Russland und die Olympischen Spiele

Wölfisches Zähneklappern

Pläne des Westens, die Olympischen Spiele in China zu boykottieren, stoßen in Russland auf Unverständnis – die Freundschaft zum östlichen Nachbarn ist wieder so intakt wie zuletzt in den Fünfzigern.

Die Kritik an der chinesischen Politik ist vor den olympischen Sommerspielen in Peking bis zur Erdbebenkatastrophe sehr hart gewesen – allerdings kam sie nur aus der so genannten westlichen Welt. Von den nördlichen Nachbarn kamen keine Vorwürfe und Forderungen, nach vielen spannungsreichen Jahren sind Russen und Chinesen heute wieder Brüder für alle Zeiten, so wie in den guten alten fünfziger Jahren. Umfragen zufolge sehen die Russen China derzeit als das Land, das ihnen am nächsten steht, noch deutlich vor Deutschland und dem westlichen Nachbarn Belarus. Vor zwei Jahren sah das noch ganz anders aus. Da nahm China hinter den USA noch einen der Spitzenplätze unter den Russland angeblich feindlich gesinnten Staaten ein.
Aus dieser nachbarschaftlichen Perspektive betrachtet, könnte das olympische Timing nicht besser sein. Die russischen Medien informieren ihre Leser zwar über die im Westen geführten Boykottdebatten, enthalten sich aber im Wesentlichen einer inhaltlichen Wertung. Nur wenige Stimmen melden sich öffentlich mit einer Kritik an den Boykottaufrufen zu Wort, so beispielsweise der Vorsitzende der russischen Föderalen Sportagentur, Wjatscheslaw Fetisow.
Oder auch Sergej Bubka. Der ehemalige sowjetische Leichtathlet, Präsident des ukrainischen und Mitglied des internationalen Olympiakomitees, rief dazu auf, Boykottforderungen zurückzustellen. Es sollten nicht die gleichen Fehler begangen werden wie im Jahr 1984, als die Sowjetunion ihre Teilnahme an den Sommerspielen in Los Angeles verweigerte, als Antwort auf den US-amerikanischen Boykott der Moskauer Spiele 1980. Bubka selbst plante bereits damals, 1984, sein erstes Gold zu gewinnen, musste wegen des Boykotts sein Vorhaben allerdings um vier Jahre verschieben. »Sport vereinigt Menschen und lässt Grenzen verschwinden«, sagte er nun ganz in Sportlermanier. Menschen würden dadurch Freunde finden, sich eine neue Welt eröffnen und verstehen, dass alle Menschen gleich seien. Ob das auch für die Milliarden von Menschen gilt, die den Verlauf der Spiele auf bewährte Weise am Fernsehbildschirm verfolgen werden, sagte er nicht.
Die belarussische Nachrichtenagentur Interfax berichtete über die Attacken auf das olympische Feuer in Westeuropa unter der Überschrift »Marathon als Sonderkampfeinsatz« und hob lobend hervor, dass die kostbare Fackel nur unter dem Schutz der Ordnungshüter im russischen St. Petersburg und in der ehemaligen kasachischen Hauptstadt Almaty keinerlei Angriffen ausgesetzt war. Russen und Kasachen, so Interfax, würden ohnehin nur selten bürgerliches Engagement entwickeln und schon gar nicht wegen irgendwelcher Ereignisse im fernen Tibet oder Darfur auf die Straße gehen.
Wo sich über den ersten Punkt zumindest streiten ließe, stellt der zweite eine erwiesene Tatsache dar. Einer der wenigen Boykottbefürworter auf livejournal.com, dem Bloganbieter mit der größten Anzahl russischsprachiger User, hat für diesen Umstand folgende Erklärung parat: Das Bewusstsein der postsowjetischen Menschen sei nicht in der Lage zu erfassen, weshalb ein Boykott olympischer Spiele aufgrund von Grausamkeiten eines politischen Regimes möglich oder nötig wäre. Vielleicht, so schreibt »moskwich_412«, habe dies auch etwas mit der zu Sowjetzeiten üblichen spezifischen Auffassung von internationaler Solidarität zu tun – die von sowjetischen Schülern speziell für nicaraguanische Kinder gesammelten Hefte hätten beispielsweise die Adressaten nie erreicht und seien stattdessen einfach in russischen Lehrerzimmern gestapelt worden. Und nicht zuletzt bestimme schließlich das Sein das Bewusstsein. Wenn man um sich herum »anstatt menschlicher Solidarität vor allem wölfisches Zähneklappern« vernehme, bleibe das eigene Solidaritätsgefühl eben auf der Strecke.
