Was kostet die Welt?

Über Individualität und Eigentum im Kapitalismus und im Sozialismus und über die Suche nach einem angemessenen Begriff für das Verhältnis von beiden. Von Christian Schmidt

»Dass die Einzigartigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus darin besteht, dass sie so erscheinen, als seien sie gar nicht gesellschaftlich«, hat Moishe Postone in »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« hervorgehoben. Auch Individualität und Eigentum sind solche gesellschaftlichen Verhältnisse, die überhistorische Gegebenheiten zu sein scheinen.

Postone allerdings hat diese These vor allem dadurch plausibel gemacht, dass er sie anhand des Beispiels der produktiven Tätigkeit ausführlich belegte, die im Kapitalismus als Lohnarbeit eine in jeder Hinsicht spezifische Form annimmt. Das besondere der produktiven Tätigkeit ist nach Postone im Kapitalismus nicht nur die ihr äußere Form des Lohnarbeitsverhältnisses, sondern erstreckt sich mit diesem auch auf die Art ihrer Organisation und schließlich sogar auf ihre Inhalte, die sich an Rationalitätskriterien ausrichten, die ausschließlich ökonomisch bestimmt sind und die Arbeitenden nur als eine notwendige Ressource in Betracht ziehen. In Erscheinung treten diese Verhältnisse, die aus einer spezifischen Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervorgehen, aber nicht als soziale Übereinkünfte, sondern als objektive Notwendigkeiten, die sich aus der Natur der ökonomischen Systematik ergeben.

Dieses Bild der Arbeit, das gegen den klassischen Marxismus mit seiner Verherrlichung der Arbeit als Fixpunkt für den Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft gerichtet war, hat in den letzten Jahren immer mehr Zustimmung erfahren. Deswegen sollte aber nicht vergessen werden, dass sich ein adäquates Verständnis der Struktur des Kapitalismus nicht in der Erläuterung der Zusammenhänge von Produktion und Reproduktion erschöpft. Zu dieser Struktur gehört neben der Schaffung des sich akkumulierenden Wertes durch die Warenproduktion auch das Bestehen einer Eigentumsordnung.

Zwar wird die Entstehung von Eigentum in der bürgerlichen Apologie seit Locke ebenfalls auf erbrachte Arbeit zurückgeführt, die durch das Vermischen eigener Mühen mit den allen gegebenen Dingen der Natur einen Verfügungsanspruch begründet. Aber diese Theorie, nach der sich das meiste Eigentum bei den fleißig und vernünftig Arbeitenden akkumuliert, hat schon Marx zum Spott gereizt. Marx setzt diesem Ursprungsmythos des Eigentums eine Geschichte von dessen ursprünglicher Ansammlung entgegen, die erzählt, wie im Feudalismus das zentrale Produktionsmittel Land mit Macht und Gewalt von Einzelnen angeeignet wurde und die Masse – gleich ob fleißig oder faul – um die Mittel zur Sicherung ihrer Existenz beraubt zurückließ.

Heute sind diese Verhältnisse rechtlich kodifiziert. Das ändert nichts daran, dass Eigentum ein soziales Verhältnis bleibt, das die Ansprüche einer Person auf Teile der Welt gegenüber allen anderen Personen regelt. Und wie Arbeit ist auch das soziale Verhältnis des Eigentums ein spezifisch kapitalistisches. Das zeigt sich vor allem im Verhältnis zu den Mitteln der Produktion.

Auch andere Gesellschaftsformen kannten die Zuordnung von Produktionsmitteln zu bestimmten Menschen oder Gruppen. Das besondere am Eigentum – wie wir es kennen – ist im Gegensatz zu den Besitzverhältnissen anderer Gesellschaftsformen aber, dass es keinen Unterschied mehr zwischen der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und über Produkte gibt. Beides ist gleichermaßen Eigentum und damit nicht nur verfügbar, sondern es kann auch verkauft oder beliehen werden. Das heißt, das Eigentum an Produktionsmitteln tritt in den allgemeinen Kreislauf des Tausches ein. Und zwar nicht als skandalöse Ausnahme, sondern als kapitalistischer Alltag.

