Katz-und-Maus-Spielchen mit der Polizei. Es folgen Auseinandersetzungen, die sich bis in den frühen Morgen des 2. Mai ziehen.
Andreas Blechschmidt

Der Graue Block
Mit dem Kinderwagen ist fast kein Durchkommen. Nicht etwa am Strand, sondern in der Fußgängerzone scheint ganz Büsum unterwegs zu sein. Hier flaniert der Graue Block. In allen Geschäften wird gearbeitet, es herrscht die Seebäderregelung: »Wir haben 365 Tage im Jahr für Sie geöffnet.« Der einzige nicht kommerzielle Ort an der Fußgängerzone ist der kleine Park vor dem Rathaus. Dort stehen Bänke und ein Denkmal. Ein fallender Soldat greift sich ans Herz – tödlich verwundet bricht der deutsche Landser zusammen. So wird der gefallenen Soldaten aus den beiden Weltkriegen gedacht.
Die vielen Rentnerinnen und Rentner, die hier einen Urlaub verbringen, schauen ernst in die Auslagen und auf die Preisschilder. Das Kur­orches­ter spielt auf. Es könnte ein beliebiger Werktag sein, vom »Internationalen Kampftag der Arbeiter­klasse« ist nichts zu merken. Obwohl, die Suche nach Preisvorteilen wirkt verbissen, organisiert wie ein Kampf. Hier sind viele unterwegs, die über karge Renten verfügen, in den Geschäften überwiegen die billigsten Angebote. Um Punkt 18 Uhr werden die Aushänge vor den Restaurants studiert: Wo ist das Schollenfilet oder das Schnitzel am günstigsten?
Was aussieht wie eine brummende Inlands­öko­nomie, geht mit prekären Arbeitsverhältnissen einher. Vor der Saison hingen in vielen Geschäften Schilder: »Verkäuferin auf 400-Euro-Basis gesucht«. Auch Reinigungskräfte waren gefragt, gern ebenfalls auf der Basis von Minijobs. Die neue Attraktion Büsums, die »Sturmflutenwelt Blanker Hans«, sucht im Büsumer Echo Köche, Gästebetreuer und Servicekräfte, befristet bis zum Ende der Saison am 31. Oktober. Erwartet werden von den Bewerberinnen und Bewerbern auch »andere zumutbare hauswirtschaftliche Arbeiten«. Von der Höhe des Lohns ist nicht die Rede – Haupt­sache Arbeit.
Büsum liegt in Dithmarschen, einer so genannten strukturschwachen Region mit einer überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 10,2 Prozent trotz Saison. Nicht nur viele Touristen haben wenig Geld, auch viele Einwohner. Der Sozialverband Deutschland verzeichnete soeben einen neuen Mitgliederrekord für Büsum. Bekannt ist der Verband für seine sozialrechtliche Beratung, und die brauchen hier viele. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, am 1. Mai zu demonstrieren.
Bei der Maikundgebung in der Kreisstadt Heide war die Zahl der Teilnehmer mit 300 rückläufig – obwohl gegen die drohende Schließung der Erdölraffinerie in Dithmarschen protestiert wurde, wo es um knapp doppelt so viele tarifgebundene Arbeitsplätze geht. Die konservative Dithmarscher Landeszeitung bezeichnete die Maikundgebung denn auch vor allem als »friedlich«. Zwar gab es viele Polizeieinsätze, allerdings in der Nacht zum 1. Mai – da wurden in Dithmarschen die großen Maifeuer angezündet, und es floss viel Alkohol.
Gaston Kirsche

Auch wenn’s weh tut
Das Ding ist, Breite vor Höhe, 8,5 mal 5,3 cm groß, aus Plastik, es wird ausgestellt von den Journalisten- und Zeitungsverlegerverbänden und trägt Foto und Namen des Inhabers oder der Inhaberin, dazu ein kleines, hübsches, wenn auch unechtes Hologramm. Das lindgrün eingefärbte Kärtchen verpflichtet die Behörden, »den Vertretern der Presse die der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe dienenden Auskünfte zu erteilen«. Mehr nicht. Ich habe bisher selten solche Auskünfte eingeholt und schon gar keinen Gebrauch von den sagenhaften Journalistenrabatten gemacht, die das Ding seinem Inhaber dar­über hinaus bescheren soll. Immerhin hat es mir hin und wieder erlaubt, an Kreuzberger Feiertagen polizeiliche Kontrollen ungehindert zu passieren. Bei den schwarzen Wächtern der Revolution auf der anderen Seite gilt es ohnehin nur als eine Variante des Polizeiausweises.
Freitag, 1. Mai, 23.30 Uhr. In Kreuzberg pflügt ein Trupp vermummter Beamter die Adalbertstraße. In Dreierreihen, die Arme ausgewinkelt, rempeln sie die Gaffer mutwillig an, die dicht gedrängt auf der Straße stehen. Auch ich erhalte einen heftigen Stoß. Und als wäre ich das erste Mal bei einem Krawall dabei, laufe ich den Polizisten hinterher, hebe beleidigt mein Kärtchen hoch und setze zu einer Beschwerde an. Genauso gut hätte ich eine Pappe mit der Aufschrift »Wer das liest, ist doof« zeigen können. Ich spüre etwas Kaltes in meinen Augen. Völlig erstaunt falle ich rücklings auf das Pflaster. Dann ist es dunkel. Ich komme erst wieder zu mir, als ich Stimmen über mir höre: »Sie müssen die Augen aufmachen, auch wenn’s weh tut. Auflassen!« Jemand zieht mir die Lider auseinander und kippt Wasser in die Augen. Ein anderer tastet meinen Kopf ab: »Tut irgendwas weh? Nur eine kleine Unterhautverletzung, das verheilt schnell.« Eine halbe Stunde später, ich kann inzwischen wieder blinzeln, wiederhole ich immer noch ziemlich benommen meine Dummheit und frage an einer Straßensperre einen Beamten nach der Einsatzleitung. Schließlich erfülle ich eine öffentliche Aufgabe. Keine Ahnung, ist die Antwort. Und als wollte er seinem Witz noch ein Echo verschaffen, dreht sich der Mann zu seinen Kollegen um: Weiß jemand, wo die Einsatzleitung ist? Alle lachen. Auch ich finde das lustig. Gemeinschaft ist etwas Schönes. Und Lachen verbindet. Wie schon die Kollegen, die Stunden zuvor einen Gefangenen wegschleppten und auf dessen Klage »Mein Name ist Sebastian Müller von der SAJ in Karow!« mit dem gleichstimmigen Chor »Mein Name ist Sebastian Müller von der SAJ in Karow!« antworteten, um sich dann mit brüllendem Gelächter selber zu applaudieren.
Aber ich will nicht klagen, schließlich verspricht das Plastikkärtchen ja nicht, dass man seinem Inhaber keine in die Fresse hauen darf. Und schließlich hat jeder Beruf seine Gefahren. Ich könnte mir ja eine andere öffentliche Aufgabe suchen. Einen Besuch bei Herrn und Frau Wadepuhl beispielsweise, im Nähmaschinen-Museum in Zehdenick. Da bin ich mit meinem Presseausweis willkommen.
Benjamin Rosenheim