Extreme Radikale
»Abweichung von der gesellschaftlichen Norm«
Jegliche »Abweichung von der gesellschaftlichen Norm« und alle »politische(n) Einstellungen, die fundamentale Veränderungen in der Gesellschaftsordnung anstreben und dabei die Grenzen des demokratischen Rechtsstaates ausschöpfen, in Frage stellen oder überschreiten«, sind »extremistisch«, heißt es bei Wikipedia. Nach dieser Definition sind oder können zumindest alle Falschfahrer, Nichtwähler, Wehrdienstverweigerer und so weiter als Extremisten bezeichnet werden – einfach grotesk. Haben wir es hier wieder einmal mit einem der vielen schwachsinnigen Wikipedia-Artikel zu tun, über die wir uns immer so ärgern? Keineswegs! Eine ähnliche und weitaus problematischere Extremismusdefinition befindet sich in einem »Politiklexikon«, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird. Hier heißt es: »Im politischen Sinne bedeutet Extremismus die prinzipielle, unversöhnliche Gegnerschaft gegenüber Ordnungen, Regeln und Normen des demokratischen Verfassungsstaates sowie die fundamentale Ablehnung der mit ihm verbundenen gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten. Extremistische Einstellungen basieren i.d.R. auf grundsätzlicher Ablehnung gesellschaftlicher Vielfalt, Toleranz und Offenheit und stellen häufig den Versuch dar, die aktuellen politischen, ökonomischen und sozialen Probleme auf eine einzige Ursache zurückzuführen.«
Dieser Bestimmung zufolge ist oder kann zumindest jeder als Extremist bezeichnet und beschimpft werden. Denn wer ist nicht schon einmal nicht zur Wahl gegangen, obwohl er damit eine wirklich wichtige »Regel« des »demokratischen Verfassungsstaates« verletzt hat? Wer hat nicht schon einmal über die Arbeitslosigkeit geklagt und damit eine »gesellschaftliche und ökonomische Gegebenheit« nicht stillschweigend akzeptiert, sondern kritisiert? Und wer hat nicht schon einmal die »Ursache« der Arbeitslosigkeit und anderer »ökonomischer und sozialer Probleme« der Gegenwart in dem bei uns herrschenden Wirtschaftssystem der so genannten sozialen Marktwirtschaft sehen wollen?
Wie konnte es zu einem solchen gemeingefährlichen Unsinn kommen? Wie unschwer zu erkennen ist und wie auch im Wikipedia-Artikel erkannt wird, stammt der Extremismusbegriff »aus dem Umfeld der Totalitarismustheorien«. Diese aber waren durch die Wissenschaft widerlegt und wegen der veränderten politischen Lage zudem wenig opportun geworden. Daher wurde nach einem Ersatzbegriff gesucht, der zunächst im »Radikalismus« gefunden schien. Da das aus dem lateinischen Wort für Wurzel, radix, abgeleitete Wort »radikal« aber eigentlich nur bedeutet, bestimmten Dingen auf den Grund bzw. eben an die Wurzel zu gehen, was natürlich nicht verwerflich und politisch völlig ungefährlich ist, ging die Suche nach einem weiteren Ersatzbegriff weiter, bis schließlich der »Extremismus« entdeckt wurde.
Die treibende Kraft war jeweils der bundesrepublikanische Verfassungsschutz, der bis 1973 »Radikale« beobachtete, danach jedoch von »Extremisten« (in den jährlichen Berichten des Verfassungsschutzes) sprach. Der Begriffswandel wurde weder begründet noch durch die Legislative vorgeschrieben. Diese hatte fortwährend von »Radikalen« gesprochen. Auch der »Radikalenerlass« des Bundes und der Länder wurde nicht in »Extremistenerlass« umbenannt. Der Extremismusbegriff ist allein vom Verfassungsschutz und einigen seiner offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter in die Debatte eingeführt worden. Zusammen mit einigen anderen Politologen begründeten sie eine neue Sparte der Politikwissenschaft – die Extremismusforschung. Ihre Hauptvertreter waren und sind wiederum die bekannten Politologen Uwe Backes und Eckhard Jesse.
