Der Traum vom Kern

Mehrere Städte in Mecklenburg-Vorpommern sollen sich Geld für Investitionen erschlichen haben. Mit »besonderer Dreistigkeit« sei das Städtchen Pasewalk vorgegangen, meint das LKA. von martin behrens

Zur »Kulturhauptstadt« oder anderen einträglichen Titeln wird es wohl nie reichen für die meisten der tristen Orte im Nordosten der Republik. Zur »wirtschaftsfreundlichsten Kommune« des Bundeslandes aber kann man es schaffen. Und so bewirbt sich in diesem Jahr auch das vorpommersche Städtchen Pasewalk im Landkreis Uecker-Randow um diese Auszeichnung. Nur hat seine wohl besten Bewerbungsunterlagen inzwischen das Landeskriminalamt (LKA) gesichert. Im Jahr 2000 soll die Stadt der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft mbH (Woba) 1,3 Millionen Mark aus Berlin für den Neubau der Wohnanlage »Anklamer Siedlung« am Ortsrand zugeschoben haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Subventionsbetrugs gegen die ehe­malige Geschäftsführerin der Woba. Und die Stadt steht unter dem Verdacht der Beihilfe.

Voraussetzung für die Investitionszulagen waren Papiere, welche das Areal als »einem Kerngebiet entsprechendes Gebiet« auswiesen – also als ein Gebiet, das wichtige gewerbliche oder verwaltungstechnische Funktionen erfüllt. Man mag sich fragen, ob es in der dünn besiedelten Landschaft zwischen Berlin und Greifswald auch nur ein einziges »Kerngebiet« gibt. Wenige hundert Meter hinter dem Ortsausgangsschild des verschlafenen Provinzstädtchens an der Uecker liegt ganz sicher keines. Selbst die Woba wirbt im Internet mit der ruhigen Lage der Siedlung. In einem Bericht, welcher der Jungle World vorliegt, stellt der parteilose Bürgermeister Rainer Dambach fest, dass die findige Formulierung »einem Kerngebiet entsprechend« (im Gesetzestext findet die sich so nicht) »in keiner Weise zutrifft«. Weshalb die Stadt und das Finanzamt die Bescheide ausgestellt bzw. akzeptiert hätten, sei schlicht »nicht nachvollziehbar«.

Von »erstaunlicher Dreistigkeit« sprachen Beamte des LKA, nachdem sie in den Büros der Woba und der Stadt sechs Umzugskartons mit Beweismaterial gefüllt und an sich genommen hatten. Unter den beschlagnahmten Akten befinden sich nach Informationen der Jungle World zwei verschiedene Bescheide. Beide datieren auf den 30. Mai 2000 und tragen dieselbe Unterschrift. Doch nur in einem ist von dem »Kerngebiet« die Rede. Der andere Bescheid weist die Fläche als normales Wohn­gebiet aus. Dafür hätte es allerdings kein Geld gegeben.

Von Betrug aber wollte in Pasewalk kaum jemand etwas wissen. Die CDU kämpft »im Interesse der Mieter« der Woba dafür, dass das Geld nicht zurückgezahlt werden muss. Es werde für wichtige Investitionen gebraucht. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion war übrigens im fraglichen Zeitraum um das Jahr 2000 mit einem gut dotierten Beratervertrag für die Stadt anwaltlich tätig. Inzwischen ist er zur Woba gewechselt. Die Stadtratsfraktionen der CDU, der SPD und der Linkspartei äußerten sich zunächst in seltener Einmütigkeit. Wegen der Berichte über den Fall befürchtet man vor allem »einen Imageschaden für die Stadt Pasewalk«. Denn das Image ist alles, wenn man sonst nichts hat.

