Wechsel im Fahrstand

Nur weil die französischen Bahnarbeiter nicht mehr streiken, heißt das noch lange nicht, dass die sozialen Proteste an ihr Ende gelangt sind. Das liegt nicht zuletzt an der selbstbestimmten Organisierung der Arbeiter und Studenten, die sich von den großen Gewerkschaften nicht mehr länger Form und Zeitpunkt ihres Protests vorschreiben lassen wollen. von kolja lindner

Streiks und Massenproteste gegen Rentenreformen 2003, Proteste gegen den EU-Verfassungsvertrag und eine Revolte in den Vorstädten 2005, besetzte Universitäten sowie Großdemonstra­tionen gegen die Einschränkung des Kündigungs­schutzes 2006 und nun erneut Ausstände gegen Renten- und Universitätsreformen: Die sozia­len Proteste in Frankreich sind noch immer nicht an ihr Ende gelangt.

Folgt man dem französischen Marxisten Stathis Kouvélakis, der am King’s College in London lehrt und der trotzkistischen LCR nahe steht, liegt der Grund für die anhaltende Konjunktur dieser Bewegung im Jahr 1986. Im Winter 1986/1987 kam es zu großen und teilweise sogar erfolgreichen Protesten von Studierenden und Transportarbeitern. Zusammen mit den Streiks des Pflegepersonals und der Postangestellten 1988 stellten diese Ereignisse den Beginn eines neuen »Zyklus« sozia­ler Kämpfe in Frankreich dar, deren Merkmale sich auch in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen wiederfinden.

Einiges spricht für die These von einem Einschnitt im Jahre 1986, die Kouvélakis in seinem jüngst erschienenen Buch »La France en révolte. Luttes sociales et cycles politiques« vertritt. Seit Mitte der achtziger Jahre sind es hauptsächlich die Beschäftigten des öffentlichen Sektors (der Tele­kom, der Post, der Gas- und Elektrizitätsversorgung sowie des Transportwesens) – und hier vor allem die Proletarier –, die die sozialen Auseinan­dersetzungen führen. Dies hängt zweifellos damit zusammen, dass diese Bereiche am drasti­schsten von der neoliberalen »Umstrukturierung« betrof­fen sind. Seit der großen Streikbewegung 1995 übersteigt die Streikbeteiligung im öffentlichen Dienst sogar regelmäßig die der Beschäftigten in den privaten und nationalisierten Berei­chen.

Dazu kommen die Studierenden, deren Forde­rungen längst nicht mehr auf hochschulpolitische Themen beschränkt sind, sondern auch auf die Umstrukturierungen des Arbeitsmarktes Bezug nehmen. Deutlich sichtbar war dies zuletzt im Frühjahr 2006 an der Bewegung gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes (CPE), an der sich zahlreiche Studenten beteiligten. Kouvélakis zufolge richten sich die Proteste aus dem vergangenen Jahr gegen »die grundsätzliche Tendenz der Reproletarisierung beziehungsweise warenförmigen Organisation der Arbeitskraft, die den neoliberalen Kapitalismus auszeichnet«.

Es sind aber nicht nur die Einwände gegen die gegenwärtigen Formen kapitalistischer Akkumulation, die verschiedene soziale Milieus miteinander verbinden. Auch in der Praxis kommt es zu gemeinsamen Aktionen. So waren vergangene Woche nicht nur die von der Rentenreform Betrof­fenen auf der Straße, sondern auch Studierende, die sich gegen die finanzpolitische Auto­nomie der Hochschulen und die Einschränkung der studen­tischen Mitsprachemöglichkeiten ausspre­chen, und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die gegen Stellenabbau protestierten.

Die verschiedenen Beteiligten haben aus dem Scheitern klassischer Gewerkschaftspolitik Kon­se­quenzen gezogen und organisieren sich nun anders. Mit den Ausständen im Transportsektor 1986 tauchten erstmals so genannte Streik-Koordinationen auf. Diese Koordinationen wurden seit­dem immer wieder anlässlich von Streiks oder Protesten einberufen, um über Aktionen gemein­sam zu entscheiden. Zudem wurde 1988 im Rahmen des Postarbeiter-Streiks die basisdemokratische Gewerkschaft Sud gegründet.