Alles in allem ist dies ein sehr denkwürdiger Vorgang, der ein Zwielicht auf das Rechts- und Verfassungsverständnis der Bundesrepublik wirft, in der Forschung und Lehre eigentlich frei sein sollen. Hiermit ist kein Angriff auf den Verfassungsschutz verbunden, wenn sich allerdings ein Organ der Exekutive derart in die freie Wissenschaft einbringt, dann sind doch einige Grenzen überschritten worden. Umso erstaunlicher, dass diese Vorkommnisse so wenig erkannt und noch weniger kritisiert worden sind.
Außerdem hatte diese Entwicklung schwere politische Folgen, die auch unter rechtlichen Aspekten als bedenklich zu betrachten sind. Man denke nur an die vielen Opfer der so genannten Radikalenerlasse, die ihren Beruf verloren oder Stellen gar nicht erst antreten konnten, weil sie als radikal bzw. späterhin als extremistisch eingeschätzt worden sind. Dabei handelte es sich bei »radikal« und »extremistisch« keineswegs um Begriffe des Rechts, tauchen sie doch weder im Grundgesetz noch überhaupt in irgendeinem Gesetz auf, weshalb sie zu keinerlei juristischen Konsequenzen führen und führen dürfen. Nur solche Personen und Organisationen, die als »verfassungsfeindlich« eingeschätzt werden, können vom Verfassungsschutz »beobachtet« werden. Eine als »verfassungsfeindlich« bezeichnete Partei im Sinne des Grundgesetzes, der eine »fundamentale Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates« nachgewiesen wird, kann sodann auf Antrag des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht als »verfassungswidrig« eingestuft und verboten werden.
Doch dies ist nicht alles. Extremismus ist nicht nur kein Rechtsbegriff, er ist ein politischer Begriff für ein real nicht existentes Phänomen, das von einigen Politologen erfunden wurde, die ihre Erfindung überdies völlig unzureichend begründet haben. Dazu noch einige weitere Beispiele, welche die bereits erwähnten – unzureichenden – Definitionen ergänzen.
Der Politikwissenschaftler Hans Günther Merk definierte »Extremismus als eine gegen die Wertvorstellungen einer Gemeinschaft von Menschen gerichtete Verhaltensweise«. Welche »Gemeinschaft« – auch die »Volksgemeinschaft« in der NS-Zeit?, lautet die unumgängliche Frage. Sind die Widerstandskämpfer daher als Extremisten einzuordnen? So weit wollte Merk dann doch nicht gehen, weshalb er seine eigene Definition etwas einschränkte und behauptete, Extremisten seien solche Personen, die sich »gegen die Wertvorstellungen zumindest der gesamten freien Welt« ausgesprochen und / oder sich als »Gegner einer freiheitlich demokratischen Grundordnung (im Sinne des Grundgesetzes)« betätigt hätten. Es ist unfassbar. Hier beanspruchte ein westdeutscher Politologe, was die »Wertvorstellungen« der »freien Welt« sind oder zu sein haben, um dann noch anzufügen, diese sollten sich gefälligst an denen des Grundgesetzes orientieren. Die »Welt«, zumindest die »freie«, sollte hier wieder einmal »am deutschen Wesen genesen«.
Nicht ganz so kühn waren und wollten die Extremismusforscher Uwe Backes und Eckhard Jesse sein. Für sie ist Extremismus eine »Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen«, die »sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen«. Dies gelte, wie Uwe Backes in einem weiteren Aufsatz ergänzte und präzisierte, für alle »Verfassungsstaaten«, womit er eine Deutungshoheit nicht allein für die deutsche Demokratie beanspruchte.
Hier ist zunächst noch einmal daran zu erinnern, dass eine bloße »Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates« nach unserer Verfassung noch nicht einmal »verfassungsfeindlich« oder gar »verfassungswidrig« ist. Gegen seine, wie auch immer diese sich gerieren sollen, »Spielregeln« zu verstoßen, indem ein Bürger sich zum Beispiel nicht an Wahlen beteiligt, ist zwar zu beklagen, aber auf keinen Fall in irgendeiner Weise zu verurteilen.