Kapitalistische Kappungsgrenze

Die Bedeutung dieser frühbürgerlichen Ausweitung der Verfügungsgewalt über Dinge kann praktisch nicht überschätzt werden. Im Wandel vom Besitz zum Eigentum fiel nicht nur die soziale Verpflichtung der Besitzenden für die Menschen, die auf ihrem Land lebten und für deren Existenz sie in jeder Hinsicht verantwortlich waren, sondern auch die Verpflichtung zur Erhaltung und Bewirtschaftung des im Besitz befindlichen Landes. Durch das Eigentum entstanden so zum einen die »freien« Arbeitskräfte, die mit der Last ihres Dienstes auch der Mittel zur Erhaltung ihrer Existenz ledig geworden waren, und zum anderen entwickelte sich jene typisch kapitalistische Dynamik, in der ein unproduktiver Einsatz des Eigentums nicht unmittelbar zu lokalen Hungersnöten führt, wohl aber zum Verlust des Eigentums, das jetzt gegen Lebensmittel eingetauscht werden kann.

Diese Tauschbarkeit war es auch, die es ermöglichte, dass sich das Zentrum gesellschaftlicher Produktion von dem lösen konnte, was zuvor als einzige Quelle des Reichtums gegolten hatte: vom Land mit seinen Rohstoffen und der Potenz, immer wieder neue Ernten hervorzubringen. Erst in einer ökonomischen Ordnung, in der es keinen fundamentalen Unterschied mehr zwischen Produktions- und Konsumtionsmitteln gibt, kann es dazu kommen, dass andere Bereiche der gesellschaftlichen Arbeit ökonomisch bestimmend werden. Erst in einer solchen Ordnung kann sich eine Industrie und später ein Dienstleistungssektor entwickeln, der für das wirtschaftliche Wachstum entscheidend ist – gleichgültig, wie die Ernte ausfällt.

Auch wenn in der Linkspartei aus dem Scheitern des real existierenden Sozialismus weithin der Schluss gezogen wird, ein demokratischer Sozialismus müsse unbedingt Elemente des Produktionsmitteleigen­tums (wenn es nur nicht die Organisationsform eines Konzerns annimmt) in seine gesellschaftliche Struktur integrieren, mag es als eine Selbstverständlichkeit erscheinen, dass die Verfügung über Eigentum zu den Wesensmerkmalen des Kapitalismus gehört.

Worum es hier aber geht, ist zu betonen, dass die Aufteilung der Welt in Eigentum und freie Arbeitskräfte selbst den Kapitalismus hervorbringt, dass mit anderen Worten Eigentum nicht ohne die strukturelle Einheit der kapitalistischen Ordnung wie diese Ordnung nicht ohne Individualität und Eigentum zu verstehen ist. Wird beides nicht zusammen gedacht, bleibt das Verständnis der einzelnen Elemente dieser Ordnung partiell. Ein solch partielles Verständnis erweist sich aber schnell als falsch. Nur so kann der Eindruck entstehen, es ließe sich eine Eigentumsordnung mit Kappungsgrenze einführen, in der mit den Prozessen der Akkumulation von Eigentum nicht auch zugleich die Gratifikations- und damit Motivationsstruktur der Eigentumsordnung beeinträchtigt wäre.

Dass es nicht um die Quantität des Eigentums geht, über das eine einzelne Person verfügen kann, sondern um einen strukturellen Zusammenhang, wird aber besonders an dem Spannungsverhältnis deutlich, in dem Individualität und Eigentum zueinander stehen.

Zwischen den Einzelnen, die Eigentum haben, aber nicht sein können, und den Gegenständen der Eigentumsordnung verläuft eine Grenze, die zugleich unüberwindlich und variabel ist. Unüberwindlich ist sie, weil die gesamte Konstruktion des Eigentums darauf beruht, dass, wer Eigentum hat, selbst kein Eigentum sein kann. Variabel ist die Grenze, weil die ökonomische Dynamik, die die Ordnung des Eigentums in Gang gesetzt hat, nach einer permanenten Ausdehnung der Produktion verlangt.

