Die Landfrage in Bolivien

Die Rückkehr der Landfrage

Die bolivianischen Großgrundbesitzer wollen nicht auf ihre Privilegien verzichten. Sie wehren sich gegen die Land­re­form, die Präsident Evo Morales seinen Wählern versprochen hat, und verlangen mehr Autonomie. Der Konflikt wirkt sich auch auf die Lebensmittelpreise aus. Gegen die Teuerung hat die Regierung nun eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet.

Karg ist die Landschaft auf dem Altiplano Boli­viens. Die Böden auf der andinen Hochebene, die gleich hinter El Alto beginnt, sind trocken und san­dig. Die Stadt liegt auf 4 000 Meter Höhe und ist de facto die Oberstadt von La Paz. Täglich kom­men dort einige hundert Landflüchtlinge an. Seit einigen Jahren gilt El Alto, das derzeit rund 900 000 Einwohner zählt, als die am schnellsten wachsende Stadt Lateinamerikas. Dorthin kom­men viele, die sich nicht mehr von ihren kleinen Feldern auf dem Altiplano ernähren können.

Freddy Ramos gehört zu den Abertausenden, die in El Alto ihre Chance suchen und mit großen Erwartungen vom Land in die Stadt kamen. »Schauen Sie sich um, wir haben nichts. Das biss­chen, das uns bleibt, frisst gleich die Inflation wieder auf. Was tut Evo Morales, und wo ist die Arbeit, die er uns versprochen hat?« schimpft der 19jährige. Mit einer ausladenden Armbewegung weist er auf die beiden schäbigen Zimmer, die er gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester in einem Hinterhof bewohnt. Sich in den monotonen Backsteinvierteln von El Alto zurechtzufinden, ist nicht leicht.
Derzeit ist die Stimmung gedämpft. »Die Preise steigen schneller als die Einkommen«, erklärt Ramos. Er arbeitet tagsüber in einem Internetcafé, und abends holt er seinen Schulabschluss nach, um später einmal Polizist zu werden. »Alles ist besser als die Perspektivlosigkeit auf dem Land«, knurrt er. Dort ist er aufgewachsen, dann kam die Familie, damals noch mit dem Vater, nach El Alto, um neu anzufangen. Doch der Neubeginn fällt schwer, und die Inflation macht vielen Familien zu schaffen, die früher die kargen Bö­den des Altiplano beackerten.

Gleich hinter den letzten braunen Lehmmauern von El Alto beginnt die Weite des Altiplano. Die Wiesen sind von Geröll und Sand durchzogen. Rund eine halbe Stunde Fahrtzeit entfernt liegt die Gemeinde Calamarca. Sie besteht aus 27 Dörfern, die links und rechts der zweispurigen Fernstraße nach Cochabamba liegen. Neben dem Anbau von Kartoffeln und Bohnen, vornehmlich für die Selbstversorgung, ist die Viehwirtschaft die einzige Einnahmequelle. Schafe, Ziegen und Alpacas werden gehalten, aber auch bunt gescheckte Kühe.
Von deren Milch lebt Aconstancia Pomar Taqui. Die 39jährige Bäuerin stellt gemeinsam mit ihren Freundinnen im Dorf Jucuri Butter, Käse und Joghurt her und verkauft die Milchprodukte an der Straße oder gelegentlich auch auf den lokalen Märkten. An Abwanderung denkt die Bäuerin, die den kleinen Hof gemeinsam mit ihrem Mann bewirtschaftet, nicht mehr. »Mittlerweile geben unsere Milchkühe zwischen sechs und acht Liter Milch. Davon können wir leben«, erklärt die Frau. Für bolivianische Verhältnisse eine gute Milchquote. Die hätten die Tiere früher nie gebracht, meint die Bäuerin, die zufrieden lächelt. »Da hatten wir kein Wasser, und die Tiere litten unter Krankheiten«, erklärt ihr Mann Jaime Quispe. Bei zwei bis drei Liter lag da die Milch­leistung, und die Weiterverarbeitung der Milch fand erst gar nicht statt.
Heute berät Carina Magné die Frauen bei der Ver­arbeitung und dem Verkauf der Milchprodukte. Der Agrartechniker Walter López fährt mit der En­duro über die trockenen Feldwege, um den Bauern beim Anbau wie auch bei der Pflege der Viehherden mit Tipps zur Seite zu stehen. Das zahlt sich genauso aus wie die gemeinsamen Projekte gegen die weit verbreitete Erosion des Bodens oder die Maßnahmen zur Bodenverbesserung wie die Kompostdüngung. Zudem kamen Tierärzte, und einige Zuchtbullen wurden herbeigeschafft, um die Qualität der Milchviehbestände zu verbes­sern. Diese Maßnahmen schlagen an und haben dazu geführt, dass nicht nur die Ernteerträge stei­gen, sondern die Bauern durch den Verkauf der Milchprodukte auch etwas Bargeld in die Hände bekommen.
Veranlasst hat diese Maßnah­men die Entwicklungsexpertin Patricia Morales in Kooperation mit den lokalen Behörden von Calamarca. Morales arbeitet für die Stiftung Sartawi und hat dafür gesorgt, dass Brunnen gebohrt und kleine Stauseen für Bewässerungsmaßnahmen und die Trinkwasserversorgung angelegt wurden. »Wasser wird angesichts der klimatischen Veränderungen und ausbleibenden Niederschläge auf dem Altiplano immer knapper. Das führt zu Verarmung und Landflucht«, sagt die Direktorin der Stiftung, die mit wenig Ressourcen drei Gemeinden in unterschiedlichen Regionen des Altiplano unterstützt. Dort machen sich die Folgen des Klimawandels durch zunehmende Trockenheit, aber auch durch Unwetter wie Hagelstürme bemerkbar. »Für die Bauern wird es immer schwerer, unter diesen Bedingungen zu überleben. Sie brauchen Knowhow, Unterstützung und Hilfe bei der Wasserversorgung«, erklärt Morales.
Das liefert die kleine Organisation in Kooperation mit den lokalen Behörden. Walter López und Carina Magné arbeiten für Sartawi in einem kleinen Büro in Calamarca. Es wird vom Bürgermeister mitfinanziert, und nur, wenn sich die Bür­germeister direkt an den Hilfsmaßnahmen beteiligen, beginnt Sartawi mit der Arbeit. Dazu gehört es auch, die Frauen zu stärken und sie zu animieren, gemeinsam etwas zu organisieren. »Die gemeinsame Käse- und Joghurtproduktion ist dafür ein Beispiel, und kleine Verkaufsmessen haben sie auch schon auf die Beine gestellt«, erzählt Carina Magné. Erfolge, aus denen Frauen wie Aconstancia Pomar Selbstbewusststein ziehen.
Abwanderung ist in Jucuri kein Thema mehr, allerdings haben die meisten der Familien dort auch mehr Fläche zur Verfügung als in den Nachbardörfern. Durch Vererbung an die Kinder wurden die Anbauflächen in vielen Familien aufgesplittet. »Manchmal ist die Ackerfläche so klein, dass es sich für die Familien kaum mehr lohnt«, erklärt Patricia Morales. »Deshalb, aber auch wegen der klimatischen Veränderungen, müssen zusätzliche Ackerflächen zur Verfügung gestellt werden. Wir brauchen dringend eine Agrarreform«, sagt die Entwicklungsexpertin.