Zu kritisieren ist ebenso die weitgehende Identifikation von Anarchismus und Kommunismus, zumal beide politische Erscheinungen nicht einmal im Ansatz definiert und voneinander differenziert werden. Daher ist außerdem fraglich, ob tatsächlich alle Kommunisten genau wie die Anarchisten (die tatsächlich allen politischen Organisationen misstrauen) den »demokratischen Verfassungsstaat« ablehnen würden. Gänzlich unbewiesen und letzten Endes auch unverantwortlich ist die Behauptung, Rechtsextremisten und die als linksextremistisch bezeichneten Kommunisten und Anarchisten gingen gemeinsam gegen den »demokratischen Verfassungsstaat« vor. Dies liest sich dann folgendermaßen: »Rechts- und Linksextremisten brauchen mithin einander. Letztlich sind sie also gar nicht daran interessiert, dass die andere Variante des Extremismus, die sie zu bekämpfen vorgeben, gänzlich von der Bildfläche verschwindet. Sie wollen vielmehr das hervorrufen, was sie so heftig attackieren.«
Diese Äußerung enthält drei Behauptungen, die alle fragwürdig und falsch sind. Zunächst sollen linke und rechte Parteien einen extremistischen Charakter haben, weil ihre Vertreter an den äußersten linken und rechten Rändern eines halbrunden Parlamentssaals sitzen. Doch dies war und ist nicht immer und überall so. Im britischen Parlament sitzen sich Linke und Rechte bzw. die Vertreter der Regierungs- und der Oppositionspartei gegenüber. In der ersten französischen Nationalversammlung von 1790 haben dagegen die Linken auf den oberen Sitzreihen des ebenfalls halbrunden Sitzungssaals Platz genommen. Sie bildeten die so genannte Berg-Partei (montagne), und ihre Mitglieder wurden montagnards (wörtlich: Gebirgler) genannt. Die Sitzordnung in den Parlamenten folgt also keiner festen und universal geltenden Regel.
Weiterhin sitzen keineswegs immer die ganz linken oder ganz rechten Parteien auch am linken oder rechten Rand. Im heutigen Bundestag sitzen zum Beispiel die Vertreter der FDP dort, wo eigentlich die der CDU sitzen müssten – ganz rechts. Aus der Tatsache, dass die Abgeordneten der FDP rechts von der CDU Platz nehmen, wird nun niemand schließen wollen, die FDP sei rechter als die CDU oder sei gar als »rechtsextremistisch« einzuschätzen.
Linke und rechte Parteien sind also keineswegs deshalb als links- oder rechtsextremistisch zu bezeichnen, nur weil ihre Vertreter an den linken und rechten Rändern der Parlamente Platz nehmen oder Platz nehmen müssen. Andererseits können auch Parteien, die weiter in der Mitte sitzen, eine extremistische, oder genauer, antidemokratische Zielsetzung haben. In der Weimarer Republik war dies ohne Zweifel der Fall. Denn hier saßen die Vertreter der antidemokratischen DNVP links von denen der NSDAP. Andererseits haben sich keineswegs alle Abgeordneten der SPD, die wiederum rechts von der KPD saßen, zu den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie bekannt. »Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel!«, lautete ihre Losung. Kurz: Wer oder was die demokratische Mitte ist oder sein soll, ist relativ und veränderbar, was den sich selbst zu dieser demokratischen Mitte rechnenden Parteien natürlich sehr zugutekommt.
Die zweite Behauptung von Backes und Jesse ist noch problematischer: ihre durch nichts bewiesene These, »Links-« und »Rechtsextremisten« bekämpften gemeinsam die demokratische Mitte, wobei sie sich in politischer und ideologischer Hinsicht einander annäherten und schließlich anglichen. Zum Beweis dieser fantastischen These wird gern das Schicksal der Weimarer Republik bemüht. Sie sei von links und rechts bzw. von Kommunisten und Nationalsozialisten zerstört worden. Das ist sie keineswegs. Stattdessen wurden ihre demokratischen Bestandteile schrittweise und von oben (unter anderem durch die missbräuchliche Anwendung des Artikels 48) eingeschränkt, bevor die Republik dann durch ein Bündnis von Konservativen und Faschisten gänzlich beseitigt wurde. Von einer nationalsozialistischen »Machtergreifung« kann daher nicht gesprochen werden – von einer »nationalsozialistisch-kommunistischen« am allerwenigsten. Der Führer der KPD, Ernst Thälmann, wurde verhaftet und nicht wie jener der Konservativen, Alfred Hugenberg, Minister.