Diese Ausdehnung kann nicht durch die unendliche Ausweitung der Produktion des Immergleichen erfolgen, sondern erfordert es, dass neue Gebiete der Produktion er­schlos­sen werden. Diese neuen Gebiete waren in der Geschichte des Kapitalismus zum einen neue Territorien, die dem Kapitalismus unterworfen wurden. Es handelte sich aber auch um die Entwicklung und Befriedigung neuer Bedürfnisse, aus denen u.a. der erwähnte Aufstieg der Industrie als zentrales Feld der Produktion hervorging.

Auf die Grenze zwischen Individuum und Eigentum hat diese Ausdehnung der Produktion Einfluss, weil die Voraussetzung des Eigentums an sich selbst eine empirisch nicht gesicherte Annahme ist. Das Eigentum der Einzelnen an sich selbst beruht darauf, dass sie der Gesellschaft für ihr Vermögen zur Arbeit, also für ihre körperliche Existenz, aber auch für ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten nichts schulden.

Diese Schuldenfreiheit erklärt sich aber nicht daraus, dass die Einzelnen von Natur aus mit ihren körperlichen und geistigen Vermögen ausgestattet wären. Vielmehr kommt die Schuldenfreiheit aus dem Umstand, dass die sozialen Konventionen die Leistungen zur körperlichen Entwicklung der Einzelnen und die Prozesse ihrer Bildung weitgehend nicht als Produktion des arbeitsfähigen Menschen betrachtet, sondern als familiäre bzw. gesellschaftliche Pflichtleistung. Wobei Produktion hier immer in ihrem kapitalistischen Sinn, d.h. als Warenproduktion, und nicht als gesellschaftlich nicht näher bestimmte Manipulation von Gegenständen verstanden wird, weshalb eine Interpretation der Sorge um das Wohl und die Entwicklung von Kindern als Produktion zumindest die Interpretation ihrer dadurch entstehenden Fähigkeiten und Fertigkeiten als Waren nach sich zöge.

In dem Maße, in dem nun die Produktion auf Felder drängt, die aus der Bildung von Körper und Geist des Menschen eine Arbeit und damit aus ihren Ergebnissen ein Produkt machen wollen, wird die Konvention der Schuldfreiheit in Frage gestellt. Die Konflikte um den angemessenen Schutz geistigen Eigentums, die Warenförmigkeit von Wissen und Bildungskredite sind gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, in denen die Grenze bestimmt wird, zwischen grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, für die Einzelne der Gesellschaft wirklich nichts schulden und den Möglichkeiten mit der Produktion geistiger Formen tatsächlich eine Ausweitung des Eigentumsbereichs zu erreichen, die ein neues Feld kapitalistischer Akkumulation sichert.

Zwar erhöhen auch Bildungskredite nur wie allgemeine Reproduktionskosten den unspezifischen Druck, die eigene Arbeitskraft zu verwerten, um die Ware Bildung bezahlen zu können, aber sie etablieren damit einen Bildungsmarkt, der Wissen zu einer Luxusressource macht, deren allgemeine Verfügbarkeit nicht einmal mehr als Ideal bürgerlicher Emanzipation gilt.

Analog zum Bereich geistigen Eigentums vollziehen sich solche Aushandlungsprozesse aber auch auf dem Gebiet der Manipulation der Körper. Ob Gentechnik, kosmetische Medizin oder die biotechnologischen Entwicklungen zur Leistungssteigerung, die Bereiche der Manipulation der lebendigen Substanz sind Wachstumsbranchen.

Wie schnell die Entwicklungen in diesen Bereichen dazu in der Lage sind, den Standard dafür zu setzen, was eine Produktivkraft leisten können muss, um noch arbeitsfähig zu sein, zeigt ein Blick in den Leistungssport, innerhalb dessen Doping längst keine Frage individueller Entscheidung mehr ist. Vielmehr stellt sich angesichts der Leistungsanforderungen im Spitzensport nur die Frage, ob Sport mit Doping oder überhaupt kein Sport. Angesichts der Anstrengungen, die nötig sind, um überhaupt in den Bereich des Spitzensports vorzudringen, muss aber auch diese Entscheidung in vieler Hinsicht als unfrei betrachtet werden. Den Sloterdijkschen Fantasien einer bewussten Steuerung der Techniken zur »Luxusevolution« der Körper kann deshalb nur unter Verdrängung der gesellschaftlichen Ordnung, in der diese Techniken entstehen und wirken, nachgehangen werden.