»Die falsche Auslegung des Gesetzes war im Übrigen keine Pasewalker Besonderheit, sondern kam überall in den neuen Ländern vor«, schrieben die drei Fraktionsvorsitzenden. Tatsächlich ermittelt die Staatsanwaltschaft in ähnlichen Fällen in Sassnitz, Stralsund, Waren und anderswo. Vom Rest der Republik beinahe vergessen, verfährt man dort offenbar nach dem Motto: Hilft uns niemand, helfen wir uns selber!

Tatsächlich scheinen sich in manchen dieser Regionen Fuchs und Igel endgültig gute Nacht gesagt zu haben. Der Uecker-Randow-Kreis gehört zu den ärmsten Regionen Deutschlands. Die Zahl der Abwanderungen, der Arbeitslosen und der Privatinsolvenzen sind hoch, die Renten sind niedrig. Erst vor wenigen Wochen fand man sich im »Zukunftsatlas« des Prognos-Instituts auf dem vorletzten Platz aller Regionen zwischen Alpen und Ostsee.

Die Linkspartei und die SPD rückten inzwischen von gemeinsamen Erklärung mit der CDU ab. Hand in Hand müssten die Stadt, die Woba und das Finanzamt, das 2002 sogar den Vorbehalt einer Nachprüfung in dem Fall scheinbar unmotiviert aufhob, gearbeitet haben.

Die Woba stand um die Jahrtausendwende am Rande der Insolvenz. Das finanziell riskante Neubauprojekt sollte nach einem älteren Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vor allem einem kommunalpolitischen Interesse dienen: die anhaltende Abwanderung abzubremsen und eine finanzkräftigere Klientel anzusprechen. Wahrscheinlich setzten Politik und Verwaltung alles daran, das Projekt durchzuboxen. Da die örtliche Sparkasse die Finanzierung ablehnte, war Kreativität gefragt.

In dem früheren Prozess vor dem Landgericht ging es um Schadensersatzforderungen der Woba gegen ihre damalige Chefin. Sie hatte ihren Anteil an einem Grundstück, das ihrer Familie gehörte und für das bereits ein Bebauungsplan existierte, zuerst ihrem Bruder überschrieben und es ihm dann als Leiterin der Wohnungsbaugesellschaft zu einem guten Preis wieder abgekauft. Das lässt sich aus dem entsprechenden Grundbucheintrag schließen. Das Gutachten über den höheren Verkaufswert schrieb ein CDU-Stadtrat. Der damalige Bürgermeister Winfried Sieber (CDU) bekam es offenbar mit der Angst zu tun und fälschte eine Aktennotiz, wonach er nur den Kauf des Grundstücks als Ackerland, nicht aber als »Bauerwartungsland« autorisiert habe. Er wurde wegen Meineids rechtskräftig verurteilt.

Sein Nachfolger Dambach, erst im Jahr 2002 von Berlin nach Pasewalk gekommen, erfuhr vermutlich etappenweise von der ganzen Komplexität der Geschichte. Das vieles nicht mit rechten Dingen zuging, wusste aber auch er seit dem Jahr 2003. Aber erst diesen Februar hob er die Bescheide über das vermeintliche Kerngebiet »aus formalen Gründen« auf. Da rückte bereits die Staatsanwaltschaft auf den Plan. Die Woba legte Widerspruch gegen Dambachs Aufhebung ein, was sie erstmal davor schützte, Geld zurückzahlen zu müssen.

Doch seit vergangener Woche plädiert auch das Finanzamt aus formalen Gründen auf die »Nichtigkeit« der Bescheide für das Siedlungsgebiet. Sie seien nie rechtswirksam gewesen. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ist damit hinfällig, und die Woba soll bis 31. Mai gut 870 000 Euro an den Fiskus überweisen. Man fragt sich, warum die Erkenntnis nicht früher kam. Aber schließlich handelt es sich ja auch um ein lokales Finanzamt. Man kennt sich eben in Pasewalk.

Das LKA ermittelt weiter. Auch gegen die Stadt, die die Auszeichnung »wirtschaftsfreund­lichste Gemeinde« redlich verdient hätte.