Die Angleichungsthese entbehrt jeglicher historischen und empirischen Grundlage. Suggeriert wird sie mit dem Fingerzeig auf einen imaginären Halbkreis, dessen linke und rechte Ränder sich annäherten, was Backes und Jesse mit der Verwendung eines weiteren grafischen Symbols zu beweisen trachteten – einem Hufeisen. Einmal in Schwung, formten sie in ihrer Fantasie bzw. auf dem Zeichentisch aus dem Hufeisen einen Kreis und nannten diesen »Extremismus«.
Übertroffen wurde die Zeichenspielerei von dem Bonner Politologen Manfred Funke, der die Existenz des real nicht tragenden Extremismusphänomens durch ein Doppelkreis-Modell zu beweisen trachtete. Dabei sitzen die guten Demokraten in einem inneren Kreis, der von einem äußeren Kreis umgeben ist, in dem sich lauter Extremisten tummelten.
All dies klingt mehr als komisch, und das ist es auch, war jedoch ernst gemeint und wurde als wissenschaftlich, genauer, politikwissenschaftlich ausgegeben. Tatsächlich handelte es sich um bloßen Trug, der an den von den Aufklärern entlarvten »Priestertrug« erinnert, mit dem verschiedene Klerikale den Wahrheitsgehalt von verschiedenen frommen Legenden zu beweisen gesucht haben. Beim Extremismus ist die Sachlage ähnlich. Extremismus ist eine Legende, die mit einem »Politologentrug« bewiesen werden soll.
Hierbei handelt es sich um einen in der Wissenschaftsgeschichte fast einmaligen Vorgang. Es muss weit zurückgreifen, wer etwas Ähnliches finden will. Ein Beispiel wäre da der Hexenwahn der Frühen Neuzeit. Hexen gab es zwar genauso wenig wie Extremisten, dennoch wurde ihre Existenz durch alle möglichen Tricks und Dokumente vorgeblich bewiesen, und zwar ganz »wissenschaftlich«. Keineswegs nur durch fanatische Exorzisten wie den Verfasser des berüchtigten Hexenhammers, Heinrich Kramer, sondern auch durch Gelehrte wie Jean Bodin, der die theoretischen Grundlagen des Absolutismus gelegt hat.
Einige der heutigen Extremismusforscher haben mehr Ähnlichkeiten mit dem Exorzisten Kramer als mit dem Gelehrten Bodin. Hier ist noch einmal Manfred Funke zu erwähnen, der »den Extremisten« zunächst psychologisiert, um ihn dann einem strengen Exorzismus zu unterziehen. Strebe doch der »Extremist« danach, »das soziale Paradigma, in dem er lebt, bis zur Vernichtung hin verächtlich« zu machen. Er, »der Extremist«, sei »insgeheim ein Minderheits-Massenmensch«, der die »Abschaffung der gegebenen Verhältnisse unter prinzipieller Bejahung des Gewalteinsatzes zur Durchsetzung der neuen Wertvorstellungen« befürwortete und anstrebe, bei richtiger politologischer bzw. exorzistischer Behandlung aber noch von seinem verderblichen Weg abzubringen sei, sei er doch noch von »Skrupeln« befangen, »die Umkehr und Kompromiss nicht ausschließen«.
Ich erspare mir hier weitere Beispiele dieser exorzistischen Rituale und kabbalistischen Zeichenspielchen, mit denen Existenz und Austreibung des Extremismus begründet und gefordert werden. Warum nur wurde dieser Missstand bisher nicht durchschaut? Aus welchem Grunde wenden sich auch heute noch linke Antifaschisten gegen Rechtsextremisten, obwohl sie damit doch den Verdacht auf sich ziehen, selbst Linksextremisten zu sein, die sich nur wenig von der anderen faschistischen Variante des Extremismus unterscheiden?