Einheit der Totalität

Der Druck, den die ökonomische Dynamik einerseits und die strukturelle Erfordernis einer freien Arbeitskraft andererseits auf die Grenze zwischen Individuum und Eigentum ausüben, lässt die Frage entstehen, wie eine solche dynamische Einheit widerstreitender Elemente überhaupt konzeptionell erfasst werden kann.

Die klassisch marxistische Antwort, um die strukturelle Einheit des Kapitalismus zu erfassen, ist der Begriff der Totalität. Entwickelt zur Darstellung der Einheit von ökonomischen Phänomenen wie dem Prozess der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, den Bedingungen der kapitalistischen Produktion und ihrer Verwertung verleitet der Begriff leicht zur Simplifizierung der Zusammenhänge in der bürgerlichen Gesellschaft und zur Reduktion tatsächlicher Entwicklungsspielräume in ihren einzelnen Sphären, wenn jedes gesellschaftliche Phänomen nur als Ausdruck oder Spiegelung einer ökonomischen Gegebenheit interpretiert wird.

Sicher hat Georg Lukács einer derartigen Interpretation Vorschub geleistet. Eine genaue Lektüre seiner Verwendung des Totalitätsbegriffs zeigt aber, dass seine einzelnen Analysen plausibel sind, weil sie entweder den engeren ökonomischen Rahmen gar nicht verlassen oder aber eine genaue und jeweils spezifische Argumentation enthalten, warum gesellschaftliche Entwicklungen wie die Entstehung der Bürokratie oder des Denkens in verdinglichenden Schemata mit der ökonomischen Ordnung einhergehen.

Der Begriff der Totalität sollte daher mit der Einschränkung versehen werden, dass seine Anwendung nicht zur Reduktion gesellschaftlicher Komplexität führen darf, sondern im Gegenteil dazu dienen muss, die Dinge komplizierter zu machen. Denn anhand von Komplizierungen erweist sich die Bedeutung des Totalitätsbegriffs schon mit den Argumenten, die auch Lukács zu seiner Verwendung bewogen. Erst im Gesamtzusammenhang der einzelnen Elemente des ökonomischen Reproduktionsprozesses der Gesamtgesellschaft lassen sich diese einzelnen Elemente überhaupt angemessen verstehen.

So ist der Verwertungsprozess der Produktion auf betriebswirtschaftlicher Ebene nicht richtig zu erfassen, da der Verkauf von hergestelltem Halbzeug für den einzelnen Betrieb noch Gewinne abwerfen kann, während die ökonomische Krise sich schon in den Absatzschwierigkeiten der Endprodukte abzeichnet. Erst die strukturelle Erfassung des Zusammenhangs der verschiedenen Stufen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses kann ein Verständnis der Krisen der kapitalistischen Ökonomie liefern, die auf betrieblicher Ebene wie das kaum kalkulierbare Hereinbrechen einer Naturkatastrophe wirken müssen. Wird jedoch der Zusammenhang der verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion erkannt, ergeben sich auch neue Merkmale für die konkreten Ebenen der Produktion als Glieder in der Kette des Verwertungsprozesses.

Aber bilden Individualität und Eigentum, diese beiden Konzepte der kapitalistischen Moderne, die jenseits der üblichen Pfade der Kritik der politischen Ökonomie aufeinander verweisen, überhaupt eine Totalität? Es ist der strukturelle Zusammenhang zwischen beiden Konzepten und den mit ihnen verbundenen sozialen Praxen, der eine solche Fassung angemessen erscheinen lässt. Die Variabilität der Grenze zwischen Individualität und Eigentum hingegen verweist auf eine Dynamik in ihrer Beziehung, die im Begriff der Totalität unterzugehen droht, weil dessen Begriffsgeschichte sich mit der Vorstellung einer mechanischen und in diesem Sinne festgefügten Struktur verbindet.

Individualität und Eigentum sind aber als Bezeichnungen für ganze Bündel gesellschaftlicher Praxen nicht bloß aufeinander verwiesen, sondern wirken füreinander auch hervorbringend. Was damit gemeint ist, lässt sich am besten durch eine Betrachtung des Zusammenhangs von Individualität und Eigentum in den sozialistischen Gesellschaften erläutern.