Diese Einschätzung teilen auch unabhängige Agrar­experten wie Miguel Urioste von der Stiftung Tierra, die sich seit Jahren bei der Schlichtung von Landkonflikten engagiert. »Durch die Landreform könnten wir die ungeregelte Migra­tion vom Hoch- ins Tiefland steuern.« Diese findet längst statt, und oft siedeln sich dann Familien auf brachliegenden Flächen an, die anderen gehören. In den großen Agrar-Departamentos wie Santa Cruz oder Tarija ist das immer wieder ein Grund für Landkonflikte. Dort, wie auch in Beni und Pando, den beiden anderen Departamentos des bolivianischen Tieflands, stehen zwar riesige Ackerflächen zur Verfügung, aber etliche hunderttausend Hektar befinden sich in der Hand weniger Familien, die große Flächen brachliegen lassen. Diese möchte die Regierung von Evo Morales an landlose Kleinbauern aus dem Hochland verteilen.
Dagegen wehrt sich aber die in Santa Cruz, der Wirtschaftsmetropole Boliviens, ansässige Agrar­elite des Landes. Sie ist durch die indus­trielle Landwirtschaft und den Export von Hühnerfleisch und Sojaprodukten nach Kolumbien, Venezuela und Ecuador reich geworden. Diesen Reichtum will sie nicht teilen, und deshalb werden gezielt Vorurteile und Ressentiments gegen die Bewohner des Hochlands, die indigene Mehrheit der Aymara und Quechua, geschürt. Mehr Autonomie wird verlangt und per Referendum eingefordert, wie Anfang Mai in Santa Cruz. Weitere Autonomiereferenden stehen im Juni in Ta­rija, Beni und Pando an, und das Szenario einer Zweiteilung des Landes macht seit Monaten die Runde. Allerdings sind die Referenden mit nationalem Recht nicht vereinbar, und international werden sie – so zum Beispiel von der Organisa­tion Amerikanischer Staaten – nicht anerkannt. In Santa Cruz, wo eine große Mehrheit Anfang Mai für die Autonomie stimmte, interessiert das die Machthaber nur bedingt. Die abtrünnigen Depar­tamentos, die geographisch die Form eines Halbmonds bilden und deshalb »Media Luna« genannt werden, verfügen jedoch über das Gros der natürlichen Ressourcen. Immer öfter ist in Santa Cruz das Argument zu hören, dass man nicht gewillt sei, die Früchte der eigenen Arbeit ins arme Hochland zu transferieren.
Dort wird das Referendum als Zeichen der Stärke gegen­über der ungeliebten Zentralregierung in La Paz gesehen. »Immerhin haben bei den Wahlen 54 Prozent der Wähler für Evo Morales gestimmt, das Gros der Bevölkerung steht immer noch hinter ihm, das wird nur zu gern ver­gessen«, gibt Miguel Urioste zu bedenken. »Im Kern geht die Auseinandersetzung zwischen der linken Regierung und der rechten Opposition um die Landfrage, und die kann man nur im Dialog lösen.«
Ein geeigneter unparteiischer Vermittler zwischen beiden Seiten fehlt allerdings. Die katholische Kirche hatte bisher wenig Erfolg mit dieser Aufgabe. Ein Grund, weshalb der Konflikt auf unterschiedlichen Ebenen und allzu oft auf Kosten der Bevölkerung ausgetragen wird. Ein Beispiel dafür waren die Preisaufschläge bei Hühnerfleisch und Speiseöl in der Größenordnung von 50 Prozent im März. »Die Preise wurden durch enorme Exporte von Hühnerfleisch und Soja­öl gezielt nach oben getrieben, um das Angebot in Bolivien zu verknappen«, so Urioste. Im bolivianischen Tiefland werden Hühnerfleisch und Sojabohnen auf riesigen Farmen industriell produziert, und hinter den Exporten steckt Strategie. »Ziel war es, Präsident Morales zu destabilisieren, denn wenn die Lebensmittel knapp und teuer werden, so zeigt ein Blick in die bolivianische Geschichte, folgen fast immer Unruhen« – und diese hatten mehrfach den nicht ganz freiwilligen Auszug des Präsidenten aus dem Regierungspalast zur Folge. Doch diesmal blieb trotz immer höher werdender Preise alles ruhig, schließlich griff die Regierung per Dekret ein und unterband die großen Ex­porte. Das war im März, und seitdem haben die Preise für die beiden Produkte, die zum täglichen Bedarf in Bolivien gehören, wieder ein normales Niveau erreicht. Gleichwohl ist die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ein sensibles Thema, denn derzeit gibt es auch bei Getreide und Reis Versorgungsprobleme.