Die Antworten sind offensichtlich. Der Extremismusbegriff ist gerade wegen seiner Vagheit eine vorzügliche Waffe in der Hand der Rechten. Sie müssen nichts weiter als sich der Mitte zugehörig deklarieren, um sich von ihren rechtsextremen Bundes- und Gesinnungsgenossen formal abgrenzen und von den wahren Gefahren ablenken zu können, die von oben und aus eben dieser Mitte der Gesellschaft drohen. Damit können sie zugleich ihre eigenen antidemokratischen Gesinnungen und Taten vertuschen, weil die Gefahren, die der Demokratie drohen, nur von rechts und natürlich sehr viel stärker von links kommen und dem Halbkreis-Modell nach auch kommen können. Im Umkehrschluss muss die angebliche antidemokratische Zielsetzung der Linksextremen gar nicht erst bewiesen werden – es reicht, sie an den äußersten linken Rand zu verweisen.
Andererseits werden die Gefahren, die handfest vom »rechten Rand« drohen, in einer schon unverantwortlichen Weise verkannt. Schließlich war und ist das, was als Rechtsextremismus bezeichnet wird, keineswegs nur antidemokratisch. Gemeint sind der klassische und der neue Faschismus, denn der war und ist außerdem antifeministisch, antikommunistisch, antisemitisch und generell rassistisch – vertrat und vertritt also Ideologien, die auch in der Mitte der Gesellschaft, aber eben weit weniger unter den Linken anzutreffen sind. So dürfte, um nur ein Beispiel zu nennen, die antisemitische Einstellung, die heute in der Bevölkerung auf mindestens 20 Prozent geschätzt wird, keineswegs nur bei den Menschen anzutreffen sein, die aus welchen Gründen auch immer als ganz rechts stehend gesehen werden. Antisemiten gibt es überall, leider auch bei einigen Linken, die diesen ihren Antisemitismus meist als Antizionismus tarnen, weil sie lediglich Vorbehalte gegen die Zionisten oder den Staat Israel hegten.
Dass die Extremismusforscher und sonstigen so staatstreuen Politikwissenschaftler den Faschismusbegriff meiden wie der Teufel das Weihwasser, hat auch mit seiner politischen Gefährlichkeit zu tun. Wer von Faschismus statt von Extremismus spricht, weist zugleich auf seine kapitalistischen Strukturen und Voraussetzungen sowie auf seine Bundesgenossenschaft mit dem Konservativismus hin. Erstere liegen immer noch vor, Letzteres – das historische Bündnis mit den Konservativen – kann sich wiederholen. So gesehen ist der Faschismus- bzw. Antifaschismusbegriff tatsächlich eine politische Waffe, der mit der des Extremismus begegnet werden soll.
Daher sollten Antifaschisten nicht von (Rechts-)Extremismus reden. Dass sie es dennoch tun und in der Öffentlichkeit generell der Faschismus durch den Extremismusbegriff verdrängt worden ist, hat jedoch einen weiteren Grund. Bei der Debatte um Extremismus (und Totalitarismus) geht es keineswegs nur um Wissenschaft, nicht einmal bloß um Politik – hier geht es um etwas ganz Entscheidendes, aber häufig Übersehenes: um die Staatsideologie der alten Bonner Republik, die wieder die Staatsideologie der neuen Berliner Republik geworden ist oder zumindest werden soll.
»Wehrhafte Demokratie«
Anders als die Weimarer Republik wollte die Bundesrepublik eine »wehrhafte Demokratie« sein. Wehrhaft gegen wen oder was? Gegen die konservativen Kräfte aus der Mitte der Gesellschaft, welche die Demokratie von Anfang an bekämpft haben, um sie schließlich im Bündnis mit den Faschisten zu zerschlagen? Weit gefehlt! Gemeint waren die antidemokratischen Kräfte vom rechten und linken Rand des Parteienspektrums, die getrennt und teilweise auch gemeinsam die Demokratie von Weimar zerstört hätten.
Wie zuvor bereits erwähnt, ist diese These falsch. Die Weimarer Republik ist nicht von links und rechts, sondern von oben und aus der Mitte zerstört worden. Schon 1930 war sie keine funktionsfähige Demokratie mehr, weil alle Reichskanzler seit Brüning ohne Zustimmung des Parlaments regierten und sich mehr und mehr auf den Diktaturparagrafen 48 der Weimarer Reichsverfassung stützten. Am 30. Januar 1933 kam es schließlich zu einem Bündnis und einer Koalitionsregierung aus Faschisten und Konservativen und eben nicht aus Faschisten und Kommunisten.