Sowohl für Individualität als auch für Eigentum ist es offensichtlich, dass die für diese beiden Phänomene konstitutiven Praxen in der Ära des Sozialismus stark eingeschränkt waren. Für das Volkseigentum ist sogar die Frage berechtigt, ob es sich überhaupt um eine Form von Eigentum gehandelt hat, da innerhalb seines Rahmens die Verfügungsgewalt von Personen so eingeschränkt war, wie das für den Besitz der vorkapitalistischen Gesellschaften typisch war. Weder die Belastung des Volkseigentums zur Erlangung von Krediten, noch dessen Verkauf waren Optionen im Rahmen der gewährten Verfügungsgewalt.

Und im Bereich der Individualität betrafen die Einschränkungen zudem den gesamten öffentlichen, vor allem aber politischen Bereich. Ein Bereich, der in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt erst als individueller Ausdrucksraum eröffnet worden war, da die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die systematische Sicherheit der ökonomischen und staatlichen Ordnung von Loyalitätszwang und starrer Anerkennung traditioneller Normen befreit war.

Doch so offenkundig die Bedingungen für Eigentum und Individualität im Sozialismus alles andere als ideal waren, so augenfällig ist auch, dass Individualität und Eigentum dort nicht nur als aus der Vorzeit der neuen Gesellschaft stammende Begriffsruinen überlebten. Denn auch wenn sich die Situation für die private Akkumulation von Reichtum dramatisch verschlechterte, änderte sich die Situation der Eigentumslosen kaum. Wie im Kapitalismus waren sie gezwungen, ihre Arbeitskraft zu Bedingungen zu veräußern, die außerhalb ihrer Macht standen. Und ebenfalls wie im Kapitalismus standen ihnen die Formen und Bedingungen der Produktion als fremde Gegebenheiten gegenüber, die mit der Orientierung am produktiven Vorbild der technologischen Entwicklung im Kapitalismus zudem auch noch dessen Formen des Produzierens nachahmten. Und schließlich war für die Produzierenden ein wesentliches Quantum ihres Anteils am gesellschaftlichen Reichtum nur über den Lohn zugänglich.

Mit der Lohnarbeit reproduzierten sich die wesentlichen Strukturen von Individualität und Eigentum. Der zur freien Verfügung ausgezahlte Lohn ermöglichte es den Arbeitenden im Sozialismus, eine private Sphäre aufrecht zu erhalten, die ihrem kapitalistischen Gegenstück zwar nicht von der materiellen Ausstattung, wohl aber von der strukturellen Bedeutung vollkommen entsprach. Mussten sich die Arbeitenden in der Produktion den Anweisungen der sozialistischen Planungsbürokratie unterwerfen, fand in der Privatsphäre das als eigentlich und eigen empfundene Leben statt. Mehr noch, durch die Einschränkungen in der öffentlichen Sphäre wurde die Bedeutung des privaten Raums zusätzlich betont.

Die Konsequenzen dieses Arrangements waren für die Idee des Volkseigentums verheerend. Verglichen mit der Sphäre einer weitaus umfassenderen Verfügungsgewalt im Bereich des privaten Lebens war die Idee einer gesellschaftlich vermittelten Verfügung über die Mittel der Produktion und den staatlich abgeschöpften Mehrwert vollkommen irreal. Volkseigentum konnte für die Einzelnen nur dadurch zu ihrem Eigentum werden, dass sie es in der ein oder anderen Form abzweigten, um sich so Vorteile für die Ausgestaltung ihres privaten Bereichs zu verschaffen.

Aus der Kombination von einer Arbeitswelt, die weiter von der für das Lohnarbeitsverhältnis typischen Fremdbestimmung geprägt war, und einer Sphäre des privaten Lebens, das als das eigentliche Leben wahrgenommen wurde, ergibt sich dann aber auch die Unterlegenheit der sozialistischen Gesellschaft gegenüber ihrem kapitalistischen Konkurrenzsystem. Im Sektor der Angebote zum privaten Konsum – wo das Interesse seiner Bevölkerung lag – sah der Sozialismus immer schlecht aus.