Beide Produkte müssen importiert werden, weil die Produktion in Bolivien nicht ausreicht. Das soll sich zukünftig ändern, Landwirtschaftsminis­terin Susana Rivero setzt auf die »Ernährungssouveränität«. Dafür sollen zusätzliche Flächen für die Herstellung von Lebensmitteln und nicht für die Biospritproduktion bereitgestellt werden. Das ist derzeit gegen den internationalen Trend, und dabei spielen die Kleinbauern, die etwa die Hälfte der derzeitigen Anbaufläche bewirtschaften, im Konzept der Regierung eine wichtige Rolle. Über Kredite und die Anbauförderung sollen sie neue Perspektiven und Produk­tions­anreize erhalten. 180 Millionen US-Dollar hat die bolivianische Regierung dafür in den vergangenen beiden Monaten zur Verfügung gestellt, und bei Bauernorganisationen wird das wohlwollend zur Kenntnis genommen. Diese haben über zwei Jahre auf entsprechende Programme gewartet, und nicht nur bei den Kaffee- und Kakaoproduzenten hatte sich schon etwas Unruhe breit gemacht. »Wir brauchen Kredite und Beratung, um wachsen zu können, denn nur so können wir von unserer Arbeit auch würdevoll leben«, argumentiert Pablo Yana Mamani. Der 47jährige Kaffeebauer aus Caranavi, der Kaffeeregion des Landes, ist Mitglied des Kaffeeverbandes Fecafeb, in dem sich vor allem Kleinbauern zusammen­geschlossen haben. Die Perspektiven der Kaffeebauern in der Region sind exzellent, denn der Weltmarktpreis für Kaffee ist hoch und die Nachfrage groß. Mühelos könnten die Genossen ihre Produktion verdoppeln und verdreifachen, denn vor allem die Nachfrage nach qualitativ hochwertigem Ökokaffee, der in der Region produziert wird, ist hoch. Die Bauern verfügen jedoch über kein Investitionskapital, die Infrastruktur ist schlecht, und deshalb sichern sich viele mit legalem Koka-Anbau ab, wie deutsche Entwicklungs­experten berichten.
Mit den jüngsten Initiativen der Regierung könnte sich das langsam ändern, und Erfahrungen wie die von Sartawi in Calamarca können dabei durchaus hilfreich sein. »Durch die Kombination verschiedener Maßnahmen können wir den Leuten auf dem Altiplano sicherlich helfen. Aber wir brauchen eine langfristige Agrarstrategie, die sowohl Kleinbauern als auch den großen Agrarindustrieunternehmen im Tiefland eine Chance bietet«, erklärt Patricia Morales die zentrale Herausforderung. Ohne die Agrarreform ist die jedoch kaum zu bewältigen, und eine solche Reform kann die Regierung nur im Konsens mit den Departamentos der Media Luna in Angriff nehmen.