Das Konzept der wehrhaften Demokratie beruht also auf der mehr als fragwürdigen Behauptung, wonach die Weimarer Republik von den rechten und linken »extremistischen« Parteien zerstört worden sei. Aus diesem einseitigen, ja im Grunde falschen historischen Deutungsmuster des Unterganges der Weimarer Republik wurden und werden bis heute sehr einseitige verfassungsrechtliche Schlussfolgerungen gezogen, die sich möglicherweise als ebenso falsch wie für den Bestand der Demokratie als wahrhaft fatal erweisen können.
So sieht sich die »wehrhafte Demokratie« doch vornehmlich, ja fast ausschließlich von »Vereinigungen« und »Parteien« bedroht, die sich laut Artikel 9.2 Grundgesetz »gegen die verfassungsmäßige Ordnung« richten oder die nach Artikel 21.2 GG »ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen«. Eine Gefährdung der Demokratie von oben durch den allmählichen Abbau demokratischer Rechte scheint schon für die Verfassungsväter unvorstellbar gewesen zu sein, obwohl sie genau dies kurz zuvor in der Endphase der Weimarer Republik selbst erlebt hatten.
Stattdessen wollten sie eine »demokratische Verfassung schaffen, in der vor allem der Gedanke der persönlichen Freiheit gegen totalitäre Staatsbestrebungen gesichert werden« müsse. Dies führte dazu, dass der im Artikel 18 Grundgesetz erwähnte verfassungsrechtliche Kernbegriff der »freiheitlich demokratischen Grundordnung« nicht positiv, sondern negativ durch die Abgrenzung von irgendwelchen »extremistischen« oder »totalitären« Bestrebungen definiert wurde.
Deutlich ausgesprochen worden ist dies von dem sehr einflussreichen Staatsrechtler und Verfassungsrichter Gerhard Leibholz. In verschiedenen Publikationen hat er den »Totalitarismus« nationalsozialistischer und kommunistischer Provenienz als »negatives Gegenbild« zur »freiheitlich demokratischen Grundordnung« bezeichnet.
Diese These findet sich gleichermaßen in einigen Kommentaren zum Grundgesetz wieder. In dem von Maunz / Dürig / Herzog verfassten heißt es, dass die im Artikel 18 erwähnte »freiheitlich demokratische Grundordnung« als »Gegenposition« zum »Totalitarismus« zu verstehen sei. Dies verpflichte den Staat dazu, alle auf den Totalitarismus »abzielende Bestrebungen von vornherein zu verhindern«. Mit »Totalitarismus« war keineswegs nur der vergangene Nationalsozialismus, sondern auch, ja sogar zum größeren Teil der höchst lebendige Kommunismus gemeint. Mit bemerkenswerter Offenheit haben die Grundgesetzkommentatoren selbiges an anderer Stelle folgendermaßen formuliert: »Blickt man auf die erlebte Vergangenheit und die erlebte Gegenwart jenseits ›der Mauer‹ und ›des Todesstreifens‹, so wird eigentlich unmittelbar einsichtig, was alles zum Begriff der ›freiheitlich demokratischen Grundordnung‹ i.S. des Grundgesetzes gehört.«
Diese Stellungnahme war deutlich genug. Tatsächlich hatte die Totalitarismusdoktrin, die man mit Fug und Recht als »Weltanschauung des Grundgesetzes« ansehen kann, eine primär antikommunistische Stoßrichtung. Die linker oder gar kommunistischer Neigungen unverdächtige Gesine Schwan hat dies auch ohne Weiteres eingeräumt, wenn sie in ihrem 1999 erschienenen Buch über »Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland« schrieb: »So entstand der deutsche Antikommunismus als prinzipielle Überzeugung von der politischen Legitimität der bundesrepublikanischen politischen Verfassung genetisch aus den Erfahrungen mit dem Stalinismus; inhaltlich bekannte er sich wesentlich zur Freiheit, zur westlich-liberalen Demokratie, bedeutete also die Absage an die totalitäre Zwangsherrschaft der kommunistischen Einparteiendiktatur (…).«
Mit dem Hinweis auf die noch dazu arg verkürzte Extremismuslegende und Totalitarismusdoktrin hat die Bundesrepublik ihre strikt antikommunistische Außen- und Innenpolitik begründet. In außenpolitischer Hinsicht wurden alle Verhandlungen mit der »totalitären« Sowjetunion und ihren ebenso »totalitären« Satellitenstaaten abgelehnt. Ob Stalins Wiedervereinigungsangebot vom März 1952 ernst gemeint war oder nicht, ist dabei noch nicht einmal erkundet worden. Immerhin wurden drei Jahre später wieder diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufgenommen. Doch dies geschah mehr als widerwillig und ausschließlich mit der Sowjetunion. Beziehungen mit den übrigen Ostblockstaaten hatte und wollte man nicht unterhalten. Die Existenz der DDR wurde nicht zur Kenntnis genommen. Sie war und blieb die »so genannte DDR« und wurde bis weit in die sechziger Jahre hinein schlicht »Zone« genannt. Diese, wie wir heute wissen, falsche und verfehlte Außenpolitik erfolgte keineswegs aus rationalem Kalkül, sondern war irrationalen Ängsten und ideologischen, genauer, antitotalitären, und noch genauer, antikommunistischen Motiven geschuldet.
