Müll und Proteste in Neapel

Neapel sehen und riechen

Um das Müllproblem in Neapel zu lösen, wendet die Regierung Berlusconi altbekannte Mittel an: zwischenlagern und abwarten. 10 000 Menschen haben am Sonntag dagegen protestiert.

Haut ab! Obwohl die zentrale Parole des Protests im neapolitanischen Dialekt ausgegeben worden war, folgten dem Aufruf zur Demonstration gegen die geplante Mülldeponie in Chiaiano am nördlichen Stadtrand Neapels nicht nur die Bürgerkomitees, Umweltgruppen und centri sociali der Region Kampanien, sondern auch Abordnungen der lokalen Widerstandsgruppen Nord­italiens, insgesamt knapp 10 000 Menschen.

Die unmissverständliche Aufforderung, das Territorium zu räumen, galt vor allem der Regierung, die in ihrer ersten Kabinettssitzung Mitte Mai ein Notstandsgesetz verabschiedete, das zur Beendigung der anhaltenden Müllkrise ein altbekanntes Konzept verfolgt: Bis zur Fertigstellung der notwendigen Verbrennungsanlagen soll der Müll zwischengelagert oder in neu zu erschließende Deponien gebracht werden. Das Gelände von Chiaiano wird derzeit auf seine diesbezügliche Eignung geprüft. In einem an das Stadtviertel angrenzenden Wald sollen zwei Tuffsteingruben als Deponie genutzt und mit etwa 700 000 Tonnen unsortiertem Haus- und Industrieabfall aufgefüllt werden.
Damit dieses seit Jahren von den betroffenen Kommunen erbittert bekämpfte Konzept endlich durchgesetzt werden kann, sollen künftig die Deponien zu Orten von »nationalem Interesse« erklärt und wie militärische Einrichtungen von den Streitkräften bewacht werden. Bei unbefugtem Zutritt drohen Haftstrafen von drei bis zwölf Monaten, bei Protesten, die »die öffentliche Ordnung« stören und die Zufahrt zu den Deponien blockieren, sogar fünf Jahre Haft. Angesichts dieser repressiven Bestimmungen richtete sich die Demonstration nicht zuletzt gegen die Militarisierung des neapolitanischen Umlands und die Unterdrückung jeglichen zivilen Widerstands.
Für Franco Ortolani, Professor für Geologie an der Universität Neapel, deuten bereits die augenscheinlichen geographischen und geologischen Gegebenheiten darauf hin, dass sich der Ort Chiaiano nicht zur Müllentsorgung eignet. Die Zufahrtsstraße zur Deponie würde mitten durch das dichtbesiedelte Stadtviertel verlaufen, die Geruchsbelastung für die Umgebung, in der auch vier städtische Krankenhäuser liegen, wäre unzumutbar. Vor allem aber sind die Tuffsteinwände rissig, der Boden ist extrem porös. Trotz der vorgesehenen Lehmabdichtung besteht die Gefahr, dass austretende Flüssigkeit in das Grund­wasser sickert; insbesondere dann, wenn die eingelagerten Müllballen nicht entsprechend verpackt sind.

Eine aktuelle Untersuchung der neapolitanischen Staatsanwaltschaft belegt, dass in den vergangenen zwei Jahren in verschiedenen Abfallanlagen der Müll tatsächlich nicht vorschriftsmäßig zu so genannten Öko-Ballen verpackt und bis zur Verbrennung zwischengelagert wurde. Stattdessen wurden die Abfälle ohne Unterschied nur vorübergehend zu Müllpaketen zusammengepresst, um später wieder geöffnet und auf eine der regionalen Müllhalden gebracht zu werden. Dieses nach Camorra-Methoden organisierte System funktionierte innerhalb des von den wechselnden Regierungen eingerichteten Sonderkommissariats zur Lösung des vermeintlichen Müllnotstands. Ermittelt wird u.a. gegen den Polizeipräfekten von Neapel, Alessandro Pansa, sowie eine ehemalige Mitarbeiterin des alten und neuen, von der Regierung im Einvernehmen mit der Opposition ernannten Sonderbeauftragten Guido Bertolaso. Das eingeleitete Strafverfahren bringt den mit umfangreicher Befehlsgewalt ausgestatteten Mann jedoch nicht in Bedrängnis. Silvio Berlusconi erklärte Bertolaso für unantastbar und kündigte an, eine »Superstaatsanwaltschaft« einzurichten, um zu vermeiden, dass einzelne, »lokale« Ermittlungsverfahren den mit Spezialgesetzen abgesicherten »positiven Kreislauf« zur Lösung der Müllkrise unterbrechen.
Alternative Konzepte zum Umgang mit dem Müll werden von keiner politischen Partei entwickelt, stattdessen wird die längst gescheiterte Notstandspolitik fortgesetzt, nun soll zudem die juristische Kontrolle eingeschränkt werden. Auch die Camorra hat sich offenbar ins Spiel gebracht. Am Sonntag wurde Michele Orsi, ein früher mit ihr verbundener Müllunternehmer und Kronzeuge der Justiz, mit 18 Schüssen ermordet.