Das lag zum einen an der Inkonsequenz bei der Durchsetzung einer effektiven Arbeitsleistung, die durch materielle Anreize nur begrenzt möglich war und auch nicht durch die Drohung mit Entlassung systematisch erzwungen wurde, zum anderen an der vergleichsweise geringen Diversifizierung bei der Erprobung neuer Strategien zur Steigerung der Produktivität. Hinzu kam, dass neue Bedürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung grundsätzlich im Kapitalismus mit seiner zur Expansion gezwungenen Ökonomie entwickelt wurden, während im Sozialismus zur Erzeugung neuer Bedürfnisse gar kein Anreiz bestand.

Reproduktive Kraft des Dispositivs

Die Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus demonstriert, wie aus der Aufteilung der Welt in Eigentum eine gesellschaftliche Struktur entsteht, die Individuen nicht nur als über Eigentum verfügende Personen braucht, sondern auch Bewertungs- und Zurechnungspraxen entwickelt, die aus der Person als formal-juristischem Konzept eine individuelle Persönlichkeit werden lassen, der sich dann in Öffentlichkeit und Privatsphäre auch noch Bereiche eröffnen, um diese Persönlichkeit individuell auszugestalten – von der Entwicklung eines eigenen Geschmacks bis zur Wahl der privaten Lebensform.

Dagegen zeigt die Verfallsgeschichte des Sozialismus, wie sich aus der Individualität, deren Arbeitsleistungen im Lohnarbeitsverhältnis gesellschaftlich vermittelt werden, eine Restauration der Aufteilung der Welt in Eigentum ergibt. Obwohl die im Lohnarbeitsverhältnis enthaltene Form der Anerkennung der bürgerlichen Individualität nur einen geringen Teil ihrer garantierten Freiheit im bürgerlich-kapitalistischen Kontext umfasste, reichte sie doch aus, den Versuch einer politischen Wieder-aneignung der ökonomischen Prozesse durch Volkseigentum und Planwirtschaft fundamental zu untergraben. Wobei das Scheitern der politischen Steuerung sowohl auf der Seite der Planungs­bürokratie als auch auf der Seite der Produzierenden aus der Struktur des Lohnarbeitsverhältnisses und der daraus erwachsenden Stellung der Produzierenden zur Produktion folgt.

Wird die Fähigkeit sowohl von Eigentum als auch von Individualität zur Hervorbringung ihres jeweiligen Gegenstücks in der gesellschaftlichen Struktur mit in Betracht gezogen, dann bietet sich neben dem Begriff der Totalität noch ein anderes Konzept an, um die Beziehung von Individualität und Eigentum zu erfassen.

Foucault hat einmal vorgeschlagen, im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Gegebenheiten, die trotz höchst unterschiedlicher Arten und Lokalisierungen immer wieder dazu beitragen eine konkrete Struktur hervorzubringen, von einem Dispositiv zu sprechen. Würde dieser Ausdruck mit »Gestell« ins Deutsche zurück übertragen werden, verlöre er nichts an seiner Künstlichkeit, die darauf verweist, dass er der Erläuterung bedarf.

Wobei von einer Rückübertragung nur zu sprechen ist, weil grundlegende Begriffe des Foucaultschen Denkens als stillschweigend vorgenommene Übersetzungen von Begriffen Heideggers interpretiert werden können. Zu einer Übersetzung Foucaults tragen solche Rückübertragungen aber nur begrenzt bei, da es sich bei Heideggers Begriffen um Kunstworte handelt, die in ihrer speziellen Verwendungsweise als philosophische Begriffe genauso rekonstruiert werden müssen wie die unübersetzten Vokabeln Diskurs und Dispositiv. Gegen die Rückübersetzung von Dispositiv ins Deutsche spricht hier zudem, dass »Gestell« noch stärker jene statischen Konnotationen hervorruft, die sich am Begriff der Totalität als störend erwiesen.

Ein Dispositiv bezeichnet aber den Zusammenhang einer Struktur, die ihre eigene Realität immer wieder erzeugt. Foucault nannte als mögliche Bestandteile ein- und desselben Dispositivs so verschiedene Elemente wie die Architektur von Gebäuden und moralische oder wissenschaftliche Diskurse. Solche disparaten Gegebenheiten haben gemeinsam, dass sie in der Lage sind, Handlungen in ihrem sozialen Zusammenhang zu leiten. Sie erzeugen die Bedingungen, unter denen eine Handlung, die auf der Koordination mehrerer Menschen beruht, gelingen kann.