Der antikommunistischen Politik im Innern lag ebenfalls eine sehr einseitige Auslegung und Anwendung der Extremismuslegende und Totalitarismusdoktrin zugrunde. Ein gutes oder vielmehr schlechtes Beispiel hierfür ist das Verbot der KPD von 1956, das heute leicht in Vergessenheit geraten ist, deshalb aber – es könnte sich schließlich wiederholen – hier noch einmal in seiner Entstehung dargestellt werden soll.
Am 22. November 1952 hatte die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf Artikel 21.2 GG den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD eingereicht. Begründet wurde dies auf der einen Seite mit der Behauptung, die KPD würde wegen und aufgrund ihrer marxistisch-leninistischen Ideologie die Existenz der Bundesrepublik gefährden. Auf der anderen Seite kam die rein politisch geprägte Befürchtung hinzu, die KPD wolle die Wiedervereinigung Deutschlands und die »Einführung eines ganz Deutschland umfassenden, der sowjetischen Besatzungszone entsprechenden Herrschaftssystems vorbereiten«.
Das Bundesverfassungsgericht folgte am 17. August 1956 dem Antrag der Bundesregierung in allen Punkten, erklärte die KPD für verfassungswidrig, verfügte ihre Auflösung, ordnete die Einziehung ihres Vermögens an und untersagte im gleichen Atemzug alle möglichen alten und neuen Ersatzorganisationen. Begründet wurde diese Entscheidung in vier Abschnitten. Im ersten konstatierten die Verfassungsrichter, die KPD strebe grundsätzlich »die Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Revolution und die Diktatur des Proletariats« an. Ob die KPD ein solches damals tatsächlich noch wollte, war zumindest fraglich. Im zweiten Abschnitt der Urteilsbegründung wurde den Mitgliedern und Anhängern der KPD eine »Untergrabung der inneren natürlichen Autorität (!) und damit (?) der Legitimation der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« unterstellt. Wie die schon damals nahezu bedeutungslose KPD dies anstellen sollte, erwähnten die Richter vorsichtshalber nicht. Stattdessen wiesen sie darauf hin, dass die KPD immerzu die Sowjetunion preise, wo »die Diktatur des Proletariats bereits verwirklicht« sei. Eine sehr spitzfindige, aber logisch kaum haltbare Begründung! Damit nicht genug, wurde der KPD im dritten Absatz der Urteilsbegründung vorgeworfen, mit ihrer Parteinahme für die Politik der UdSSR in einem »grundsätzlichen Gegensatz zur Politik der drei Westmächte und der Bundesrepublik« zu stehen. Letzteres gelte vor allem für die Vorstellungen der KPD von einer »Wiederherstellung der Einheit Deutschlands« oder hinsichtlich ihres Eintretens für eine »ganz bestimmte Gestaltung der Wiedervereinigung«. Ein von dem der Bundesregierung abweichender Kurs in der Deutschlandpolitik wurde also als Indiz für die Verfassungsfeindlichkeit der KPD gedeutet! Im vierten und letzten Abschnitt der Urteilsbegründung kam es noch schlimmer. Hier wurde der KPD eine »Verächtlichmachung der Verfassungsordnung der Bundesrepublik« unterstellt, ja vorgeworfen, der »freiheitlichen demokratischen Ordnung« nicht mit der nötigen »Achtung« begegnet zu sein.