Diese Form der Selbstorganisation ermöglichte eine neue Kohärenz der Kämpfe: Spaltungen zwischen den Beschäftigten konnten verringert werden, da seit Mitte der achtziger Jahre pre­käre Arbeitsverhältnisse und rassistische Ausgren­zungen bei sozialen Forderungen mitreflektiert werden und neue Aktionsbereiche, wie etwa der Kultursektor und das Reinigungsgewerbe, einbezogen wurden.

Die so entstandene Handlungsmacht stellt die traditionellen, verhandlungsbereiten Gewerkschaften wie CFDT und CGT vor große Probleme. Mittlerweile birgt jeder Streik für sie das Risiko, die Kontrolle über ihn zu verlieren. Daher haben die Gewerkschaften sowohl 2003 als auch im vergangenen Jahr versucht, mit einem auf Ak­tions­tage beschränkten Protest die Entwicklung einer Streikdynamik zu verhindern.

Diese Strategie hat in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen dazu geführt, dass viele Strei­kende sich von den Gewerkschaften abgewendet haben. So sah man vor zwei Wochen zahlreiche Demonstranten, die ihre Zugehörigkeit zu den einzelnen Streik-Vollversammlungen und nicht ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft sichtbar mach­ten.

Große Teile der Gewerkschaftsbasis fordern die gleiche Dauer der Erwerbstätigkeit bis zur Rente für alle Beschäftigten, ob im öffentlichen oder privaten Sektor. Dabei drückt die Losung »37,5 Jahre für alle« nicht nur die Interessen der Lohnabhängigen aus, sondern ist ein Resultat der Solidarisierung zwischen den Beschäftigen verschiedener Branchen. Solche Basisdemokratie passt den auf Verhandlungen bestehenden Gewerkschaften überhaupt nicht.

Auch an den Universitäten zeichnet sich zunehmend ein Konflikt zwischen Selbstorganisation und klassischen Repräsentationsorganen ab. So hatte die der Sozialistischen Partei nahe stehende Studierendengewerkschaft Unef im Sommer der umstrittenen Hochschulreform zugestimmt, weil sie dafür Posten zugesichert bekam. Erst als sich unter den Studierenden Widerstand zu rühren begann, änderte die Unef ihre Ansicht zu dieser Reform teilweise.

Diese Konstellation erinnert an die Auseinander­setzungen aus dem vergangenen Jahr. Die Unef nahm an den ständig tagenden, taktischen Beratungen des alle Gewerkschaften umfassenden Zusammenschlusses teil und versuchte dort, die alleinige Vertretung der Studierenden für sich zu beanspruchen. Das führte zu Spannungen mit der »Koordination« der Studierenden, die damals wie heute landesweit organisiert ist und von linksradikalen Kräften beherrscht wird.

Ähnlich wie bei den abhängig Beschäftigen entwickelt die studentische »Koordination« weitgehende, an die Probleme der Streikenden an­gepasste Forderungen. Sie lehnt im Gegensatz zur Unef das Gesetz zur Hochschulreform gänzlich ab und verlangte bereits 2006, das gesamte »Gesetz zur Chancengleichheit«, das neben dem CPE eine Reihe arbeitsrechtlicher und repressiver Maß­nahmen vorsah, wieder abzuschaffen.

Der Unef-Präsident Bruno Julliard hat in seinem auf die Proteste vom vergangenen Jahr zurückblickenden Buch »Génération CPE« erklärt, warum und wie seine Organisation die Bewegung gegen das »Gesetz zur Chancengleichheit« nach der Rücknahme des CPE abgewürgt hat. Die Unef gab sich mit dem partiellen, auf Kosten der von gesellschaftlich Marginalisierten erkauften Erfolg der Bewegung zufrieden und wirkte in den studentischen Vollversammlungen auf ein Ende der Besetzungen hin – ein Szenario, das sich bei den derzeitigen Uni-Streiks zu wiederholen droht.

Es ist befremdlich, dass Kouvélakis am Ende seiner Analyse der sozialen Kämpfe und der daraus hervorgehenden Selbstorganisation das Ende der Proteste von 2006 gegen radikalere Angehörige der Bewegung verteidigt. Hier zeigt sich die Fortdauer eines Glaubens an eine zentralis­tische Organisation, die sich gerade in dem von Kouvélakis analysierten »Zyklus« von sozialen Kämpfen als anachronistisch erwiesen hat.