Indem die Elemente des Dispositivs so Erwartungen bestätigen, erzeugen sie auch Erwartungen hinsichtlich der mit ihnen im Dispositiv verbunden Elemente. Gerät nun eines dieser Elemente ins Wanken, wie das Eigentum an Produktionsmitteln im Sozialismus, sorgt die Koordination der Kooperationsformen durch die anderen Elemente für die Restauration des verlorenen Elements. Und auch, wenn dessen Wiederherstellung nicht unmittelbar gelingt, so zeigt das Beispiel des Sozialismus doch, wie das im Gesamtkontext fehlende Element als Alternative und Kritik an der mangelhaften gesellschaftlichen Konstruktion stets präsent bleibt. Es ist jederzeit die nächstliegende Lösung für krisenhafte Zustände der abgeänderten Ordnung.

Der fundamentale Unterschied zwischen den Beschreibungen der kapitalistischen Zustände als Totalität oder Dispositiv liegt in ihren jeweiligen Konsequenzen für eine Praxis der Wiederaneignung der zum System geronnenen gesellschaftlichen Struktur. Lukács verband mit seinem Begriff der Totalität die Hoffnung, die gesellschaftliche Gesamtkonstruktion durch einen Bewusstseinsprozess und die Veränderung der gesellschaftlichen Praxis an einem einzigen Punkt – der Organisation der gesellschaftlichen Produktion – revolutionär verändern zu können. Diese Hoffnung nährte sich aus den Anfangserfolgen der Revolution in Russland, deren Übertragung auf ungarische Verhältnisse Lukács’ erklärtes Ziel war.

Foucaults Denken hingegen basiert auf der Erfahrung des Scheiterns der Sowjet-union. Dieses Scheitern offenbarte sich schon seinem Lehrer Althusser anhand der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaftsformen mitten im Sozialismus. Das Resultat dieser Beobachtung war ein erneutes Nachdenken über die Prozesse der gesellschaftlichen Reproduktion insgesamt, die nun nicht länger auf die ökonomischen Zusammenhänge beschränkt werden konnte.

Foucaults Begriff des Dispositivs ist ein Ergebnis des daraus hervorgegangenen erweiterten Verständnisses von Reproduktion. Dieses Konzept macht plausibel, warum eine dynamische Struktur wie der Kapitalismus so resistent gegen grundsätzlichen Wandel ist. Praxen, die Teile der Totalität untergraben, erzeugen nicht deren sukzessiven Zerfall, sondern werden entweder völlig unwirksam oder durch Aufhebung ihrer strukturellen Wirksamkeit in die Gesamtstruktur integriert.

Für Foucault bedeutete das, dass jede Praxis, die in dem Ruf steht, gesellschaftsverändernd zu sein, auf Elemente zu untersuchen ist, die zur Reproduktion der Gesamtstruktur beitragen, und das gerade, wenn diese Elemente für die zentralen mit dieser Praxis verbundenen Ziele zweitrangig zu sein scheinen. Da sich die gesellschaftsverändernden Praxen aber aus den gegebenen gesellschaftlichen Praxen entwickeln, ist ihrer kritischen Analyse ein sehr breites Spektrum eröffnet.

Foucaults Analyse bietet damit zwar Instrumente, das Scheitern gesellschaftsverändernder Praxen zu begreifen, zur Entwicklung solcher Praxen, die Lukács’ Anliegen war, vermag er allerdings nur die historisch begründete Hoffnung beizutragen, dass die Geschichte der Neuzeit voller sich ereignishaft vollziehender Brüche ist, die den strukturellen Zusammenhang sozialer Praxen radikal gewandelt haben.

Louis Althusser: Marx dans ses limites. In: Ders.: Écrits philosophiques et politiques. Bd. 1, Paris 1994

Michel Foucault: Das Spiel des Michel Foucault. In: Ders.: Schriften. Bd. 3, Frankfurt/M. 2003

Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Amsterdam 1923

Crawford B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Frankfurt/M. 1967

Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg 2003

Peter Sloterdijk: Domestikation des Seins. In: Ders.: Nicht gerettet. Frankfurt/M. 2001