Die erwiesenermaßen primär antikommunistisch ausgerichtete und verstandene Totalitarismusdoktrin hat über die Rechts- und Innenpolitik hinaus auch die Bildungspolitik der Bundesrepublik in einer Dimension geprägt, die sowohl unter rechtlichen wie pädagogischen Gesichtspunkten äußerst zweifelhaft zu beurteilen ist – wurde hier doch die allzeit als Theorie angesehene Totalitarismusdoktrin geradezu verordnet. Dies gilt vor allem für die 1962 von den Kultusministern der Länder erlassenen »Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht«, in denen die Lehrer darauf verpflichtet wurden, sich im Unterricht an der schon damals umstrittenen Totalitarismustheorie zu orientieren, womit sie ihren Schülern letzten Endes die »verwerfliche Zielsetzung« und die »verbrecherischen Methoden« des »kommunistischen und des nationalsozialistischen Totalitarismus« verdeutlichen sollten. Dass es auch hier wieder vornehmlich um die Bekämpfung des Kommunismus gehen sollte, wurde im folgenden Satz klar und unmissverständlich dergestalt ausgedrückt: »Die Tatsache, dass die beiden Systeme einander bekämpft haben, darf nicht über ihre enge Verwandtschaft hinwegtäuschen.«
Dieser verordnete Antitotalitarismus (eigentlich Antikommunismus) wurde jedoch immer mehr infrage gestellt und spielte in Schule und Universität eine immer geringer werdende Rolle. Außerdem protestierten Angehörige der so genannten skeptischen und dann auch der kritischen Generation gegen antikommunistische Maßnahmen im eigenen Land und gegen den im Geist des Antikommunismus geführten Vietnamkrieg der USA. Gleichzeitig kam es im Zuge der sozialliberalen Ostpolitik zu einer »Entspannung«, die wiederum Rückwirkungen auf die Innenpolitik hatte. Gemeint sind die faktische Wiederzulassung der, in DKP umbenannten, KPD und einige bildungspolitische Reformen.
Diese außen- und innenpolitische Entspannung wurde gegen heftigsten Widerstand der konservativen Politiker durchgesetzt. Konservative Politologen und andere Ideologen störten sich vor allem an der Aufgabe des Totalitarismuskonzepts und seine Ersetzung durch das des Faschismus. Der Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher wollte darin einen Verstoß gegen die Staatsideologie der Bundesrepublik sehen. In seinem Buch »Schlüsselwörter in der Geschichte« erklärte er:
»Der Totalitarismus von links und rechts war die grundlegende Erfahrung (der Bundesrepublik), und daraus folgte, dass das Selbstverständnis der zweiten deutschen Republik auf einem offenen Demokratiebegriff beruhte und sich Verfassungsinstitutionen schuf, die gegen totalitäre Tendenzen schützen sollten. (…) Vor diesem Hintergrund musste es von schwerwiegender, das Selbstverständnis der Bundesrepublik treffender Bedeutung sein, wenn der Totalitarismusbegriff in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion durch den Faschismusbegriff ersetzt wurde (…). Die Folgen sind unübersehbar. Denn hier geschah zugleich ein allmählicher Abbau jener Hemmungen und Schutzvorkehrungen der ›wehrhaften Demokratie‹, die Staat und Gesellschaft vor neuen Polarisierungen und extremen Ideologisierungen bewahren und verhindern sollten.«
Bracher hatte so Unrecht nicht. Mit der Kritik des Totalitarismuskonzepts und seiner weitgehenden Ersetzung durch das des Faschismus war die Staatsideologie der (alten) Bundesrepublik infrage gestellt worden. Dies musste und hat sich auch auf das Bild der DDR und der ihr gegenüber betriebenen Politik ausgewirkt.
Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus: Wolfgang Wippermann: Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich. Rotbuch Verlag, Berlin 2009. 160 Seiten, 9,90 Euro. Das Buch erscheint Mitte März.