Es gibt aber noch einen Grund, weshalb zumindest auf offizieller Ebene Zurückhaltung geboten ist. Schließlich könnte Russland im Hinblick auf die Winterspiele 2014 in Sotschi selbst ins Zentrum internationaler Debatten über einen Boykott geraten. Einen Steinwurf von Sotschi entfernt befindet sich die von Georgien abtrünnige Republik Abchasien, welche für den Bau der olympischen Infrastruktur nicht nur als Materiallieferantin dient, sondern auch als Wohnort für zehntausende auswärtige Bauarbeiter vorgesehen ist.
Nach dem Abschuss unbemannter georgischer Aufklärungsflugzeuge im April ließ der russische Generalstab nun seine »Friedenstruppen« aufstocken. Ohne das Einverständnis der georgischen Führung einzuholen, befahl man auch, schweres Geschütz aufzufahren, das nicht zur Standardausrüstung der bislang stationierten Einheiten gehört. Außerdem unterstellten russische Generäle Georgien Mitte Mai die Vorbereitung einer militärischen Invasion in Abchasien und heizten damit die ohnehin schon gereizte Stimmung weiter an.
Nun will Russland sich in Peking selbstverständ­lich als führende Sportnation profilieren und keinesfalls die seltene Gelegenheit verpassen, sich in einem positiven Licht zu präsentieren. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind die US-Amerikaner bei olympischen Sommerspielen erfolgreicher, daran ist vorerst auch kaum etwas zu ändern. Bei den Spielen in Peking gehe es nun darum, erläuterte der Sportberichterstatter Sergej Scherbakow, welche sportliche Supermacht das bessere Gesamtergebnis erziele, Russland oder China. Die russischen Sportler hätten kein leichtes Spiel zu erwarten, da die Chinesen in einer Reihe von Disziplinen zunehmend Erfolge verzeichnen könnten. Da braucht es umso mehr Zuspruch durch die Anwesenheit russischer Fans.
Dreiviertel der Zuschauertickets für die olympischen Wettkämpfe in Peking bleiben den chinesischen Olympiabesuchern vorbehalten, der Rest geht an ausländische Sportbegeisterte. Eine Moskauer Firma vertreibt das russische Kartenkontingent, insgesamt etwa 26 000 Tickets. In entfernteren Regionen sinken damit die Chancen auf Erwerb der begehrten Tickets, da – wie in einem zentralisierten Staatswesen üblich – jede Anfrage erst nach Moskau weitergeleitet wird und die Antwort dann erfahrungsgemäß so lange auf sich warten lässt, bis die gewünschten Eintrittskarten bereits ausverkauft sind.
Dabei übersteigt die Nachfrage gerade im hinter Sibirien gelegenen russischen Fernen Osten das Angebot. Schließlich ist es von dort bis zum chinesischen Nachbarn nicht weit, und in solcher Nähe wird in absehbarer Zeit kein olympisches Spektakel mehr aufgeführt. Aber echter olympischer Sportsgeist hat dort wie überall seinen Preis: Reisebüros verlangen für eine Olympiatour umgerechnet stolze 5 500 Euro.
Russland will vor dem Millionenpublikum in Peking aber nicht nur in sportlicher Hinsicht Punkte sammeln, sondern auch in einer delikateren Angelegenheit, in der bislang noch keine internationalen Erfolge erzielt werden konnten. Experten der russischen Toilettenvereinigung haben nämlich für die Spiele ein völlig neuartiges »Klomobil« konzipiert. Anfang August wird sich ein Wasserklosettkonvoi auf Rädern auf den weiten Weg nach China machen. 12 Tage soll die Fahrt im Automobil dauern, in dessen hinterem Teil sich die Konstruktion befindet. Weder Wasser noch Strom verbraucht die Anlage angeblich, und spezielle Filter sollen für reine Luft sorgen. Mit Spannung erwarten die Experten die Erprobung ihrer Erfindung unter härtesten Bedingungen.